Lässt sich die Lust in unsere bürgerliche Gesellschaft vollständig integrieren? Nein, sagt die Philosophin Theodora Becker – und glaubt deshalb auch nicht daran, dass die Prostituierte verschwindet. Die „Hure“ verkörpere „das Utopische dessen, was Sexualität sein könnte“.
„Dialektik der Hure“ – so heißt das neue Buch der Philosophin und Kulturwissenschaftlerin Theodora Becker. Sie untersucht darin die Sexualität als Ware – und beschreibt den bürgerlichen Blick auf die Prostitution seit dem 19. Jahrhundert. Becker lebt und schreibt in Berlin.
WELT: Der erste Satz Ihres Buches lautet: „Dieses Buch handelt von der Hure, aber mehr noch von der bürgerlichen Gesellschaft.“ Stehen die Sexarbeiterinnen stellvertretend für eine verfemte Sexualität, die der Gesellschaft einen Spiegel vorhält?
Theodora Becker: Mein erster Satz ist auch eine Taktik, um einen bestimmten Voyeurismus abzulenken. Ob das Buch wirklich „mehr“ von der bürgerlichen Gesellschaft handelt, ist vielleicht fraglich. Aber es ist das, worauf ich mit der Untersuchung der Hure abziele. Die Hure als Spiegel der verfemten Sexualität ist dabei dialektisch. Der Titel „Dialektik der Hure“ bedeutet, dass sie Symptom einer gesellschaftlichen und sexuellen Verkorkstheit ist. So etwas wie Spiegel des Utopischen dessen, was die Sexualität sein könnte, sie kann es aber innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht einlösen.
Die Autorin Theodora Becker
WELT: Was ist der Unterschied in der Begrifflichkeit zwischen Hure, Prostituierter und Sexarbeiterin?
Becker: Die Begriffe „Prostitution“ und „Sexarbeit“ sind politisch aufgeladen. Es gibt keinen neutralen Begriff, der nicht irgendeine Art von gesellschaftlichen Konnotationen mit sich führen würde. Was philosophisch gesehen sinnvoll ist, weil die Prostitution eine gesellschaftliche Institution ist, die nicht jenseits der Gesellschaft zu verstehen ist.
Das Wort „Prostitution“ steht erstmal im Zentrum des Buches, weil er für die bürgerliche Epoche steht. Die bürgerliche Wissenschaft hat ihn im 19. Jahrhundert als Universalbegriff für das Lustgewerbe eingeführt und er enthält die ganzen bürgerlichen Vorurteile und Ambivalenzen gegenüber diesem Gewerbe.
Der Begriff „Sexarbeit“ wurde in den Siebzigerjahren von Carol Leigh erfunden, um deutlich zu machen, dass es eine legitime Arbeit ist, und um eine Verächtlichkeit zurückzuweisen, die mit dem Begriff Prostitution verbunden ist. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Andererseits scheint mir der Begriff aber auch zu einfach und zu nüchtern. Und falsch, weil er eben suggeriert, dass es schlicht eine Arbeit ist, und so einfach ist es nicht. Dabei geht mir etwas Entscheidendes verloren. Eigentlich ist es ein Oxymoron, wo zwei Worte zusammengezogen werden, die einander widersprechen.
WELT: Bekommt der Kunde denn was er „bestellt“?
Becker: Ein Text, der mich sehr beeindruckt hat, war ein kleiner Einakter mit dem Titel „Erlöserin“ von Max Brod. Es ist eine kurze Szene, die zwischen einer Prostituierten und ihrem Freier spielt. Der Freier besucht sie zum ersten Mal und sie erklärt ihm ihre Bedingungen, das ist der Inhalt. Der Dialog ist unter anderem deswegen interessant, weil darin deutlich wird, dass das Begehren des Freiers auf etwas ganz anderes gerichtet ist, als das, was sie ihm anbietet, und er ihr gerade deswegen verfällt. Ich fand es dahingehend aufschlussreich, dass diese Grundkonstellation eines totalen Missverständnisses zwischen Hure und Freier, eigentlich gerade notwendig ist, um diesen Handel stattfinden zu lassen.
Brod veröffentlichte neben seinem erzählerischen Werk auch fünf Lyrikbände. Die Gedichte handeln von seinen großen Themen wie Liebe, Identitätssuche und Judentum oder korrespondieren mit den Topoi von Expressionismus und Neuer Sachlichkeit. Andere führen einen Dialog mit den Prager Freunden Franz Werfel und Franz Kafka.
