Parasozialität

Wir sollten wieder Interesse am anderen haben. Und das auch erkennen lassen.

Onlinedating verändert unsere Gesellschaft, sagt Sozialpsychologin Johanna Degen. Im Interview spricht sie darüber, wie wir verlernt haben zu flirten – und warum das nicht nur für Singles ein schlechtes Omen ist.

Frau Degen, in Ihrer Forschung zu Beziehungen spielt die parasoziale Bindung eine große Rolle. Sie selbst können sich ihrem Sog nicht entziehen, sagen sie. Was ist mit Parasozialität gemeint?

Der Begriff der Parasozialität beschreibt ursprünglich die Beziehung, die Fans zu Filmstars oder Sportlern pflegen. Früher hatte man Poster im Zimmer hängen, war vielleicht groupiemäßig unterwegs und ist mit dem Partybus zusammen zu Konzerten gefahren. Das hat sich durch das Digitale stark gewandelt: Wir fühlen uns zwar als große Followerschaft, aber ich kann niemanden aus meiner Community anrufen, wenn ich ein Problem habe. In meiner Gruppenidentität bin ich trotzdem vereinzelt und vereinsamt.

»Wo sind die Menschen?«, durchbrach schließlich der kleine Prinz das Schweigen. »Es ist einsam in der Wüste …« »Es ist auch bei den Menschen einsam«, sagte die Schlange.

Was ist mit Messengerdiensten, wo ich meist mit Freunden kommuniziere?

Wir benutzen Parasozialität als Sammelbegriff: Bei Messengerdiensten etwa haben wir parasoziale Unterhaltungen mit Menschen, die wir meistens kennen. Paare gehen in getrennte Zimmer, um ihren Streit über Whatsapp weiterzuführen, weil es sich sicherer anfühlt. Eine parasoziale Aushandlung von sozialen Situationen haben wir auch über Onlinedating-Plattformen, ob wir dort nun nach Lebenspartnern oder nach Sex suchen.

Johanna Degen ist Sozialpsychologin an der Europa-Universität Flensburg und Paartherapeutin. Sie forscht zu Onlinedating-Verhalten und Social-Media-Nutzung. Von ihren Studierenden wird sie Dr. Tinder genannt.

Wenn das Gegenüber ständig am Smartphone hängt, sprechen wir von „Phubbing“, wenn jemand unsere Whatsapp-Nachrichten ignoriert, werden wir „geghostet“. Wie verändert das unsere zwischenmenschlichen Beziehungen?

Deswegen geht die Onlinedating-Forschung nicht nur Onlinedatende etwas an. Diese etablierten Beziehungsmechanismen reichen weit in die Gesellschaft hinein. Die ständige Unterbrechung durch „Phubbing“ hat negative Auswirkungen auf unsere Familien, Paare und Freundschaften. Über die Akzeptanz von Parasozialität lernen wir auch, dass es in Ordnung ist, wenn ich von jemandem das Leben bezeuge, aber niemand mein Leben bezeugt. Wir können gar nicht überschätzen, was das bedeutet. „Was ich denke, ist niemandem wichtig“ – diesen Eindruck übertragen wir als Selbstverständnis. Medienpädagogen fordern dann oft, Jugendliche oder auch Erwachsene müssen verstehen, dass das nicht echt ist. Aber das haben doch alle verstanden. Niemand hält Pornos für Dokus, niemand rechnet mit echten Freundschaften in den sozialen Medien. Aber unser Unterbewusstsein unterscheidet da nicht: Wir haben keine evolutionäre Schranke im Gehirn, die uns warnt: „Schau dir 40 Story-Updates täglich von diesem Influencer an, aber binde dich bloß nicht emotional.“

Früher, als wir noch nicht diese tollen Geräte hatten, hatten wir bei Gelegenheiten wie diesen direkt miteinander gesprochen und uns nicht Sprachnachrichten zugeschickt.

Wie soll das erst im Metaverse werden?

