Sozialisation zur Einsamkeit II

„Kontaktabbruch ist die Höchststrafe“ - Der Genossenschaftslotse Sylvio Böhm

Verwahrlosung, lautes Stöhnen beim Sex, Einsamkeit: Der Genossenschaftslotse Sylvio Böhm kommt, wenn die Mieter ihn rufen. Manchmal erlebt er schier Unvorstellbares.

Der Fernsehapparat leistet gute Dienste gegen die Einsamkeit, aber an diesem Vormittag ist er still. Frau S., 96 Jahre alt, eine zarte, freundliche Frau, sagt: „Heute ist ja der Herr Böhm da. Heute ist ein guter Tag.“

Frau S. lebt allein in einem Erfurter Mehrfamilienhaus, an dessen Aufbau ihr verstorbener Mann mit seinen eigenen Händen beteiligt gewesen ist. Mehr als sechzig Jahre sind seither vergangen. Die Wohnung ist geräumig, im Wohnzimmer stehen Sofa, Sessel und ein dunkler Massivholz-Wandschrank. Weil Frau S., Pflegegrad 4, sehr schlecht sieht, hat sie einen Wecker, der ihr die Zeit ansagt. „Hören Sie mal“, sagt sie und drückt auf einen Knopf: 10.53 Uhr. In der Ecke steht ein Rollator. Drei Mal am Tag kommt der Pflegedienst, weckt sie, wäscht sie, bringt Essen, verschwindet wieder, denn die Zeit ist knapp, zu knapp für einen Kaffee und ein längeres Gespräch. Dafür ist heute Herr Böhm da.

Sylvio Böhm, Mitte fünfzig, arbeitet seit fünf Jahren als Genossenschaftslotse der Wohnungsbaugenossenschaft Einheit eG in Erfurt. In jungen Jahren modelte er, später verdiente er sein Geld als Elektriker und arbeitete danach lange im Einzelhandel, ein offener, auffallend zugewandter Mann, dessen Blick immer die Augen seines Gegenübers sucht. Böhm kommt zu Mietern, die ihn brauchen – und es brauchen ihn immer mehr Mieter, weil sie einsam sind.

Die deutsche Bundesregierung hat Einsamkeit als gesellschaftliches Pro­blem erkannt, es gibt eine Einsamkeitsstrategie, Podien, Expertenrunden, ein Einsamkeitsbarometer, und vor Kurzem fand eine Aktionswoche zum Thema statt. Aber von all diesen Anstrengungen bekommt Frau S. nichts mit. Herr Böhm ist ihr Anker, und der hat mit der Bundesregierung nichts zu tun.

Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, das so großen Schmerz verursachen kann, dass Betroffene verzweifeln und sich auf existenzielle Weise unbehaust fühlen. Beziehungen schützen zwar vor Einsamkeit, sind aber kein Garant gegen sie. Und wer allein ist, muss bekanntlich nicht einsam sein. Dass Einsamkeit krank machen kann, davor warnt auch die Weltgesundheitsorganisation, die das Risiko eines vorzeitigen Todes für einsame Menschen ähnlich hoch einstuft wie durch Rauchen, Fettleibigkeit oder Luftverschmutzung. Unlängst sagte die Fa­milienministerin Lisa Paus: „Millionen Menschen in Deutschland fühlen sich einsam. Während der Pandemie hat dieses Gefühl stark zugenommen.“

Die Tochter von Frau S. wohnt in der Nähe von Nürnberg, aber ein schweres Nervenleiden bindet sie ans Haus, nur selten schafft sie längere Ausflüge. Frau S. hat Angst, dass ihr einziges Kind vor ihr stirbt. Ihr Mann ist seit über zwanzig Jahren tot, aber wenn Frau S. morgens aufwacht, dann blickt sie immer noch auf den leeren Platz neben sich. Sie erhebt sich vorsichtig vom Sofa, geht in winzigen Schritten auf ihren Balkon, stützt sich auf dem Geländer ab. „Schön“, sagt sie. Die Sonne scheint. Endlich. Diese ewige Kälte der letzten Wochen und dazu die Dunkelheit. Die Stille. Das Alleinsein. Da kann man schon traurig werden.

Das Alter ist ein Massaker

Das Leben von Frau S. spielt sich fast ausschließlich in ihrer Wohnung ab, nur wenn sie zum Arzt muss oder einen kurzen Spaziergang auf ihren wackligen Beinen wagt, geht sie raus. Woran sie Freude hat? „Früher habe ich gern gelesen“, aber seit die Augen nicht mehr können, sei auch das unmöglich.

Seit sich Sylvio Böhm um einsame Menschen kümmert, hat er Angst vor dem Alter. Es ist für ihn unvorstellbar, nur noch mit wenigen Menschen reden zu können, in die eigenen vier Wände verbannt zu sein. Er lebt seit mehr als 20 Jahren mit seinem Partner zusammen, sie haben drei Gärten und stehen mitten im Leben, aber durch seine Arbeit weiß Sylvio Böhm, was viele Menschen lieber verdrängen: dass man irgendwann vielleicht einer dieser Einsamen ist, die den Fernsehapparat einschalten, um nicht an der inneren Leere zu verzweifeln. Böhm erzählt von einer Frau, der er eine Puppe geschenkt hat, um die sie sich kümmert, die sie an- und auszieht und für die sie Socken strickt. Und obwohl diese Puppe dem Leben dieser Frau so etwas wie einen Sinn gegeben hat, wird einem bei dem Gedanken an eine Puppe als letzte Stütze mulmig zumute. Wo sind die Verwandten? Wo die Nachbarn? Wo die Freunde?

„Betreutes Lieben“ ist registriertes und aufgenommenes Mitglied bei der Paritätischen Freiwilligenagentur Heidelberg, und somit qualifiziert als Ansprechpartner und Anlaufstelle für Einsamkeit.

Böhm spielt bisweilen, natürlich diskret, auch den Kuppler. Das klappe oft nicht, aber wenn es klappt und zwei einander fänden, sei es umso schöner. Auch unmoralische (Massage-)Angebote hat er schon von älteren Damen bekommen, von Frauen über achtzig, die offenbar noch sexuelle Lust verspüren.

Als Genossenschaftslotse eilt Böhm auch bei Nachbarschaftsstreitereien zu Hilfe. Er erzählt von Beschwerden über grillende Mieter, vermüllte Hausflure, zu laute Musik und zu lautes Stöhnen beim Sex. „Wie sagen Sie einem Paar, dass es beim Sex leiser seien soll?“, fragt Böhm und gibt sogleich die Antwort. Er habe das Paar – beide im fortgeschrittenen Alter – erst einmal zu ihrem aktiven Liebesleben gratuliert. Die Bitte, dieses etwas leiser zu zelebrieren, äußerte er erst danach.

Drogenabhängiger Enkel

Einmal, so Böhm, habe ein älterer Herr seinen drogenabhängigen Enkel bei sich aufgenommen. Manchmal lag dieser Enkel im Delirium im Treppenhaus. Eine junge Familie in der Nachbarschaft mit einem kleinen Sohn fühlte sich durch den neuen Bewohner so belästigt, dass der Familienvater dem Großvater des Drogenabhängigen auflauerte und ihm einen Schraubenzieher in den Oberarm rammte.

Besonders schrecklich, sagt Böhm, seien Fälle von Verwahrlosung. Er holt sein Handy aus der Tasche und zeigt einige Fotos. Es sind Dokumente schier unvorstellbaren Messietums. In der Wohnung einer Frau stapeln sich Flaschen in Pyramidenform bis zur Decke, ein alkoholkranker Mann hat selbst in seine Badewanne Müll gekippt. Über den Teppich ziehen sich Kotspuren. Weil Nachbarn den Mann mehrere Tage nicht gesehen hatten, verständigten sie Böhm, der die Polizei rief. Nur einen Tag später, und der Mann wäre tot gewesen. Böhm sagt, er habe mal eine Wohnung gesehen, in der sei eine Wand komplett von Bettwanzen übersät gewesen.

