Philosophische Praxis – Mit Gefühl denken

Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That’s how the light gets in

Es ist eine sehr schöne Idee, eine philosophische Praxis zu eröffnen; eine Praxis, die die manchmal als „vergeistigt“ oder „abgehoben“ eingeschätzten Perlen der Philosophie doch für das erfüllte Leben nutzbar und anwendbar macht. Die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle hat das getan.

Und sie hat wertvolle Bücher dazu geschrieben, z. B. „Mit Gefühl denken“.

Hirnforschung und Psychologie beweisen heute unmissverständlich, was die meisten von uns längst zu wissen glaubten: Menschen sind in erster Linie emotional. Denn Gefühle bilden die Quellen unseres Realitätssinns. Allein durch sie sind wir kraftvoll und lebendig mit der Welt und uns selbst verbunden. So scheint es vielen heute offensichtlich, dass wer sich an diese Einsicht hält und sein Handeln dementsprechend ausrichtet, automatisch im Einklang mit sich selbst stehe. Was braucht es da also noch der philosophischen Belehrung und Anleitung? Heidemarie Bennent-Vahle entfaltet den Gedanken, dass Emotionen keine blinden, irrationalen Kräfte sind, sondern das Elixier des Geistes. Sie sind die Spiegel unserer Urteile über die Fragen des Lebens und bilden zugleich das Fundament aller sozialen Werte – sie sind deshalb vor allem ‚das Herz der Ethik‘. Versucht man das Wirken der Gefühle zu verstehen, so wird unser Nachdenken radikal persönlich. Vor allem aber zeigt sich dann: Aus der Nähe betrachtet geben unsere Emotionen nur äußerst selten eine eindeutige Richtung vor. Wer auf die Weisheit der Gefühle baut und blind aus dem Bauch heraus handelt, agiert deshalb nicht ohne Risiko. So gilt es, Denken und Fühlen nicht länger gegeneinander auszuspielen, sondern in Kommunikation treten zu lassen. Eine zentrale These des Buches besagt: Denken ohne Gefühle ist blutleer und wirkungslos, doch ein Gefühlskult ohne Nachdenken untergräbt das menschliche Miteinander. Es kommt der Autorin deshalb vor allem auf die sozialen Aspekte unseres Gefühlslebens an sowie auf unseren Umgang mit moralisch bedeutsamen Emotionen wie Scham, Wut, Liebe und Empathie. In diesem Sinne ist das Buch ein Plädoyer für eine verbesserte Kultur des Zwischenmenschlichen.

Unsere Gefühle verbinden uns ganz unmittelbar mit dem Leben, erklärt die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle in ihrer ebenso klugen wie hilfreichen philosophischen Auseinandersetzung mit dem Wesen der Gefühle. Denn wenn wir fühlen, dann betrachten wir eine Situation nicht mit Abstand, sondern sind ganz unmittelbar davon ergriffen. Das kann je nach Gefühlslage sehr angenehm sein, aber manchmal auch schmerzhaft oder erschöpfend.
Doch ganz gleich ob wir gerade Liebe und Freude, Wut, Scham oder Trauer fühlen: Unsere Gefühle teilen uns etwas Wesentliches über unsere gegenwärtige Situation mit. Das Fühlen – schreibt Heidemarie Bennent-Vahle – „rückt uns zu Leibe, es versetzt uns in Schwingung, verabreicht uns Stöße und macht uns auf diese Weise eine unmissverständliche Mitteilung darüber, was für uns wichtig ist.“ ( S.11) Die Philosophin erläutert in ihrem Buch einleuchtend, warum wir die Mitteilungen unserer Gefühle ernst nehmen müssen, sie aber gleichzeitig nicht immer eins zu eins in Handlungsimpulse übersetzen dürfen. Denn in vielen Fällen ist es nicht angemessen, mal eben aus dem Bauch heraus zu handeln, weil Gefühle eine eigene Sprache sprechen und zuallererst übersetzt werden wollen.

