Rainer Krause: Seinsformen des Menschen VII

7. Repräsentationsformate für die frühkindliche Erfahrungswelt

Was immer wir hypothetisch unterlegen, sicher ist, dass der Gedächtniskomplex höchst wirksam ist. Eigentlich dürfte er aber nur physiologische, körperliche Repräsentanzen haben. Es gibt nun eine Gruppe von Analytikern, vor allem aus dem Umfeld der Kleinianer, die annehmen, dass sich unbewusste Phantasien als »psychischer Ausdruck der Triebe« von Geburt an entfalten und dass darüber hinaus das Ziel des Triebes, »diese Beziehung zum Objekt«, dem Charakter und der Richtung des Triebimpulses an sich und den mit ihm zusammenhängenden Affekten inhärent sei (Isaacs 2016 [1948], S. 560). Andere halten eine solche Vorstellung für abwegig oder zumindest für nicht nachweisbar. Bohleber et al. (2016) argumentieren schlüssig, dass es keine inneranalytische Möglichkeit geben kann, über die Faktizität dieser verschiedenen Vorstellungen zu entscheiden. Ich werde mich diesem Problem deshalb über die empirische Forschung nähern.

Oben hatte ich geltend gemacht, die Bindungsforschung zwinge uns
zu der Annahme einer hohen Wirksamkeit der frühkindlichen Erfahrungswelt. Die implizite Annahme der meisten Forscher ist wohl, dass es sich um einen wie auch immer gearteten Prägevorgang innerhalb des ersten Lebensjahres handeln muss. Ich will dies nicht ausschließen, aber die folgende Erklärung hinzufügen: Das elterliche Verhalten zum Messzeitpunkt, sei es nun vermeidend, ambivalent oder desorganisiert, hört nie auf, d. h. das Kind ist nach jeder Messung mit einer überbordenden Fülle der gleichen Verhaltensweisen konfrontiert. Es gibt keinerlei Grund zu
der Annahme, dass ebendieses, den elterlichen Projektionen geschuldete Verhalten enden sollte. Ich schlage deshalb vor anzunehmen, dass die Erfahrungen von Beginn an wirkmächtig sind, dass jedoch erst mit zunehmender kognitiver Entwicklung und Reife und der Gewissheit, dass dies
die Welt ist, in der die Kinder leben und nichts die Interaktionsfiguren
ändern wird, für jedes Entwicklungsalter neue Repräsentationsformen
entwickelt werden, die das gleiche Geschehen entwicklungskonkordant
umschreiben und abbilden. Man könnte sagen, die böse Brust sei eine
nachträgliche Bebilderung der verweigernden Mutter. Ich persönlich
glaube, dass die frühesten Repräsentanzen nicht »Brüste«, sondern Gesichter, Stimmen und Gerüche sind. Hier haben wir die oben erwähnte
semiotische Funktion, die aus der Phylogenese stammt und vom Kleinkind wahrgenommen und »verstanden« wird. Das mütterliche Gesicht ist
der früheste Indikator für Vertrautheit (Bischof 1985) – in den von uns
diskutierten Fällen eben einer schrecklichen Vertrautheit.

Gleichwohl spricht nichts gegen die Annahme, dass diese guten oder
schlechten Erfahrungen nachträglich mit optischen und anderen externen
Wahrnehmungen und Repräsentanzen zum Beispiel als » Brust« oder in
der Form von deanimierten Horrorobjekten eingefriedet werden (Moser
2012; Moser & Hortig 2016). Diese Bebilderung stellt eine erste, gleichwohl nachträgliche Form von Symbolisierung dar, die später auch der
Traum benutzt.

Bereits Greenacre (1953) hatte in ihren Studien gezeigt, dass der spätere
Kastrationskomplex die Neuauflage und Umformulierung einer systematischen Ausschaltung der sensorischen Repräsentation der Genitalregion
des Kleinkindes durch den Affekt der Mutter voraussetzt. D. h., jedes Mal,
wenn Frau A. bei der Stimulation der Genitalregion beim Wickeln Ekel
gezeigt hat, wurde die sensorische Repräsentation der hochsensiblen Körperregion der Kohärenz – oder, wenn man so will, der Mutter – zuliebe
geschwächt.

Ich nehme an, dass unsere Psyche aus solchen unterschiedlichen Interaktionsengrammen zusammengesetzt ist, dass wir aber mit der Entwicklung eines zentralen Ichs – ein Begriff, den Fairbairn eingeführt hat –
zusehends in der Lage sind, den Zugriff auf sie wenigstens teilweise zu
moderieren bzw. zu steuern (Celani 2010).

Veröffentlicht am
Kategorisiert als Blog

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert