Warum Menschen sich selbst verletzen
Der Mensch fügt sich seit Jahrtausenden selbst Wunden zu – ob aus emotionaler Not oder religiösen Gründen. Älteste Spuren führen bis in die Steinzeit.
Am Fuße der Pyrenäen liegt das verschlafene französische Dorf Aventignan. Südlich davon erhebt sich ein kleiner Hügel, in dem sich die Höhle von Gargas verbirgt. Tief in deren Innerem finden sich hunderte Handabdrücke, die um die 20 000 Jahre alt sind. Dabei fällt ein Detail besonders auf: Etwa der Hälfte der Abdrücke fehlt mindestens ein Fingerglied. Weshalb? Ein Forschungsteam um den kanadischen Archäologen Mark Collard ist davon überzeugt, dass die Steinzeitmenschen sich die Segmente absichtlich abgetrennt haben. Sollte es damit richtigliegen, handelt es sich bei den Bildern um eines der frühesten Zeugnisse von Selbstverstümmelung der Menschheitsgeschichte.
Psychologinnen und Psychiater sprechen heute von »selbstverletzendem Verhalten«, wenn jemand den eigenen Körper bewusst versehrt. Je nach Definition beginnt das schon recht harmlos: etwa beim obsessiven Nägelabkauen bis herunter zum Nagelbett. Piercings oder Tattoos, die sich unter dem breiteren Begriff »Körpermodifikation« fassen lassen, wurden in der Vergangenheit ebenso dazugezählt wie das weit brachialere Abtrennen von Gliedmaßen, die Selbstauspeitschung oder das heutzutage recht verbreitete Ritzen (siehe »Wenn Schmerz entlastet«). Insbesondere diese schwereren Formen der Selbstverletzung scheinen zunächst unverständlich: Wieso fügen sich Menschen freiwillig starke Schmerzen zu, beeinträchtigen den Körper in seiner Funktion und nehmen in Kauf, von der ästhetischen Norm abzuweichen?
Collard und seine Kollegen halten im Fall von Gargas medizinische Gründe wie das Entfernen von erfrorenem Gewebe für unwahrscheinlich – zu selten sei dafür der Daumen verkürzt, zu groß die Menge an abgetrennten Gliedern. Für realistischer halten die Forscher einen rituellen Hintergrund. Diese Ansicht stützen sie auf interkulturelle Untersuchungen: In mehr als 100 ethnologischen Berichten über Stämme und Gesellschaften sämtlicher Kontinente entdeckten sie genau solche Praktiken. In den meisten Fällen galten Trauerrituale oder spirituelle Handlungen als Anlass für die Selbstverstümmelung. So opferten etwa Männer und Frauen der nordamerikanischen Blackfoot während des Sonnentanzes Fingersegmente, auf dass die Jagd ertragreich werde. Solche »dysphorischen« Rituale, das gemeinsame Durchleben von Leid, könnten zudem den Gruppenzusammenhalt gestärkt haben.
Höhle von Gargas | Vor 20 000 Jahren verewigten sich Menschen an diesen Wänden. Warum vielen der Handabdrücke Finger fehlen, bleibt ein Rätsel. Die Spekulationen reichen von ritueller Selbstverstümmelung bis zu einer uralten Zeichensprache.
Nicht immer ist der Grad der Selbstbestimmung bei ritueller Selbstverletzung klar. Etwa beim antiken Kult um die Göttermutter Kybele, die der Sage nach aus dem Zwitterwesen Agdistis entstand, als dieses seiner Männlichkeit beraubt wurde. Um den Bund mit ihr zu signalisieren, kastrierten sich Priester in einem öffentlichen Spektakel. Ob sie dabei jedoch wirklich selbst das Messer führten, ist nicht bekannt. Jene Priester der Kybele nahmen nach der Kastration – ähnlich wie Eunuchen bei den Osmanen oder im chinesischen Kaiserreich – eine besondere Stellung in der Gesellschaft ein und genossen hohes Ansehen.