Als Beispiel für Brods frühe Theaterstücke, die von sinnenfreudiger Leidenschaftlichkeit zeugen, von Einsamkeit, Sehnsucht und Liebesnot, steht »Die Höhe des Gefühls“ (1910). In seinen späteren Stücken spielt er mit Mustern des Trivialromans, des Volksmärchens, des Boulevardtheaters. Entsprechend unterhaltsam ist das Schauspiel »Lord Byron kommt aus der Mode“ von 1929. Als Übergang zwischen den erotischen Gedichten und den Dramen steht das kleine Stück »Die Erlöserin“.
WELT: Ist der Sex, der bei der Sexarbeiterin stattfindet, Sex, der in anderen Beziehungen nicht stattfinden kann?
Becker: Ich würde nicht sagen, dass da vollkommen anderer Sex stattfindet. Die bürgerlichen Sexualtabus haben eine reale Auswirkung gehabt. Ihre Liberalisierung führte dazu, dass viele Praktiken, die früher als pervers galten, jetzt in normalen Beziehungen einen Platz haben. In diesem Sinne ist es nicht so, dass Prostituierte völlig andere Praktiken anbieten, obwohl es auch vorkommt, dass Kunden Wünsche haben, die sie sich in Beziehungen nicht anzusprechen trauen.
WELT: Hat das auch einen Reiz für die Verkäuferin?
Becker: Klar. Ich denke für die meisten Frauen, die das Gewerbe wählen, wenn man von schwersten Zwangslagen absieht, ist irgendein Reiz dabei, auch wenn vielleicht andere Gründe im Vordergrund stehen. Sonst würde man den Beruf nicht wählen.
WELT: Ist die Prostituierte ein Luxus?
Becker: Die bürgerliche Gesellschaft konnte sich nie so richtig entscheiden, ob sie die Prostitution als notwendigen Teil der Gesellschaft ansieht, oder als potenziell gefährlichen Hort der überschießenden Wollust und Unordnung. Im Sinne von: Irgendwie brauchen wir es schon, aber es soll nicht überhandnehmen. Die Formel dafür war die vom „notwendigen Übel“. Es wurde eine Balance gesucht, die immer wieder neu gesetzlich und polizeilich justiert wird, weil sie nie wirklich funktioniert. Bei aller Kritik an dieser „Notwendigkeit“ kann man aber nicht rausstreichen, dass es das sexuelle Bedürfnis auch gibt. Es ist nicht reiner Luxus. Wo zieht man da, mit Adorno gesprochen, die Grenze zwischen „natürlichem“ und „falschem“, überflüssigem Bedürfnis? Das kann man nicht, Bedürfnisse sind gesellschaftlich.
Ich wehre mich in dem Buch gegen diese Formel von der Notwendigkeit, weil das der Weg zur Integration des Sexuellen und letztlich seiner Waren- und Dienstleistungsförmigkeit ist. Die bürgerliche Gesellschaft hat es geschafft, einerseits zu behaupten, die Prostitution sei notwendig, aber zugleich die Prostituierten verächtlich zu machen. Das ist für die Prostituierten natürlich kein akzeptabler Zustand. Zugleich hat gerade dieser prekäre Zwischenzustand, geduldet zu sein, aber trotzdem nicht vollständig integriert, es erlaubt, dass sich eine eigene Welt, ein Milieu gebildet hat, das nach eigenen Regeln funktioniert und das verschwinden würde, wenn sie völlig enttabuisiert wäre. Wobei das natürlich auch seine Schattenseiten hat.
WELT: Ist das der Kontext, in dem die Idee des Philosophen Walter Benjamins für Sie wichtig wird, dass die Kultur der Hure zu einem Ende kommen könnte, wenn sie anfingen, sich als Arbeiterinnen zu verstehen?
Becker: Benjamin betont, dass das etwas mit der Zeitökonomie zu tun hat. Es gibt keine Bezahlung nach Leistung, wie sie die Arbeit für sich reklamiert. Wenn die Prostituierte damit anfängt, guckt sie auf die Uhr und arbeitet nur noch ab, während Benjamin der Meinung ist, dass dieses Gewerbe mit einer Ablehnung kleinbürgerlicher, ökonomischer Maßstäbe zu tun hat. Was er betont ist, dass die Hure nicht ihre Arbeitskraft verkauft, sondern ihr Gewerbe den „Schein“ mit sich führt, sie verkaufe ihre Genussfähigkeit. Dieses illusionäre Moment, die Scheinhaftigkeit, sei der entscheidende Punkt daran, dass da irgendwas verkauft wird, was der Rede wert ist.
