Seelisch krank ist, wer sich selbst wie auch andere schlecht liebt.
„Man findet das Glück selten in sich, niemals woanders.“ – Chamfort
Entscheidend für die Einordnung des vorgestellten Ansatzes als emanzipatorisch ist Brandchafts „…Betonung der Fähigkeit der Patienten, auf der Basis seiner eigenen Wahrnehmungen und Gefühle denken und reflektieren zu können“. (S. 306) Damit bekommen Fragen des Widerstands und das theoretische Wissen des Therapeuten einen anderen Stellenwert.
Ausgangspunkt für Brandchaft waren die Erfahrungen mit der Begrenztheit der damaligen Ansätze, die er in der psychoanalytischen Ausbildung in der Mitte des letzten Jahrhunderts gelernt hatte. Diese basierten wesentlich auf den Freudschen Lehre vom Unbewussten, dem Strukturmodell von Ich – Es – Über-Ich, der sog. Triebtheorie, den Abwehrmechanismen, der Übertragung und Gegenübertragung. Seine praktische Arbeit mit Patienten zeigte ihm, dass die „Doktrin des intrapsychischen Determinismus…ungeeignet ‚sei‘, die schweren Störungen zu erklären…“ (S. 19). Hierzu zählen insbesondere Zwangsstörungen, chronifizierte Depressionen und Störungen, die auf der Symptomebene als dissozial imponieren. Dabei erwies sich Winnicotts Auffassung, dass Mutter und Säugling eine Einheit bilden, als leitend, weil „sowohl psychische Entwicklung wie auch Pathogenese am besten in Begriffen der spezifischen intersubjektiven Kontexte konzeptualisiert werden, welche den Entwicklungsprozess formen und die Auseinandersetzung des Kindes mit kritischen Entwicklungsaufgaben und das erfolgreiche Durchlaufen von Entwicklungsaufgaben …fördern oder behindern.“ (S. 20) Egal wie der individuelle Entwicklungsprozess abgelaufen ist, prägt er Muster, von denen Brandchaft die „Systeme pathologischer Anpassung“ besonders beschäftigten. Hierbei handelt es sich um Systeme, die das Kind zum Erhalt der Bindung an die primären Bezugspersonen entwickelt, auch wenn deren Erwartungen inadäquat sind und nur unter Aufgabe der Selbstentwicklung erfüllt werden können. Damit rückt auch Traumatisierung in den Fokus der Aufmerksamkeit. Diese Muster zeigen sich im weiteren Leben sowohl im inneren Erleben wie in Interaktionen. So kann es auch in der psychoanalytischen Beziehung selber zu einer Anpassung an die unbewussten Erwartungen des behandelnden Psychoanalytikers kommen.
Diskussion und Fazit
Die Publikation leistet dreierlei:
- Sie stellt, ausgehend von den Freudschen Modellen, eine gründliche Darstellung der theoretischen Impulse dar, die sich nach Freud im Rahmen der Kleinianischen Auffassungen, dann der Selbstpsychologie im Kohutschen Verständnis sowie der Bindungsforschung und des Mentalisierungskonzepts ergeben haben.
- Die Publikation demonstriert, wie es durch eine konsequente, offene Haltung, die auch auf kleine affektive Verschiebungen achtet, gelingen kann, Patienten wieder einen Zugang zu den eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen zu ermöglichen (und nicht die unbewusst, quasi automatisch ablaufende Übernahme der Gefühle und Wahrnehmungen der Bezugsperson, in der Behandlung also des Therapeuten, unbewusst und damit nicht korrigierbar fortzusetzen). Dies setzt seitens des Therapeuten die Haltung einer kontinuierlichen empathisch-introspektiven Erkundung voraus. Hierbei ist die systemische Perspektive auf Patient und Therapeut rahmensetzend, insofern der psychoanalytische Prozess als Ergebnis der gemeinsamen, also auch vom Unbewussten des Psychoanalytikers einschließlich dessen theoretischer Vorannahmen, gestalteten Interaktion verstanden wird. Nur so „…kann die Arten des Seins, die für das eigene Überleben geschaffen wurden, in diesem psychischen Bereich …“ geklärt und verändert werden ( S. 312).
- Brandchaft fokussiert auf die Herausarbeitung von inter- und intrapsychischen Interaktionsmustern und deren Bedeutung und nicht auf deren Inhalte. Diese Sichtweise ist anregend und weiterführend.
Emanzipatorische Psychoanalyse bedeutet „…Brandchafts Ansatz der psychischen Befreiung von Patient und Analytiker von Theorien, die, wie elegant sie auch immer sein mögen, den klinischen Test nicht bestanden haben.“ (S.294) Dies setzt eine wissenschaftliche Grundhaltung und die Bereitschaft voraus, die eigene Fehlerhaftigkeit und die jeder Theorie als Voraussetzung zu akzeptieren und zu pflegen. Die Publikation zeigt, was das konkret im Leben einer Person – hier Brandchaft – bedeutet und fordert zugleich auf, auch diesen theoretischen Ansatz zu überprüfen – und das wird hiermit angeregt.
We love they
And we want you to love they too
„The Babylonian Marriage Market“ by Edwin Long (1875)
Wir leben in einem Machbarkeitswahn.
Grenzen werden im Alltag schlicht verleugnet, weil wir uns in der Abhängigkeit von der Technik – Freud sprach seinerzeit von einem „Prothesengott“ – gut eingerichtet haben. Das derzeitige Entgrenzungstreben geht nach Funk jedoch darüber hinaus. Im Unterschied zu Grenzüberschreitung und Grenzverletzung, bei denen Grenzen bestehen bleiben, zielt Entgrenzung radikaler auf das Rückgängigmachen und Beseitigen von Grenzen, die physikalisch durch Zeit und Raum, biologisch durch die begrenzte Lebenszeit und sozial durch Tradition und verbindliche Moralvorstellungen gesetzt sind. Anders als die Moderne, deren Fortschrittsidee das Hinausschieben und Verändern bestehender Grenzen implizierte, ist die „Zweite Moderne“ (S. 40), in der wir leben, durch radikale Aufhebung von Grenzen und Freiheit im Sinne unbegrenzter Pluralität gekennzeichnet.