5.4. Ekel zur Kontrolle der Vergiftung
Frau G. hatte nach vielen Krankenhausaufenthalten, unter anderem wegen einer TB, ihren psychotischen Kern mit schweren Zwängen, die um eine Bakterienphobie herum angesiedelt waren, stabilisiert. Sie berichtete gleich zu Beginn der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, sie habe sich als Fünfjährige schwer versündigt, weil sie aus Versehen beim Sonntagsbesuch in der Bettritze der Eltern den Penis des Vaters berührt habe. Dieses bewusste Erlebnis wurde zum Kern ihrer zahllosen Entschuldungsversuche unter anderem durch Beichten. Das Thema »Penis und schuldhaftes Verhalten« zog sich durch ihr Leben. Sie heiratete, ohne je einen Penis aufgenommen zu haben, einen schwer angsterkrankten Mann. Kennengelernt hatte sie ihn bei einem katholischen Eheseminar, an dem sie, ihrer Mutter folgend, teilgenommen hatte. Die Ehe wurde nach einer Vaginaldehnung durch einen Gynäkologen einmal vollzogen. Von ihrer ersten Stelle als Kinderschwester wurde sie
suspendiert, weil sie beim Wickeln der männlichen Babys unentwegt Ekelausdrücke im Gesicht innervierte, so dass die anderen Schwestern eingriffen. In einer der zahllosen Behandlungen, die sie später machte, »entdeckte« sie im Rahmen einer sehr teuren, aus eigener Tasche bezahlten Tiefenhypnose, dass sie im früheren Leben ein psychotischer Chirurg des 19. Jahrhunderts gewesen sei, der den männlichen Patienten die Glieder abgeschnitten und diese eingeweckt habe. In der Wohnung des Ehepaares herrschte eine ekelerregende Unordnung. Das Einzige, vor dem Frau A. sich allerdings wirklich ekelte, war der Penis ihres Mannes, den sie gleichzeitig besitzen wollte. Soweit ich das Geschehen verstanden habe, war die Erfindung der Penissünde eine spätere Schöpfung, um den Umgang der eigenen Mutter mit ihrer Genitalregion zu
fassen. Wir wissen nicht, was da geschehen ist, aber es muss sehr wirkmächtig gewesen sein. Sie war neben der durchaus steuerbaren Penisphantasie – manchmal bezeichnete sie den Hypnotiseur als Betrüger – von Todesbazillen verfolgt, die alle aus dem Umfeld der Mutter stammten. Die Mutter hatte zum Zeitpunkt der Behandlung immer noch unkontrolliert Zugang zu ihrem Innenleben, den die Patientin über die Todesbazillen zu kontrollieren versuchte.
6. Metapsychologische Überlegungen
Ich möchte an dieser Stelle die Überlegung einführen, dass diese Patienten als Kleinkinder die exzessiven negativen Affektausdrücke der Mütter als toxisch erleben mussten. Die Frage, ob man solche Erfahrungen traumatisch nennen soll, erscheint mir unerheblich. Manche Autoren nennen sie kumulative Minitraumen. In jedem Fall funktioniert der mit ihnen verbundene Prozess der Verinnerlichung nach dem Modell der Introjektion. Von Introjektion sprechen wir dann,
»wenn die Assimilationsfähigkeit des aufnehmenden Subjektes nicht ausreicht, um die bereits bestehenden Selbstanteile mit den Attributen des Objektes so zu verbinden, dass das historisch gewachsene bisherige Selbst als identitätsdefinierend erhalten bleibt« (Krause 2012, S. 268).
Als Erwachsene pflegen diese Patienten alle einen weitgehenden Verzicht auf mimisch-expressive Zeichen, sieht man vom »distress cry« der ersten Patientin ab. Ebender ist aber kein Affekt. Auf dieses Phänomen werde ich später im theoretischen und behandlungstechnischen Teil zurückkommen. Fürs Erste will ich hier nur andeuten, dass ich den expressiven Verzicht nicht für ein Strukturmerkmal im Sinne der OPD halte, sondern als eine überdauernde Abwehr des Affekts der anderen Person betrachte, die
gewissermaßen der behaviorale Niederschlag einer Besetzungsabwehr ist (Moser 2009).