Weitere kulturell verbürgte Akte der Selbstverletzung sind Initiationsriten. Darin wurden und werden Kinder zu Erwachsenen gemacht oder Außenseiter zu Dazugehörigen. So ist es heute noch bei den Sataré-Mawé im Regenwald Brasiliens Brauch, dass männliche Jugendliche während eines Rituals mit Tucandeira-Ameisen gespickte Handschuhe tragen. Der Stich dieser bis zu drei Zentimeter großen Insekten tut extrem weh, manche vergleichen den Schmerz mit einem Gewehrschuss. Durchhalten macht die Jungen zu Männern. Wie sehr die Teilhabe an solchen Initiationsriten auf Freiwilligkeit basiert, ist fraglich. Wie der kulturhistorisch arbeitende Psychiater Armando Favazza anführt, müssen die Jugendlichen zustimmen, einen »Teil ihrer Autonomie aufzugeben, was durch die Verstümmelung symbolisiert wird«, um Eingang in die »geordnete Welt der Erwachsenen« finden zu können. Sind sie nicht gewillt, diesen Preis zu zahlen, droht der Ausschluss aus der Gemeinschaft.
Weit klarer freiwillig war hingegen eine christliche Praxis des Mittelalters: In Zeiten von Naturkatastrophen oder Seuchen wie der Pest taten sich vom 13. bis ins 15. Jahrhundert Prozessionen von Pilgern zusammen, die vor allem in Norditalien und Süddeutschland von Ort zu Ort wanderten. Dort suchten sie einen geeigneten öffentlichen Platz – und begannen, sich selbst auszupeitschen. Die »Flagellanten«, wie man sie nannte, wollten für ihre Sünden Buße tun und damit weiteres Unheil abwenden. Außerdem wollten sie Gott näherkommen, indem sie das Martyrium Jesu nachvollzogen. Letzteres Motiv findet sich heute noch beim schiitischen Aschura-Fest: Vor allem in Iran peitschen sich Männer selbst aus und schneiden sich mit Schwertern in die Stirn, um den Märtyrer al-Husain ibn ’Alī zu ehren.
Selbstgeißelung | Im Mittelalter zogen Flagellanten durch Europa. Sie schlugen sich mit Lederpeitschen die Rücken blutig, um Gott milde zu stimmen.
Selbstverletzendes Verhalten hatte und hat also einen festen Platz in vielen Gesellschaften. Im 19. und 20. Jahrhundert erlangte jedoch, ausgehend von der westlichen Welt, eine weniger erwünschte Variante Aufmerksamkeit: Im Jahr 1879 schnitt sich der britische Landwirt Isaac Brooks seinen Hodensack auf. Er beschuldigte zunächst andere, aber zwei Jahre später gestand er auf dem Sterbebett, dass er allein sich das angetan hatte. Der Fall ging damals monatelang durch die Presse, Brooks’ Handlung und dessen Motive wurden heiß diskutiert, nicht zuletzt von »Irrenärzten«.
Damals war die Psychiatrie als medizinische Disziplin in England und Westeuropa bereits zu weiten Teilen etabliert. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wollten ihre Vertreter psychische Krankheiten definieren, katalogisieren und schließlich auch heilen oder zumindest lindern. Die Psychiatrie entwickelte sich zeitgleich zur Industrialisierung und Verstädterung, die neue Lebens- und Verhaltensweisen hervorbrachten, von denen Fachleute viele als pathologisch einstuften. Hysterie, Melancholie oder Nervosität wurden zunehmend in »Irrenanstalten« behandelt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befanden sich in England einige hundert Patienten in solchen Anstalten, zum Ende hin waren es knapp 100 000. So überrascht es nicht, dass der Fall Isaac Brooks in der Presse ebenfalls als der Fall eines Wahnsinnigen behandelt wurde. Auf welche Art der Verrücktheit die Selbstverletzung hindeutete, darüber war man sich nicht einig. Sie konnte nach damaliger Ansicht als Symptom für nahezu jede psychische Krankheit gelten. In der Diskussion darum spiegelten sich vor allem die Ängste und Sorgen der viktorianischen Gesellschaft über den Zustand der Welt und einen drohenden Sittenverfall.