Darüber weiß die Psychologie bisher noch wenig. Im Prinzip ist schon das Onlinedating-Profil eine Art Avatar: Wir optimieren die Bilder, verpassen uns eine kleine „Beauty-OP“ und bilden damit eine Diskrepanz zu uns selbst. Wenn es zum Offlinetreffen kommt, haben wir Angst, dass die andere Person enttäuscht von uns ist. In den sozialen Medien zeigen wir ein Bild von unserem Leben, das nicht der verkörperten Erinnerung entspricht, sondern dem Bild, mit dem wir leben können. Im Metaverse kann man nun noch mehr mit Identitäten spielen und zum Beispiel andere Pronomen auch körperlich im Avatar ausprobieren. Was das mit dem Selbst macht, kann man noch nicht sagen. Vermutlich werden wir eine noch größere Diskrepanz haben zwischen unserem kuratierten Selbst als Avatar und uns selbst – und noch größere Hemmungen, uns wirklich zu treffen. Andernfalls müssen wir das Gefühl aushalten: „Ich bin enttäuscht von dir, und du bist enttäuscht von mir.“ Das kennen wir schon vom Onlinedating: Es wird lange geschrieben und kommt nie zum Treffen, weil allein die Vorstellung zu bedrohlich wirkt.

Handelt es sich bei parasozialer Interaktion um Suchtverhalten?

Nein. Wir können alle unser Handy aus dem Fenster schmeißen, jetzt und heute, und haben keine gefährlichen Entzugserscheinungen und keinen Schockzustand. Wenn überhaupt, dann ist die Handynutzung suchtähnlich. Das Smartphone ruft uns, wir schauen rein und merken, wir haben wieder nichts gelernt. Parasoziale Beziehungen erweitern dieses Konzept und erklären viel besser, warum wir habituell ins Handy gucken. Wir beruhigen uns mit parasozialen Beziehungen, wo wir sonst einen guten Freund umarmt hätten, oder wir orientieren uns hinsichtlich des Lifestyles, des Berufs oder der Politik. Die sozialen Medien sind das effektivste Marketingtool, was wir je hatten, weil es über Beziehungen funktioniert – nicht nur über Angst oder Sucht.

Sie fordern eine „parasoziale Kompetenz“. Was heißt das genau?

Das ist der Gegenentwurf zum Zeitlimit. Das heißt nicht, dass es nicht für manche gut sein kann, sich ein Zeitlimit zu setzen, aber die parasoziale Kompetenz geht darüber hinaus. Es geht mir nicht darum, die Technik zu verteufeln, sondern darum, dass man die Technik benutzt, um zu leben. Ich suche mir auf einem Foodie-Account vegane Rezepte raus, die ich dann mit meiner WG koche. Oder ich nutze Datingplattformen nicht nur zum Schreiben, sondern dazu, echte Dates auszumachen. Der schädliche Effekt setzt erst ein, wenn ich von der Technik konsumiert werde, wenn ich in den sozialen Medien herumhänge, anstatt joggen zu gehen – also dann, wenn ich Leben opfere für die Technik. Es geht nicht darum, wie lange, sondern in welchem Modus wir soziale Medien nutzen. Es kann auch schon total unglücklich machen, sich „nur“ 20 Minuten lang in den sozialen Medien mit anderen zu vergleichen.

Sie warnen davor, dass wir zum „Rohmaterial der Technik“ werden. Verhalten wir uns nicht selbst wie Maschinen, wenn wir auf Tinder nach links oder rechts wischen – „hot or not“, ja oder nein, 0 oder 1?

Irgendwie schon, ja. Wir versuchen, über eine quantifizierte Logik jemanden zu finden, ganz viele Menschen zu sammeln, ganz viele Daten zu haben. Das führt dazu, dass wir die Begegnung selbst nicht mehr sehen. Wir verpassen die Beziehungsbildung durch die Art, wie wir suchen, und finden alle potentiellen Datingpartner langweilig, weil wir den einzelnen Menschen nicht mehr sehen. Das ist eine Art, zum Rohmaterial der Technik zu werden. Wenn man mit Menschen an ihrem Lebensende redet, hadern einige sehr stark mit verpassten Momenten.

Wenn man mit Menschen an ihrem Lebensende redet, hadern einige sehr stark mit verpassten Momenten.

