Teil 2: Der erwachsene Mensch. Metatheorie und Behandlungstechnik
1. Überblick über den bisherigen Forschungs- und Kenntnisstand
hinsichtlich der unbewussten dyadischen Affektchoreographie
Ausgehend von unseren Forschungen (Krause 2012) sowie denen der
Forschergruppen um Cord Benecke (2014) und Eva Bänninger-Huber
(Bänninger-Huber & Monsberger 2016) habe ich geltend gemacht, dass eine Reihe von Personen sich in Alltagssituationen durch eine massive Reduktion des affektiv-expressiven Systems auszeichnen. Nachgewiesen ist dies für die affektive Gesichtsmimik. Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass auch die Prosodie der Stimme und andere mikroanalytisch erfassbare nonverbale Körperphänomene betroffen sind. Das gilt jedenfalls für Akuttraumatisierte (Kirsch & Krause 2006), für an paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie Erkrankte, für bestimmte Gruppen des psychosomatischen Formkreises mit Ausnahme von Konversionen sowie für eine
Untergruppe von angsterkrankten Frauen (Benecke & Krause 2005).
Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass sich gesunde Diskussionspartner in Unkenntnis einer allfälligen Diagnose ihrer Partner hinsichtlich der Variabilität und Häufigkeit ihrer affektiven Verhaltensweisen den Kranken – anders als wenn sie mit Gesunden interagieren – anpassen. Dieser Vorgang ist insofern unbewusst, als niemand sich dieses Verhaltens gewahr werden konnte. Es hat aber massive Auswirkungen auf das Erleben der Betroffenen. Sie fühlen sich extrem unwohl. Ihre Gefühlslage ist schlechter als die der Patienten, selbst der Schizophrenen. Es war mit unseren Forschungen nicht zu erklären, wie diese Ergebnisse zustande kommen.
»Nein«, sagte der kleine Prinz. »Ich suche Freunde. Was bedeutet ›zähmen‹?«
»Das wird oft ganz vernachlässigt«, sagte der Fuchs. »Es bedeutet ›sich vertraut miteinander machen‹.«
»Vertraut machen?«
»Natürlich«, sagte der Fuchs. »Du bist für mich nur ein kleiner Junge, ein kleiner Junge wie hunderttausend andere auch. Ich brauche dich nicht. Und du brauchst mich auch nicht. Ich bin für dich ein Fuchs unter Hundertausenden von Füchsen. Aber wenn du mich zähmst, dann werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzigartig sein. Und ich werde für dich einzigartig sein in der ganzen Welt …«
»Ich verstehe allmählich«, sagte der kleine Prinz. »Da gibt es eine Blume … ich glaube, sie hat mich gezähmt …«
»Das ist gut möglich«, sagte der Fuchs. »Auf der Erde entdecken wir alle möglichen Dinge …«
»Oh! Das ist nicht auf der Erde«, sagte der kleine Prinz.

2. Hypothesen zur Erklärung der Befunde
2.1. Die Spiegelneuronen
In Bezug auf die Affektansteckung der Gesunden haben wir mittlerweile durch die Entdeckung und Erforschung der Spiegelneuronen eine brauchbare neurowissenschaftliche Erklärungsgrundlage (Bauer 2005). Grob vereinfachend könnte man sagen, die optische Wahrnehmung einer biologisch hochrelevanten Reizkonfiguration, wie es die Affekte nun einmal sind, führt im Gehirn zu einer Aktivierung der zum Perzept passenden motorischen Muster. Diese motorische Aktivierung ist die Grundlage des
Fremdverstehens, der Empathie, aber auch der Belohnung bzw. Bestrafung durch den Affektausdruck des Anderen. Es ist nicht die Empathie selbst, da sie eine Subjekt-Objekt-Differenzierung voraussetzt, die für die Zeit bis zum 17. Monat nicht gegeben ist und die später auch wieder zusammenbrechen kann.