Brooks war nicht der einzige Kastrationsfall, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Berühmtheit wurde. Wie die britische Historikerin Sarah Chaney feststellte, gab es überproportional viele Fachartikel, die sich dem Thema widmeten. So ging es etwa zwischen 1880 und 1900 nahezu in der Hälfte der Artikel über Selbstverletzungen, die auf Fallstudien aus dem Bethlem-Krankenhaus in London basierten, um Kastration – obwohl diese weniger als zehn Prozent der Fälle ausmachten. Das Ausreißen von Haaren oder das Schlagen des Kopfes gegen die Wand waren verbreiteter, aber offenkundig nicht so interessant. Die Selbstkastration galt damals als großes Übel des modernen urbanen Lebens, als Zeichen einer egoistischen Gesellschaft. Die Fallstudien beschrieben den typischen Autokastraten als sozial isolierten Mann. Er sei oft süchtig nach Masturbation, die seit dem 18. Jahrhundert als gefährlich galt, da sie angeblich das Nervensystem schwäche. Die Selbstkastration sei der höchste Ausdruck von Selbstsucht. Schließlich mache sie die Zeugung von Kindern unmöglich und verhindere altruistisches Verhalten, welches sich nach damaliger Sicht mit der Geschlechtsreife entwickelt.
Piercings & Tattoos: Früher verpönt, heute normal
Gleichzeitig wuchs die Angst vor einer »Degeneration« der Gesellschaft, wie der US-amerikanische Historiker Sander Gilman beschreibt. Anstoß nahm man deswegen auch an Tätowierungen und Piercings, die im 19. Jahrhundert in gewissen Milieus verbreitet waren. Seeleute ließen sich von Hand mit einer Nadel nautische Motive unter die Haut stechen – als Zeichen des Stolzes auf ihre Profession. Zudem waren ihre Körper so eindeutig identifizierbar, sollten sie eine ihrer Reisen nicht überleben. Prostituierte trugen ebenfalls teils Tattoos und Piercings in Abgrenzung zur »guten Gesellschaft«. Letztere erinnerte der invasive Körperschmuck bald an »primitive« Bräuche aus den Kolonien: Wer sich freiwillig derart verstümmele, falle auf einen niedrigeren zivilisatorischen Stand zurück.
Wo genau die Linie zwischen normalen und pathologischen Formen der Selbstverletzung verortet wird und welche das meiste Aufsehen erregt, hängt also stark vom geschichtlichen Zusammenhang ab. Die Selbstkastration etwa schien im 19. Jahrhundert deshalb so bedeutend, weil sie im Kontext der Untergangsfurcht der viktorianischen Zeit stand. Der Mann als Pfeiler der Gesellschaft schien durch egoistisches, rückwärtsgewandtes Verhalten in Gefahr.
Ein Arm voller Grammofon-Nadeln | Das Röntgenbild stammt wahrscheinlich aus dem frühen 20. Jahrhundert.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Selbstverletzung jedoch zunehmend als weibliches Phänomen erachtet – passend zum damaligen Frauenbild. 1897 veröffentlichten die amerikanischen Psychiater George Gould und Walter Pyle eine Fallsammlung. Darin enthalten: die Geschichten von Frauen, die sich Nadeln tief in ihr eigenes Fleisch bohrten. Solche »Needle-Girls« galten als hysterisch. Hysterie umfasste als Sammelbegriff alle möglichen Leiden, die Frauen zugeschrieben wurden. Man unterstellte den Needle-Girls ein niederes Motiv. Frauen wurden in dieser Epoche als äußerst manipulativ betrachtet, und Hysterie im Allgemeinen sowie die Needle-Girls-Spielart im Besonderen galten als billiger Versuch, Aufmerksamkeit zu erheischen. Dementsprechend waren die Needle-Girls nach damaliger Sicht kein Fall für den Psychiater, sondern für den Chirurgen, der die Nadeln entfernte und die meist jungen Frauen ausschimpfte.