Niemand sagt: „Es war toll, die ganze Zeit auf dem Foodie-Channel zu scrollen und nie selbst zu kochen.“ Wenn wir die sozialen Medien benutzen, sollten wir das Leben dabei nicht vergessen. Gehen Sie mit Ihren Dates auf die Aussichtsplattform, zu Konzerten oder zum Kanufahren. Selbst wenn Sie dann keinen Partner finden oder keinen Sex haben, haben Sie wenigstens etwas erlebt.

Man kann sich zum Beispiel von seinem date in die VIP-Lounge bei der SAP-Arena-Schlagernacht einladen lassen. Dann hat man zwar keinen Partner gefunden und keinen sex gehabt, aber wenigstens Nino de Angelo erlebt.

Kann Onlinedating dabei helfen, sich Bestätigung zu holen, wenn wir im realen Leben zu schüchtern sind, um jemanden anzusprechen?

Nein, Onlinedating erfüllt keine besonders anerkennende Funktion. Wir fühlen uns als eine Person von vielen, produktförmig bewertet und austauschbar. Wir erleben die Quantifizierung der anderen an uns, wir erleben viel „Ghosting“, Oberflächlichkeit und eine harsche Tonalität. Wir sind ja nicht besonders sanft zueinander in den Chats. In der Regel fühlen sich Menschen dadurch abgewertet. Eine kleine Gruppe von sehr attraktiven Menschen erlebt das vielleicht als weniger schädlich, aber die meisten lernen auf Datingplattformen eher, reihenweise Schluss zu machen und wie es ist, wenn mit ihnen Schluss gemacht wird – eine Übungsplattform für das Verlassenwerden. Beim Kennenlernen in der Bar erfährt man vielleicht Ablehnung, aber man bekommt eine Begründung dazu: „Sorry, ich bin vergeben.“ Beim Schlussmachen ohne Feedback in der Onlinewelt ist es anders. Wenn man mir nicht sagt, woran es liegt, dann fülle ich die Lücke mit einem negativen Narrativ über mich selbst – zu groß, zu pummelig, nicht liebenswert oder was es eben für Sie ist.

Gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen online angebahnten Beziehungen und denen, die sich im realen Leben ergeben – etwa weil die Anekdote vom Kennenlernen und der gemeinsame Freundeskreis wegfallen?

Tatsächlich nicht. Es kann auch Vorteile mit sich bringen, wenn man nicht so viel Historie mit in die Beziehung nimmt. Wenn man im Freundeskreis datet, dann hatte man vielleicht schon was mit dem besten Freund, oder man nimmt zumindest eine gewisse Rolle in diesem Gefüge ein. Das kann eine Belastung sein. Onlinepaare hingegen gehen nur mit der Historie in die Beziehung, die sie wirklich teilen möchten, und mit einer eigenen Interpretation, wie das Kennenlernen gelaufen ist. Viele bewerten das als positiv. Unsere Beziehungskultur ist insgesamt beeinflusst von der parasozialen Ära. Viel daten, unverbindlich sein, performativen Sex statt eine intime Begegnung zu haben – das machen wir nicht nur, wenn wir uns online getroffen haben, sondern ganz generell. Diese Prinzipien reichen in die Gesellschaft hinein. Daher dürfen wir uns auch damit beschäftigen, wie wir es gesamtgesellschaftlich miteinander haben wollen.

Verändert sich durch die scheinbar unbegrenzte Verfügbarkeit von Datingpartnern unser Idealbild von der monogamen Liebe?

Das lässt sich kausal nicht sagen, aber wir sehen schon einen diskursiven Trend zur Polyamorie. Sie ist normativ deutlich weniger verwerflich als früher, in der therapeutischen Praxis wird das auch viel öfter als Lösungsversuch vorgeschlagen. Sicher ist, dass der Spielraum der Tausenden verfügbaren Möglichkeiten etwas damit macht, wie ich meine Beziehung lebe. Alle sind gleich um die Ecke verfügbar und niedrigschwellig erreichbar.

Apps wie Tinder oder Bumble schwächeln, die Nutzerzahlen gehen zurück. Ist das der sogenannte Dating-Burnout?