Regelmäßig besucht Sylvio Böhm Frau E., die sich ebenfalls einsam fühlt. Die beiden begrüßen einander herzlich. Frau E. strahlt: „Herr Böhm!“ Sie wohnt in einem Plattenbau mit einem kleinen Balkon und Blick ins Grüne, wo ein alter Mann auf einer Parkbank sitzt. Auf dem Wohnzimmertisch liegt eine aufgeschlagene Fernsehzeitschrift. Frau E. sieht und hört gut, aber ihre schiefe Hüfte quält sie. Wenn sie geht, dann schwankt sie leicht, außerdem hat sie Schmerzen. Osteopo­rose. Und ihr Magen sei sehr empfindlich. Böhm sagt, ihre Krankheiten seien ein großes Thema, darüber spreche sie viel, sehr viel. Das Alter, ein Massaker.

Bevor Frau E. etwas isst, zieht sie ihr Pendel zu Rate. Schwingt es im Uhrzeigersinn im Kreis, dann bedeutet das, sie darf die Mahlzeit essen. Sie bietet Herrn Böhm ein Mandelhörnchen an. Herr Böhm fragt das Pendel. Es sagt nein, eindeutig, aber er isst das Mandelhörnchen trotzdem. „Ich habe da jetzt so Lust drauf“, sagt er.

Eine kleine Rente

Nach der Wende wurden viele Familien in der ehemaligen DDR auseinandergerissen. Menschen verloren ihre Jobs und fanden im Westen neue Arbeit. Auch Frau E.’s Sohn zog in den Westen, nach Braunschweig, und kümmert sich so gut er kann um seine Mutter. Die Tochter lebt in Worms, ein zweiter Sohn in Erfurt, aber der will von seiner Mutter und ihren Sorgen nichts mehr wissen. Sylvio Böhm sagt: „Der Kontaktabbruch im Alter ist die Höchststrafe.“

Jede Familie hat ihr eigenes Unglück. Böhm kennt durch seine Besuche inzwischen viele von Verwerfungen und Streit geprägte Familiengeschichten. Manchmal, wenn zum Beispiel ein Sohn oder eine Tochter den Kontakt zur vereinsamten Mutter abgebrochen hat, versucht er zu vermitteln und hört schon mal von seinem Gegenüber: „Mischen Sie sich nicht in Privatangelegenheiten ein, das geht Sie nichts an!“

Jede Familie hat ihr eigenes Unglück.

Frau E. bekommt eine kleine Rente, sie achtet auf jeden Cent, und wenn ihr die Einsamkeit aufs Gemüt schlägt, kann sie nicht einfach ein Taxi rufen und zum nächsten Café fahren. Einsamkeit hat auch etwas damit zu tun, was man sich leisten kann – und was nicht. Manche hindert sogar die eigene Eitelkeit an sozialen Kontakten. Böhm kennt eine Dame, die ihrer früheren Eleganz nachtrauert. Anstatt schicke Schuhe zu tragen, geht sie nun am Rollator. „Erniedrigend“ findet sie das. So erniedrigend, dass sie den Kummer des Alleinseins erträgt. Andere befürchten, bei den von der Genossenschaft veranstalteten Nachbarschaftskaffees neben einer unsympathischen Person zu sitzen, ausgefragt zu werden oder selbst nicht zu Wort zu kommen. Wer lange allein lebt, wer allein schläft und isst und so irgendwie die endlosen Tage herumbringt, dem fällt es oft nicht leicht, sich auf Neues einzulassen. Böhm fordert mehr Mut: „Jeder muss auch etwas dafür tun, dass er nicht einsam ist. Angst und Misstrauen dürfen nicht die Oberhand gewinnen.“ In manchen Fällen sei die Einsamkeit eben auch selbst gewählt. Er hält nichts davon, die Menschen in ihrem Leid zu bestärken, sondern zeigt ihnen Wege aus der Einsamkeit und motiviert sie – nur gehen muss diese Wege jeder selbst. Als sich Sylvio Böhm von Frau E. verabschiedet, sieht man ihr die Enttäuschung an, Traurigkeit huscht über ihr Gesicht. Sie würde Böhm am liebsten häufiger sehen, dabei besucht er sie ja schon jede Woche. Sie sagt: „Kommen Sie bitte bald wieder“ und umarmt ihn. „Ja“, sagt Böhm, „versprochen.“