Um die Jahrhundertwende gerieten derart oberflächliche Erklärungen aus der Mode. Seelenkundler wie Pierre Janet und Sigmund Freud konzentrierten sich zunehmend auf die Tiefen des Unterbewusstseins, um das menschliche Verhalten zu ergründen. Den gesellschaftlichen Kontext ließen sie dabei größtenteils außer Acht. Abgesehen von allgemeinen Hinweisen auf den Stress des modernen Lebens erklärte man Anfang des 20. Jahrhunderts weibliche Selbstverletzung zum Ausdruck psychischen Aufruhrs und emotionaler Instabilität. Das bewusste Motiv wurde nun in ein unbewusstes umgedeutet: Frauen seien ihrer manipulativen Natur nicht einmal gewahr. Das Bild der Selbstverletzung als Manipulationsversuch und als Ausdruck innerer Seelenqualen hat sich in Teilen bis heute gehalten.
Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewann die Psychoanalyse an Bedeutung. Freud, ihr Begründer, befasste sich selbst kaum mit dem Phänomen Selbstverletzung, und nur wenige seiner amerikanischen Schüler widmeten dem Thema mehr Aufmerksamkeit. Ein Aspekt, der durch die Psychoanalyse jedoch allgemein an Bedeutung gewann, war der des seelischen Traumas. 1912 wurde die aus armen Verhältnissen stammende Honora Downey in das Boston Psychopathic Hospital eingewiesen. Sie hatte sich wiederholt an verschiedenen Stellen des Körpers die Haut aufgeschnitten, was sie als »letting blood«, als Aderlass, beschrieb. Dieser hatte jahrhundertelang eine legitime Form der Selbstverletzung dargestellt, etwa gegen Kopfschmerzen, an denen auch Downey litt. Ihr behandelnder Analytiker, Louville Emerson, deutete das Verhalten hingegen als Ausdruck einer frühen seelischen Verletzung, ausgelöst durch wiederholte sexuelle Übergriffe durch mehrere Familienmitglieder.
Im 20. Jahrhundert wird die Selbstverletzung weiblich
Im Lauf der 1960er bis 1980er Jahre bildete sich schließlich das Bild von der Selbstverletzung heraus, wie wir es heute kennen. Eine zentrale Figur in diesem Wandel war Ping-Nie Pao, der Direktor der psychiatrischen Klinik Chestnut Lodge in Rockville, Maryland. Er und seine Kollegen veröffentlichten viele Artikel über intelligente und – wie oft erwähnt wurde – hübsche junge Frauen der amerikanischen Mittelschicht, die sich Schnitte zufügten. Sie wurden als »delicate self-cutters«, als »sensible Ritzerinnen« bezeichnet. Allerdings war die Festlegung jener Fälle als typisch nicht wirklich zwingend. So entfernten einige Psychiater Männer aus Studien über Selbstverletzung, da sie nicht dem gängigen Klischee entsprachen.
1980 erschien die dritte Ausgabe des Diagnostischen und statistischen Manuals psychischer Störungen (DSM-III), des großen Diagnosekatalogs der American Psychiatric Association. Darin stand erstmals offiziell die so genannte Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ein emotionales Auf und Ab und die Unfähigkeit, die eigenen Gefühle zu regulieren, wurden ins Zentrum der Krankheit gerückt, selbstverletzendes Verhalten als häufiges Symptom festgelegt. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Verhalten keiner Störung eindeutig zugewiesen. Für Borderline-Betroffene ist es besonders typisch, aber auch bei anderen psychischen Erkrankungen kann selbstverletzendes Verhalten auftreten, etwa während einer depressiven Episode oder einer Psychose.
Wenn Schmerz entlastet
Selbstverletzendes Verhalten ist ein typisches Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Laut einer 2018 erschienenen Übersichtsarbeit sind etwa 1,6 Prozent der Menschen von dieser Erkrankung betroffen, Männer und Frauen gleich häufig. Die Probleme beginnen meist schon in der Jugend und haben vor allem mit der Emotionsregulation zu tun. Betroffene erleben Gefühle sehr intensiv. Angst, Wut oder Verzweiflung können sie ganz plötzlich übermannen. Zu dem inneren Tumult kommt eine geringe Impulskontrolle. Diese explosive Mischung trägt dazu bei, dass Patientinnen und Patienten sich selbst verletzen, etwa indem sie sich mit einem scharfen Gegenstand in die Haut schneiden. Bis zu 90 Prozent der Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung tun sich regelmäßig auf eine solche oder andere Art weh.