2.2. Der fehlende psychische Innenraum für die Anbindung der affektiven Zeichen
Warum die von uns untersuchten Personen von der Reduktion des Affektausdrucks betroffen sind, musste offenbleiben. Die Krankheitsdiagnosen per se waren kein kausaler Verursachungsfaktor, da einmal unterschiedliche Gruppen untersucht wurden und zum anderen auch klinisch Gesunde das gleiche Verhalten zeigen konnten. Personen mit einem niedrigen Strukturniveau im Sinne der OPD und ohne manifeste Symptome
wiesen ebenfalls eine messbare Reduktion der Häufigkeit und Variabilität des affektiv-expressiven Geschehens auf wie die oben erwähnten Krankheitsgruppen (Schulz 2001). Gesunde mit einem hohen Strukturniveau heben sich davon ab, sie emittieren mehr und variantenreichere positive und negative Affektzeichen.
Auf der Grundlage einer Reihe weiterer Forschungsergebnisse sowie
klinischer Erfahrungen halte ich die folgende Erklärung für die überzeugendste: Bei Gesunden ist vor allem in Alltagssituationen das affektive Zeichen in der Mimik, der Stimme und des Körpers an die Denkinhalte, über die gesprochen wird, angebunden. Es ist gewissermaßen ein affektiver Kommentar zu etwas Gedachtem oder Gemeintem, wobei das Gemeinte nicht der Sender selbst ist. Das hat zur Folge, dass die häufigsten negativen Zeichen, wie Ekel und Verachtung, mit sehr hoher introspektiv berichteter Freude und Interesseerleben einhergehen. Die Gesprächspartner freuen sich darüber, dass sie sich einig sind, wie sie ein Objekt gefühlsmäßig – eben durchaus auch negativ – einschätzen (»wir haben
uns wunderbar verstanden«). Diese Überlegungen lehnen sich an Bühlers Organonmodell der Zeichen an, die als Symbol, Symptom und Signal auftreten können (Bühler 1982 [1934]). Dass das Zeichen als affektives Symbol für etwas anderes, also nicht als Symptom des Zustandes des Selbst und nicht als Signal und Appell an den Partner dient, wird durch ein großes Repertoire von nonverbalen Mikroverhaltensweisen sichergestellt. Personen mit einem niedrigen Strukturniveau zeichnen sich durch das Fehlen einer phantasierten psychischen Innenwelt aus, so dass das Fehlen der Affektzeichen gewissermaßen eine sekundäre Folge der Unmöglichkeit ist, auf diese simulierte Innenwelt zurückzugreifen. Als Folge davon werden die affektiven Zeichen stets als Indikativ für den Zustand des Senders oder als unmittelbarer Appell, etwas zu tun, interpretiert und deshalb in den meisten Fällen als bedrohlich erlebt.
3. Entstehung der veränderten Affektchoreographie
Ob und, wenn ja, wie diese Form der dyadischen Affektchoreographie lebensgeschichtlich entstanden ist oder ob sie ein Struktur- oder Vulnerabilitätsmerkmal ist, muss offenbleiben. Gesichert ist, dass das Herunterfahren des affektiv-expressiven Systems unter gewissen Bedingungen
zusammenbricht. Während des psychotischen Schubs treten affektive
Ausdrucksgestalten teilweise sehr intensiv auf, allerdings von denen Gesunder verschieden. Bei den paranoid Schizophrenen geschieht dies bei
Aktivierung eines psychotischen Schubs ohne neuroleptische Medikation, bei den Akuttraumatisierten bei der Reaktivierung des Traumas.
Bei Angstpatienten kann bei der Aktivierung der Trennungsgefahr ein
Distress-Ausdruck aktiviert werden (vgl. Teil 1). Gesichert ist auch, dass
die expressive Reduktion introspektiv und physiologisch von extrem hoher negativer Erregung begleitet ist.
Im klinischen Setting habe ich anhand mehrerer Fälle den Wechsel zwischen den verschiedenen Seinsformen im Prozessverlauf beschrieben und
gezeigt, dass es möglich ist, Zugang zu den abgewehrten Persönlichkeitsanteilen zu gewinnen, wenn die Patienten den fehlenden Affekt zulassen
müssen. Im Allgemeinen wird dies als Retraumatisierung erlebt.