WELT: Es scheint zwei große Linien im Buch zu geben: Die Reflexion über die Warenform anhand der Prostituierten, und warum das Sexgeschäft ein Tauschgeschäft ist, wo der Freier etwas anderes kauft, als die Prostituierte verkauft.
Becker: Der häufigste Vorwurf an die Prostitution ist, dass sie den Sex zur Ware macht. Alles, was innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft angeboten wird, ist warenförmig. In der Prostitution ist Sexualität eine Ware. Die Prostituierte, das findet sich auch schon in bürgerlichen Positionen, ist eine der extremsten Zuspitzungen der Warenform, weil da etwas sehr Intimes warenförmig angeboten wird. Das kann man einerseits kritisieren, weil der Kapitalismus eine weitere Domäne des menschlichen Lebens integriert hat. Aber dann ist mir diese Lesart auch zu simpel.
Wenn man genauer guckt, wird unklar, was eigentlich wirklich diese Ware ist, die die Prostituierte verkauft. Was ist denn Sex? So bin ich darauf gekommen, diese Scheinhaftigkeit und Uneindeutigkeit, was eigentlich genau verkauft wird, in das Zentrum der ganzen Sache zu stellen.
Das ist auch der Grund dafür, dass sich die bürgerliche Gesellschaft damit so schwertut, die Prostitution zu begreifen. Für sie sind diese Frauen einerseits Verbrecherinnen und Betrügerinnen, die die Männer nur manipulieren und eigentlich gar nichts verkaufen – der Freier muss ja sein eigenes Begehren und seine eigene Lust mitbringen und dafür bezahlen! Gleichzeitig gibt es die andere Seite, die sagt, die Prostituierten geben „sich selbst“ preis und geben prinzipiell mehr als ein Geldäquivalent jemals aufwiegen könnte, demnach sind sie ausgebeutete Opfer. Vielleicht muss man das nicht nur als bürgerliche Vorurteile betrachten, sondern sehen, dass gerade dieser Widerspruch den Kern der Sache bildet.
Was eigentlich verkauft die Hure dem Freier? Was ist dieser »Sex«, den sie feilbietet, und woran bemisst sich sein Wert? Der Unmöglichkeit einer einfachen Antwort auf diese Fragen liegt die Ambivalenz zugrunde, mit der die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft auf die Prostituierte und ihr Gewerbe blickt. Die Hure ist in den Worten Walter Benjamins »Verkäuferin und Ware in einem«, sie verdinglicht sich zum käuflichen Objekt und bleibt doch unverfügbares Subjekt. Bis in die Debatten der aufgeklärten Gegenwart erscheint sie zugleich als preisgegebenes Opfer und arbeitsscheue Betrügerin, die Prostitution als unverzichtbare Einrichtung und zu bekämpfendes Übel. Wie sehr das auch mit dem bürgerlichen Blick auf Frauen und ihre Körper zu tun hat, der zu jeder Zeit Kontrolle und Voyeurismus, Distanz und Neugier gleichermaßen ist, untersucht Theodora Becker in ihrer Dialektik der Hure und fragt nach der Ambivalenz der sexuellen Ware, die diesen Zuschreibungen und Umgangsweisen zugrunde liegt. Dabei verfolgt sie anhand der Prostitution den Zusammenhang von Subjektivität, Sexualität, Warenform und Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft sowie seine Wandlungen seit dem 19. Jahrhundert und spielt mit der Sehnsucht des Lesers, hinter den Vorhang zu blicken, um einen verstohlenen Blick auf die dort arbeitenden Huren zu erhaschen.
WELT: Wissen Sie jetzt, was Sex ist?