Das erfüllt wahrscheinlich unterschiedliche Funktionen. So dient ihnen die Selbstverletzung als Mittel, überwältigende Gefühlszustände zu durchbrechen. Neben der Spannungsreduktion kann der starke Reiz auch dabei helfen, die quälende innere Leere, unter der Betroffene teils leiden, kurzfristig zu beenden. Kommt es zu dissoziativen Zuständen, bei denen das Bewusstsein getrübt ist und die Außenwelt weit weg oder unwirklich erscheint, nutzen manche den Schmerz, um sich zurück ins Hier und Jetzt zu holen.
Als Ursache für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung gilt eine Kombination aus biologischen Voraussetzungen und belastenden Erfahrungen. Martin Bohus, Professor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, geht davon aus, dass ein Teil der Betroffenen schon mit einer emotionalen Überempfindlichkeit zur Welt kommt. Etwa die Hälfte der Erkrankten hätten in der Kindheit zudem sexuellen Missbrauch erlebt. Dieser frühe, massive Stress führe dazu, dass das Emotionssystem nicht richtig ausreifen kann und negative Gefühle fortan kaum zu bewältigen seien.
Mit einer speziell auf die Störung zugeschnittenen Psychotherapie lässt sich Borderline jedoch wirksam behandeln. Unter anderem hat sich ein Verfahren als besonders effektiv erwiesen: die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT). Dabei lernen Patientinnen und Patienten gesündere Strategien im Umgang mit starken Gefühlen und Impulsen. Diese SOS-Methoden, genannt »Skills«, nutzen ebenfalls starke Reize, um die innere Anspannung zu mildern, aber ohne dem Körper dauerhaften Schaden zuzufügen. Sie reichen vom Kauen einer Chilischote bis zum Baden der Arme in eiskaltem Wasser.
Mit der 2013 erschienenen fünften Version des Diagnostischen und statistischen Manuals psychischer Störungen (DSM-5) wurde die Selbstverletzung zusätzlich zur eigenen diagnostischen Kategorie: »Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten« beschreibt eine kulturell nicht akzeptierte absichtliche Schädigung von Körpergewebe, die nicht darauf abzielt, sich das Leben zu nehmen. Häufige Formen sind selbst zugefügte Schnitte, Brandwunden oder Prellungen. Zwei von vier Kriterien müssen außerdem erfüllt werden: 1. Negative Gefühle oder Gedanken sind unmittelbar vor der Selbstverletzung vorhanden. 2. Es fällt der Person schwer, dem Drang zu widerstehen. 3. Das Verlangen entsteht häufig. 4. Die Verletzung erfolgt mit einem bewussten Ziel, zum Beispiel, sich Erleichterung von einem unangenehmen Zustand zu verschaffen. Als Ursache für das Verhalten gelten unter anderem traumatische Erfahrungen.
»Pro-Self-Harm«-Webseiten feiern das Ritzen
Die Kultursoziologin Eva Illouz umschreibt dies als »dämonische Erzählung«. Sie will damit auf die Ähnlichkeit zwischen der Idee hinweisen, von einem bösen Geist besessen zu sein, und der, an einer psychischen Krankheit zu leiden: Eine unheimliche Macht ergreift von einem Menschen Besitz, und nur ein Außenstehender kann die Zeichen richtig deuten und Rettung bieten. Daraus entstehe etwas, das Illouz die »therapeutische Erzählung des Selbst« nennt – die Möglichkeit, sich die eigenen Denk- und Verhaltensmuster durch eine psychiatrische Diagnose auf ganz bestimmte Weise zu erklären. Mitunter käme es dabei zu einer Überidentifikation mit der Diagnose. Der kanadische Philosoph Ian Hacking spricht von einem »Looping-Effekt«: Patienten verwendeten psychiatrische Begriffe, um sich selbst zu beschreiben und zu inszenieren, was wiederum die ursprüngliche diagnostische Kategorie plausibel erscheinen lasse. Eine ähnliche Art der Inszenierung lässt sich gut im Internet beobachten. Dort finden sich seit zirka 20 Jahren »Pro-Self-Harm«-Seiten, die selbstverletzendes Verhalten feiern. Junge Menschen teilen Bilder von eigenhändig zugefügten Wunden, Erfahrungsberichte und sogar Anleitungen – meist mit Rückgriff auf medizinische Sprache. Weil Subkulturen wie die »Emo«-Szene Selbstverletzung zum Teil glorifizieren, kann es auch zu einer Art sozialen Ansteckung kommen, vor allem unter Jugendlichen.