Bennent-Vahles gedanklich anspruchsvolle und doch immer leicht lesbare Reise durch die Philosophie der Emotionen setzt ihre Leserinnen und Leser auf den neuesten Stand der philosophischen Forschung und gibt ihnen zugleich auch einen tiefgründigen Leitfaden für die Entschlüsselung ihres eigenen Gefühlslebens an die Hand. Die Philosophin erläutert die Bedeutung von Hass und Zorn, Scham und Angst, Hochmut und Stolz, aber auch von Liebe, Freundschaft, Mitgefühl und Verzeihen und zeigt anschaulich, warum wir uns mit all diesen Gefühlslagen auseinandersetzen müssen, um als fühlende Wesen sowohl uns selbst als auch anderen gerecht werden zu können.

Vier wesentliche Aspekte gilt es dabei nach Bennent-Vahle besonders zu beachten:

1. Wir müssen eine innere Haltung der Besonnenheit kultivieren. Ein besonnener Mensch nimmt sowohl die eigenen Gefühle als auch die Gefühle anderer Menschen ernst, weiß aber auch, dass nicht jede Wut und jede Angst angemessen sind und dass es manchmal gerade notwendig ist, sich von den eigenen Gefühlen distanzieren zu können, um einer Situation gerecht zu werden und ein gelingendes Zusammenleben zu ermöglichen.

2. Gefühle übermitteln uns wichtige Botschaften, aber sie geben uns selten klare Handlungsanweisungen. Um die Bedeutung der jeweiligen Gefühle entschlüsseln zu können, brauchen wir den Verstand.

3. Ein kontinuierliches und aufrichtiges Gespräch zwischen Gefühl und Verstand auf Augenhöhe lässt eine andere Dimension von Gefühl ausreifen. Dieses Gefühl zweiter Ordnung hat ein eigenes soziales Bewusstsein; wir nennen es Mitgefühl. Die Fähigkeit auf eine angemessene Art mit anderen zu fühlen, intensiviert nicht nur die eigene Beziehung zur Welt, sondern stärkt und stabilisiert auch unsere sozialen Beziehungen. Besonders erhellend war für mich auch die Unterscheidung der Autorin zwischen Mitleid, Mitempfinden, Gefühlsansteckung und dem ausgereiften Mitgefühl.

4. Da wir alle Menschen und als solche fehlbar sind, gilt es im Gespräch zwischen Gefühl und Verstand auch die Fähigkeit des Verzeihens zu kultivieren. Denn nur das Verzeihen ermöglicht uns, trotz tiefer emotionaler Verletzungen immer wieder neu auf das Leben und aufeinander zuzugehen. Bennent-Vahle nennt das Verzeihen deshalb auch das Herzstück der Ethik. Es ist ein Akt menschlicher Größe, der allerdings, wenn er gelingt, sogleich dadurch belohnt wird, dass er uns von der großen Last unserer eigenen negativen Emotionen befreit: „Gerade dann also, wenn alles in uns gegen Sanftmut und Nachgiebigkeit aufbegehrt, wenn wir grollen, innerlich wüten und toben, uns die Haare raufen, gibt es einen letzten Rückhalt gegen die ungehemmte Intoxikation der Seele.“ (S.258)

Fazit:

Für Bennent-Vahle sind unsere Gefühle das Elixier und die Nahrung des Geistes, ein Denken ohne Gefühle betrachtet sie als ebenso blutleer wie wirkungslos. Doch nur wenn wir das Gefühlsgeschehen besser begreifen, so Bennent-Vahle, sind wir in der Lage, intensiv und gefühlsstark zu leben ohne andere zu verletzen oder selbst zum Opfer zu werden. Ihr Plädoyer für eine Kultur des Mitgefühls und Verzeihens ermutigt dazu, sich mit den eigenen Gefühlen noch einmal neu auseinanderzusetzen und liefert darüber hinaus auch wertvolle Hinweise für alle, die beruflich mit der Bewältigung von Emotionen befasst sind. Dieses Buch ist bildend, erhellend und absolut lesenswert.

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