Becker: Vielleicht bin ich etwas weitergekommen, ja. Sex ist jedenfalls gesellschaftlich und individuell ein Störfaktor. Alle diese Fantasien von einer vollständigen Zivilisierung und Integration des Sexuellen gehen nicht auf. Sex moralischen oder ethischen Maßstäben unterordnen zu wollen, wie man es auch teilweise heute in queer-feministischen Bestrebungen sieht, bleibt widersprüchlich. Der Umgang der bürgerlichen Gesellschaft mit der Prostitution zeigt das. In der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung um die Jahrhundertwende war das progressive Bürgertum überzeugt davon, dass die Prostitution ein Relikt aus der Antike sei, das nun mit dem moralischen Fortschritt überwunden werden könnte. Doch das Gegenteil war der Fall. Sie ist zu einer Massenerscheinung geworden. Bei Freud gibt es pessimistische Passagen, dass man sich vielleicht damit anfreunden müsse, dass der Sexualtrieb mit fortschreitender Zivilisation irgendwann verschwinden könnte – das wäre die Perspektive der vollständigen Integration, das Verschwinden der Lust. Ich glaube, dass dieser Störfaktor immer erhalten bleibt. Und dass der Sex in der Prostitution nicht in der Transaktion aufgehen kann.
WELT: Ist das für Sie auch ein Werturteil oder eine reine Beschreibung?
Becker: Beides. Ich würde es in erster Linie deskriptiv verstehen, aber es ist generell auch gut so. Das ist es, was es am Sex wert macht, dass er existiert. Es macht seinen Reiz aus, dass er sich jenseits der Normen bewegt und sich nicht an die Regeln hält, die das Subjekt aufstellt. Er unterliegt nicht im strengen Sinne der Selbstbestimmung.
WELT: Was würden Sie in diesem Sinne zur heutigen Debatte um die Bestimmung von „Einvernehmlichkeit“ sagen?
Becker: Einerseits ist natürlich irgendeine Art von Konsens erforderlich, aber ich denke, dass das sexuelle Begehren nicht vollständig dem Willen des Subjekts unterliegt und es auch das Wesen des Sexuellen ist, dass das Subjekt vorher oder währenddessen nicht immer genau weiß, was es eigentlich will. Häufig stellt sich heraus, dass man Dinge, von denen man dachte, dass man sie nicht will, dann vielleicht doch will. Es gibt keine beliebige Lizenz den Willen zu missachten, aber das Spiel von „ich ziere mich, du verführst mich“ gehört auch dazu. Da gibt es einen sehr schönen Text von Barbara Sichtermann, der das beschreibt. Das Problem wird nicht dadurch gelöst, dass man davor einen Vertrag aufsetzt, wo die Grenzen liegen, weil sie sich, wenn man sich aufeinander einlässt, verschieben werden.
Prostitution ist ein gesellschaftliches Phänomen.
WELT: Sie sind kritisch dem Sex als Selbstverwirklichung gegenüber. Was halten sie von der heutigen Sexpositivität-Bewegung?
Becker: Ich denke, dass der sexpositive Feminismus, der sich als subversiv und antibürgerlich gibt, Sex als gesund und ein Recht auf Sex propagiert, gar nicht so subversiv ist, sondern in gewisser Weise die Fortführung der bürgerlichen Linie. Dadurch wird die alte Idee von Sex als Psychohygiene und Teil des Gesundheitssystems heute fortgesetzt.
In der heutigen Sexarbeit verknüpfen sich der sexpositive Feminismus und der Umstand, dass seit den Siebzigerjahren Sexualität nahezu unbegrenzt vermarktet werden kann. Der Kapitalismus hat einen festen Griff auf das ganze Spektrum von Sextoys, Mode und Sexarbeit. Dann kommt noch dazu, dass die sexuelle Identität ein sehr zentraler Teil der Persönlichkeit geworden ist. Ich würde das damit in Verbindung bringen, dass Selbstverwirklichung auf anderen Gebieten wie der gesellschaftlichen Teilhabe immer weniger möglich ist und man sich immer ohnmächtiger fühlt in der Welt, und so zieht sich die Selbstbestimmung darauf zurück, dass man sich als sexuelles Wesen selbst „definieren“ kann.
WELT: Ist die Klientel von Sexarbeiterinnen diverser geworden?
Becker: Ich kann das nicht empirisch fundiert beantworten. Von meinem Eindruck her würde ich sagen, dass einerseits diese Selbstdarstellung einer gewissen Blase aus Sexpositivität und Sexarbeits-Bewegung und die gesamtgesellschaftliche Realität auseinanderklaffen. Die Kundschaft ist zum großen Teil immer noch männlich und die Prostituierten sind weiblich. Aber im Vergleich zu vor vierzig Jahren ist der Anteil weiblicher Kundschaft und queerer Sexarbeiter zumindest in gewissen großstädtischen Milieus größer geworden, aber nicht so, dass es das hergebrachte Geschlechterverhältnis in der Prostitution grundsätzlich infrage stellen würde.