RAINER KRAUSE
Affektpsychologische Überlegungen zu Seinsformen des Menschen
Übersicht: Unter Rückgriff auf die im Affektsystem von Beginn an verfügbare Semiotik des Ausdrucks verfolgt der Autor die Idee, dass der Affektausdruck des Anderen Organisationskern der kindlichen Persönlichkeit ist und dass die frühen Repräsentationsformen Gesichts- und Lautperzepte sind. Das Kleinkind wird mit einer Fülle von Leitaffekten der elterlichen Projektionen konfrontiert. Diese »emotional scripts« werden bis ins Erwachsenenalter weitergeführt, wie an fünf Fallvignetten von Patienten illustriert wird. Der Autor versucht zu zeigen, dass diese »affektiven Drehbücher« geändert werden können, wenn es gelingt, den sie tragenden Affekt durch einen anderen zu ersetzen. Diese Überlegungen führen zu einer Neufassung des Vorgangs der Spaltung. Im zweiten Teil der Arbeit werden, ausgehend von der Tatsache, dass eine Reihe von Personen eine extreme Reduktion der affektiv-expressiven Motorik in dyadischen Interaktionen aufweisen und dass ihr Verhalten von ihren Interaktionspartnern unbemerkt kopiert wird, Überlegungen angestellt – u. a. unter Rückgriff auf die Konzepte der Desaffektualisierung von Moser, der Beta-Elemente von Bion und der Desobjektalisierung von Green –, wie man dieses Phänomen verstehen kann. Abschließend werden Behandlungsansätze diskutiert.
Schlüsselwörter: Affekttheorie; Desaffektualisierung; frühkindliche Organisation; Strukturniveau; »emotional scripts«; Behandlungstechnik
Teil 1: Der frühkindliche Mensch. Metatheorie und Klinik
1. Einleitung
Eine ganze Reihe von psychoanalytischen Denkern geht davon aus, dass die ursprüngliche Seinsform des frühkindlichen Menschen als ein Bündel von nicht zusammenhängenden Wahrnehmungen und Erfahrungen gekennzeichnet werden muss. So lässt Bick (2002 [1968]) uns wissen, dass
»Persönlichkeitsanteile in ihrer primitivsten Form empfunden werden, als gebe es keine Kraft, die einen Zusammenhalt unter ihnen schafft, und als müssten sie deshalb auf eine von ihnen passiv erlebte Weise zusammengehalten werden – durch die Haut, die als Begrenzung fungiert« (S. 236).
Das Baby des ersten Jahres ist, Winnicott (1984 [1960]) folgend, per definitionem desintegriert, da es mit optischen, akustischen, taktilen, olfaktorischen und propriozeptiven Reizen konfrontiert wird, für die es kein übergeordnetes Gedächtnis und damit auch keine übergeordnete Verarbeitung gibt.
Wenn dies so ist, dann ist die Frage, wie man dieses im Sack der Haut
seiende Etwas zu etwas unerhört anderem verwandelt, nämlich zu einem Selbst oder zentralen Ich mit einem vielleicht sogar einheitlichen Willen, das sich gegenüber der Welt behaupten kann. Dieses Problem ist umso dringlicher, als die frühen Organisationskerne gar nicht die Zustände des Kindes zu sein scheinen, sondern der Affekt des Anderen. Aulagnier
(2015) führt in ihren Arbeiten zur Erschaffung des Körpers aus, dass jeder Akt des Wissens einen Akt der Besetzung voraussetzt, dass diese Besetzung zu Beginn des Lebens aber von den Anderen ausgeht: »Whence the first formulation that the child will give himself of reality: reality is governed by the desire of others« (S. 1372).