Diskursiv sehen wir tatsächlich ein Abwenden von Dating-Apps. Viele jüngere Menschen sagen, dass sie es jetzt wieder offline versuchen wollen mit dem Dating – und generell weniger soziale Medien nutzen wollen. Aber sie sagen auch: „Es ist schwierig, und es klappt nicht.“ Eine praktische Veränderung sehe ich noch nicht, auch weil junge Menschen nicht in wahnsinnig großen Zahlen offline zusammenkommen, weniger Sex haben und seltener Beziehungen eingehen. Viele erleben den öffentlichen Raum nicht als besonders flirtfreundlich und hoffen eher auf die nächste App, vielleicht sogar das Metaverse. Ich kann natürlich nicht in die Zukunft gucken, aber aktuell sehe ich eher den nächsten technischen Hype als eine gesellschaftliche Veränderung.

Führt das Onlinedating dazu, dass wir uns im echten Leben nicht mehr trauen?

Ja, das haben wir uns antrainiert. Im öffentlichen Raum scheint es uns zu risikoreich und zu peinlich. Wir haben das Gefühl, die Abweisung nicht aushalten zu können, lieber werden wir reihenweise online abgewiesen. Viele Leute, selbst wenn sie vergeben sind, würden sich aber wünschen, im öffentlichen Raum würde mehr geflirtet werden. Eine Ablehnung muss ja nicht für die ganze Person gelten. Vielleicht passt es gerade nicht, vielleicht ist man verheiratet, aber denkt sich trotzdem: „Total schön, dass er mich angesprochen hat.“ Stattdessen gehen wir auf Partys, sprechen niemanden an und schauen lieber, ob wir die Gäste online finden können und ob sie als Single registriert sind. Bloß kein Risiko eingehen.

In den Vor-smartphone-Zeiten hatten sich die Menschen noch etwas mehr im sozialen Kontakt engagiert.

Ist das nicht nachvollziehbar?

Schon, aber auch dabei können viele Missverständnisse entstehen. Nur weil jemand Single ist, will er nicht unbedingt angesprochen werden und ist nicht immer bereit, Sex zu haben. Die Onlinedating-Ära und die damit einhergehende Erwartungshaltung führen leider dazu, dass viele Leute Dinge tun, die sie eigentlich nicht wollen. Wenn jemand sich als Single kennzeichnet und sich damit als verfügbar definiert, dann erwarten wir auch, dass er verfügbar ist. Ich würde mir mehr Ambivalenz wünschen – und dass wir uns wieder bewusst werden, dass wir jederzeit abbrechen können, wenn wir nicht wollen.

Welchen Rat sollte man beherzigen, wenn man trotzdem online einen Partner finden möchte?

Männer geben sich deutlich weniger Mühe mit ihren Datingprofilen als Frauen. Ganz pragmatisch: Sucht euch jemanden, der ein schönes Bild von euch macht, auf dem ihr freundlich in die Kamera schaut und lacht. Generell sollte man keine platten Ausschlusskriterien in die Profiltexte schreiben. „Ich suche keinen Veganer, ich suche keine Rothaarigen“ – das ist nicht die Ebene, auf der wir uns glücklich verpartnern. Dating darf eine fröhliche Annäherung und ein Ausprobieren sein, kein verkrampfter Prozess. Ob eine Beziehung tragfähig ist oder nicht, entscheidet sich entlang von Werten. Was bedeutet mir Freiheit? Sitze ich gern mit 20 Leuten im Garten, oder brauche ich einsame Momente? Habe ich 16 Bausparverträge, oder gebe ich das Geld lieber aus? Darum geht es eigentlich, aber solche Themen findet man selten in den Profilen. Vor allem sollte man sich beim Onlinedating fragen: „Bin ich gerade in einem Modus, der mir Spaß macht, oder einem Modus, der nur der Technik dient?“

Und sollte ich eher viele oder nur einige wenige Menschen anschreiben?

Wichtig ist, dass man sich traut, etwas zu riskieren. Ein Problem ist, dass wir die Enttäuschung schon antizipieren im Onlinedating – das verhindert oft, dass wir das Gute sehen. Deswegen sage ich: lieber ein paar Leute weniger anschreiben und sich auf eine interessante Person so richtig einlassen, auch wenn es am Ende nicht klappt. Sonst verpasst man am Ende vielleicht denjenigen, mit dem man eine richtige Verbindung hat. Man sollte das Beste erwarten, anstatt das Schlimmste vorwegzunehmen.

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