Vor Kurzem hat sich eine Studentin bei Böhm gemeldet, die einen seiner Artikel in der Genossenschaftszeitung gelesen hat und ihn bei seiner Arbeit unterstützen möchte. Sie kümmert sich jetzt auch um Frau E., hilft bei den Einkäufen, schenkt ihr Zeit. Gäbe es mehr Menschen wie Böhm oder die Studentin, würden auch weniger häufig einsam Verstorbene unbemerkt in ihren Wohnungen liegen, bis der Verwesungsgeruch irgendwann einen Nachbarn stört. Auch solche Fälle kennt Böhm.

„Ich möchte hundert Jahre alt werden“

Drei, vier Mieter besucht er pro Tag, je nachdem, worum es geht. Heute konzentriert er sich auf die Einsamen. Genau genommen gehört Herr B. nicht zu dieser Gruppe, aber Böhm hat ihm einen Besuch versprochen, und seine Versprechen hält er. Außerdem hat Herr B. gute Strategien gegen Einsamkeit entwickelt.

Herr B. wohnt in einem Plattenbau, er öffnet die Tür, gestützt auf eine Krücke. Er ist sechzig Jahre alt und leidet an Kinderlähmung, die jeden Schritt zu einem Kampf macht. Als Vierzehnjähriger verbrannte auch noch ein Feuer große Teile seines Körpers. „Grillunfall“, sagt er und erzählt, dass er beinahe ein Bein verloren hätte. Seine Frau ist ihm davongelaufen, und sein Sohn, mit dem er schon ­böse Verwerfungen hatte, lebt in der Schweiz. Aber anders als Frau S. und Frau E. strahlt er etwas ungemein Positives, Lebensbejahendes aus. Er sagt: „Ich möchte hundert Jahre alt werden.“ Grübeln sei Gift. Es würde nur seiner Psyche schaden und die Tage verdunkeln, also tut er es nicht. Herr B. begegnet der Einsamkeit mit positivem Denken und Selbstgesprächen. „Da bleibt auch der Geist in Bewegung!“

Herr B. hat bescheidene Wünsche. Er würde gerne seinen Rollator umtauschen, weil der jetzige seine von der Kinderlähmung gezeichneten Beine einengt. Herr B. führt ihn vor, und seine Bewegungen sehen schmerzhaft aus. Die Krankenkasse aber macht Probleme, wieder einmal. Er würde auch gern von der zweiten Pflegestufe in die dritte hochgestuft werden, was seinen Alltag deutlich erleichtern würde. „Sagen Sie mir, wann der Termin für die Begutachtung ist, dann bin ich dabei“, sagt Böhm. Herr B. nickt. Dann verabschiedet er sich, „bis nächste Woche“, sagt er, „dann gehen wir spazieren“. Böhm bewundert Herrn B. für seinen Optimismus, aber Herr B. ist eine Ausnahme.

Er erzählt von einem Fall, der ihn besonders mitgenommen hat. Eines Tages rief ihn ein Mann an und bat inständig um Hilfe. Böhm besuchte ihn und fand einen völlig verwahrlosten und dehy­drierten Menschen vor. Der knapp Achtzigjährige hatte so dicke, entzündete Beine, dass er nur noch eine abgeschnittene Jogginghose tragen und nicht einmal mehr einkaufen gehen konnte. Um die eitrige Haut hatte er Klopapier gewickelt. Böhm rief einen Arzt, der den Mann sofort ins Krankenhaus schicken wollte, aber der Mann weigerte sich. Er weigerte sich auch am nächsten Tag, aber Böhm ließ nicht locker. Er fuhr noch einmal hin und fand ihn tot in seinem Flur.

Sylvio Böhm würde im Alter gern mit Freunden in einem großen Haus leben, eine Art Wohngemeinschaft ohne ­Gemeinschaftszwang. Ein Garten wäre schön, gute Gespräche natürlich auch. Nur nicht diese Stille, die so viele Menschen in ihren Wohnungen niederdrückt.

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