Das bedeutet nicht, dass das Leid von Menschen, die sich verletzen, nicht echt ist. Das Suizidrisiko ist bei Betroffenen erhöht – und betroffen sind viele. Eine 2022 erschienene Metaanalyse eines chinesischen Forschungsteams, das 62 international publizierte Studien zum Thema zusammenfasste, kam zu dem Ergebnis, dass sich rund einer von fünf Jugendlichen mindestens schon einmal selbst erheblichen Schaden zugefügt hat. Jugendliche und junge Erwachsene, vor allem aus der Mittelschicht, scheinen besonders anfällig.
Der französische Soziologe Baptiste Brossard bietet eine ergänzende Erklärung für das Phänomen. Er führte Interviews mit Dutzenden von Menschen, die sich selbst verletzen, und befragte sie vor allem zu ihren Lebensumständen und den Situationen, in denen sie den Drang dazu verspüren. Seine These: Selbstverletzung dient der Emotionsregulation, allerdings nicht als Selbstzweck. Vielmehr stelle sie eine Methode dar, das »Gesicht zu wahren«. Brossard verweist darauf, dass der spontane Ausbruch von Emotionen in modernen Gesellschaften verpönt ist. Stattdessen werde ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung erwartet: Gefühle zeigen, ja – aber bitte wohldosiert. Emotionsregulation ist aus dieser Sicht eine stark kulturell geprägte und überaus schwierige Praxis. Um den geschmeidigen Ablauf des Alltags zu wahren, in Interaktionen mit anderen kontrolliert zu bestehen und die eigene Rolle in der Familie, Ausbildungsstätte oder Arbeit zu erfüllen, könne eine Person sich selbst verletzen und sich so Erleichterung verschaffen. Anstatt zu toben, zu brüllen, zu weinen oder anderweitig »eine Szene zu machen«, werde Selbstverletzung gelegentlich als stiller Weg der Selbstkontrolle gewählt. Mit der Zeit könne sich aus der kurzfristig erfolgreichen Bewältigungsstrategie eine regelrechte Abhängigkeit entwickeln. Nicht umsonst vergleichen manche Fachleute regelmäßige Selbstverletzung mit Suchtverhalten.
Folgt man Brossard, ergibt es Sinn, dass vor allem junge Menschen Selbstverletzung betreiben: Sie sind dabei, vielfältige soziale Normen zu verinnerlichen. In der Familie und in der Schule sollen sie sich »normal« verhalten, funktionieren und Leistung erbringen. Haben sie das Gefühl, diese sozialen Erwartungen nicht erfüllt oder eine gesellschaftliche Regel übertreten zu haben, kann Selbstverletzung als eine Art »Reinigungszeremonie« fungieren. Paradoxerweise dient jenes selbstverletzende Verhalten, das heute als pathologisch oder deviant angesehen wird, also mitunter dazu, Ordnung und Normalität zu schaffen und einen reibungslosen Ablauf des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen. Selbstverletzung erfüllte und erfüllt offenbar unterschiedlichste Funktionen und existiert nach wie vor rund um den Erdball in etlicher Form – ob sozial erwünscht oder verdammt, öffentlich inszeniert oder klammheimlich. Nur eins ist sie ganz sicher nicht: neu.