Wer keine Probleme hat, früh aus dem Bett zu kommen, der verdankt diese Gabe möglicherweise den Genen unserer ausgestorbenen altsteinzeitlichen Vettern.
Frühaufsteher sind im Vorteil. Zumindest insofern, als ein solches Verhalten von der sozialen Umwelt mit höherer kognitiver und körperlicher Leistungsfähigkeit assoziiert wird als sein Gegenstück. Zeitgenossen, die nur schwer aus den Federn kommen, geraten schnell unter den Verdacht auch sonst größerer Trägheit – auch wenn dabei übersehen wird, dass unter notorischen Langschläfern durchaus Leistungsträger aktenkundig geworden sind, Winston Churchill zum Beispiel. Nun haben Forscher Hinweise darauf gefunden, dass Anlagen aus dem Neandertaler-Genom daran beteiligt sein könnten, was Zeitgenossen zu Frühaufstehern macht.
Wer nicht aus Afrika kommt oder seine Vorfahren dorthin verfolgen kann, dessen Genom stammt im Schnitt zu etwa zwei Prozent von Neandertalern. Diese vor knapp 40.000 Jahren ausgestorbene Frühmenschenart spaltete sich bereits vor 700.000 Jahren in Afrika von unserer Stammeslinie ab. Einige davon wagten sich lange vor dem ersten Homo sapiens auf andere Kontinente und lebten über Jahrhunderttausende im Westen des zumeist eiszeitlichen Eurasiens, wohin unsere eigene Art erst vor etwa 70.000 Jahren mit bleibendem Erfolg vorzustoßen begann.
Zwei Prozent Neandertaler
Trotz der langen Trennung und physiologischer Unterschiede, die groß genug sind, um sie nach wie vor als zwei verschiedene Arten zu betrachten, konnten Vertreter beider Linien offenbar bis zuletzt Nachwuchs miteinander bekommen, der selbst fortpflanzungsfähig war. So kommt der typische Mitteleuropäer zu seinen Neandertaler-Genen. Rund 40 Prozent des gesamten Neandertaler-Genoms blieben somit in heutigen Menschen erhalten, auch wenn verschiedene Zeitgenossen im Allgemeinen sehr verschiedene Abschnitte aus der DNA unserer ausgestorbenen Cousins geerbt haben.
Befunde, denen zufolge sich darunter auch Komponenten des Frühaufstehertums befinden, haben die Wissenschaftler um John Capra von der University of California in San Francisco soeben im Fachjournal „Genome Biology and Evolution“ veröffentlicht. Sie hatten untersucht, ob unter den Genvarianten, die vom Neandertaler auf den modernen Menschen übertragen wurden, auch solche sind, die mit den Schlafenszeit-Präferenzen von mehreren Hunderttausend in der britischen Datenbank „UK Biobank“ erfassten Menschen assoziiert sind. Tatsächlich fanden sie viele, und sie korrelieren systematisch mit einer erhöhten „morningness“, wie das in der Wissenschaft der Schlaf-Wach-Rhythmen so schön heißt, also der Neigung, früh aufzustehen.
Die meisten Neandertaler-Gene wurden wieder herausselektiert
Es ist nicht das erste Mal, dass das Erbmaterial von Neandertalern, welches man erst seit gut zwei Jahrzehnten aus entsprechenden Skelettfunden isolieren und sequenzieren kann, als potentiell phänotypisch relevant für heutige Menschen diskutiert wird. Zwar gibt es Bereiche, in denen sich unser Genom von dem der Neandertaler klar unterscheidet – nämlich solche, die an Kognition sowie an der strukturellen Anatomie beteiligt sind. Zu anderen Bereichen des Genoms heutiger Europäer haben seine Neandertaler-Vorfahren dagegen beigetragen, etwa zu solchen, die mit der Pigmentierung von Haut oder Haaren zu tun haben, dem Immunsystem und der Disposition zu bestimmten Krankheiten. In den meisten Fällen war das Neandertaler-Erbe für den Homo sapiens nicht von Vorteil und wurde später wieder herausselektiert.
Nachteile, die blieben – etwa ein höheres Risiko, bei einer Covid-Infektion schwer zu erkranken –, müssen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Regionen mit Vorteilen verbunden gewesen sein. Einiges aber erwies sich als nützlich, ohne, soweit bislang bekannt, anderswo besondere Nachteile zu zeitigen. So gibt es Hinweise darauf, dass die Bewohner des Hochlandes von Tibet sich dank Neandertaler-Genen an das Leben in dünnerer Luft anpassen konnten. Auch die helle Haut vieler Mittel- und Nordeuropäer ist wohl ein neandertalisches Erbe, das die Vitamin-D-Bildung in von der Sonne weniger verwöhnten Breiten erleichtert.
Nach John Capra und seinen Ko-Autoren könnte es sich auch bei der „morningness“ um ein Merkmal handeln, das den modernen Menschen, die es erbten, in den für sie neuen Gefilden im Norden einen Überlebensvorteil verschaffte. Denn bei heute lebenden Menschen gehe Frühaufstehertum mit einer etwas schnelleren Taktung der sogenannten circadianen Uhr einher, die Periodenlänge ist dann tendenziell etwas kürzer als 24 Stunden. In höheren Breiten ist das vermutlich von Vorteil, denn es erlaubt eine schnellere Anpassung des Schlaf-Wach-Rhythmus an äußere Zeitsignale – dergleichen sei etwa in Experimenten mit Fruchtfliegen nachgewiesen worden.
Auch verweisen Capra und Kollegen auf Studien, die einen Zusammenhang zwischen dem Chronotyp eines Menschen – also ob er eher zu „morningness“ oder „eveningness“ neigt – mit dem Breitengrad seiner Heimat nahelegen.
Nachkommen von Verbindungen zwischen Neandertalern und Vertretern des Homo sapiens kamen demnach also besser damit zurecht, dass die Tageslänge im Jahreslauf in Mitteleuropa stärker variiert als in unserer Urheimat Afrika. Andererseits hätte sich der frühaufstehende Chronotyp auch unabhängig vom Neandertaler-Erbe viel stärker herausgemendelt, wenn Langschläferei die evolutionäre Fitness entscheidend mindern würde. So stört der Abendmensch mit seinem Biorhythmus allenfalls den einen oder anderen Mitmenschen – oder bestätigt dessen Vorurteile.