2,8 Millionen Menschen leiden an einem Onlinedating-Burnout, sagt die Psychologin Wera Aretz. Was das bedeutet und wieso man als Nutzer selbst mit App-Pausen schnell in einen Teufelskreis gerät, erklärt sie im Interview.
Frau Aretz, in englischsprachigen Ländern ist gerade viel von einer „Dating-Fatigue“ die Rede. Sie sprechen stattdessen von einem „Onlinedating-Burnout“. Wieso?
Der Begriff „Burnout“ beschreibt den Zustand, von dem wir beim Onlinedating sprechen, präziser als „Fatigue“. Bei beiden geht es zwar um einen Erschöpfungszustand, aber beim chronischen Fatigue-Syndrom ist die Ursache häufig eine Infektion oder eine andere körperliche Erkrankung und nicht die stressige Situation, in der sich jemand befindet.
Kann man die Erschöpfung beim Swipen denn wirklich mit dem klassischen Burnout in der Arbeitswelt vergleichen?
Ja, ein Burnout ist durch drei Facetten gekennzeichnet. Emotionale Erschöpfung ist das Leitsyndrom. Depersonalisation beziehungsweise Zynismus kommt hinzu: Menschen, die Dating-Apps exzessiv nutzen, berichten, dass sie in einen Zustand geraten, in dem sie wie Roboter durch die Profile swipen und sich nicht mehr auf das Gegenüber einlassen. Die dritte Facette des Burnouts ist die reduzierte Leistungseinschätzung. Betroffene bewerten ihr Engagement und dessen Ergebnisse fast nur noch negativ. Diese drei Facetten, die man aus dem Arbeits-Burnout kennt, decken sich mit den Erfahrungswelten vieler Dating-App-Nutzer.
Von 1181 befragten Nutzern in Ihrer gerade veröffentlichten Studie „Hate to Date?“ zeigten 14 Prozent Burnout-Symptome. Dieser Wert wirkt niedrig, wenn man ihn mit anderen internationalen Umfrageergebnissen vergleicht. In einer weltweiten Befragung der Plattform Bumble vom April unter 6138 Nutzerinnen gaben 70 Prozent der Frauen an, schon einmal ein Onlinedating-Burnout erlebt zu haben. In einer britischen Umfrage der Dating-App Badoo sagten mehr als Dreiviertel der Nutzer, dass sie sich ausgebrannt fühlten. Und eine amerikanische Studie aus dem April 2022 ergab, dass vier von fünf Nutzern schon einmal Symptome gezeigt haben.
Es ist immer die Frage, von wann an man von einem Burnout spricht. Wir haben das erst getan, wenn die befragten Nutzer einen starken Leidensdruck und schwere Symptome hatten. Weil es die erste wissenschaftliche Studie ist, die das Phänomen Dating-Burnout untersucht, haben wir den konservativsten Weg gewählt. Trotzdem sind 14 Prozent nicht wenig. Aktuell nutzen etwa 20 Millionen Deutsche Onlinedating. Das heißt, ungefähr drei Millionen von ihnen sind betroffen. Das ist beachtlich.
Prof. Dr. Wera Aretz forscht seit mehr als zehn Jahren zur Partnersuche im Internet. Sie lehrt an der Hochschule Fresenius in Köln Wirtschaftspsychologie.
Wenn Betroffene ihre Freude am Onlinedating und das Interesse am Gegenüber verlieren, bereiten sie ja auch anderen Nutzern unangenehme Erlebnisse. Heißt das, Dating-Burnout ist ansteckend?
Das kann ich mir sehr gut vorstellen, ja. Aber um das bestätigen zu können, braucht es mehr Langzeitstudien.
Sie haben mit vielen Nutzern gesprochen. Welche Berichte sind Ihnen in Erinnerung geblieben?
Ich stehe mit einer Nutzerin in Kontakt, die auf mehreren Apps aktiv ist, um ihre Chancen zu erhöhen. Sie ist Ende 30 und möchte gerne eine Familie gründen, hat aber das Gefühl: Es klappt nicht, sie lernt nicht den Richtigen kennen. Das knabbert sehr an ihrem Selbstwert. Letztens hatte sie ein Date, auf das sie sich total gefreut hatte. Es war eine absolute Katastrophe, kein Funken, gar nichts, und am Ende war sogar noch unklar, wer bezahlt. Diese Nutzerin hat das Gefühl, sie muss schlechte Erfahrungen durch besonders hohes Engagement wieder ausgleichen. Das bietet dann aber noch mehr Potential für Frustration. Gestern bekam ich wieder eine Sprachnachricht von ihr: Sie saß schon auf dem Fahrrad, als das Date zehn Minuten vorher abgesagt wurde. Sie konnte also wieder umdrehen und sich abschminken.
Wäre es für so jemanden nicht am sinnvollsten, eine App-Pause einzulegen?
Ja, das ist eine sehr empfehlenswerte Strategie. Aber vielen geht es so wie einem Protagonisten, den ich vor Kurzem interviewt habe. Er meldet sich immer wieder von Tinder und Co. ab, hat es aber ohne die Apps noch nie länger als eine Woche ausgehalten, weil seine FOMO, seine Fear of Missing Out, so groß ist. Er malt sich in seiner Offline-Zeit aus: Jetzt hätte ich Hunderte Profile durchswipen können, und vielleicht wäre die Traumfrau dabei gewesen. Das Hauptproblem an der Sache: Jedes Mal, wenn er sich nach ein paar Tagen wieder anmeldet, fühlt er sich energieloser als zuvor. Die Frustrationserfahrungen sind nach so einer kurzen Zeit noch zu präsent, man ist verletzlicher.
Bumble rät auf seiner Website ebenfalls zur Pause, wenn man Burnout-Symptome zeigt: Man solle neben all den Chats und Verabredungen nicht Arbeit, Familie und Freunde aus dem Blick verlieren. Ist das aus Ihrer Sicht ein guter Weg, Verantwortung für das Problem zu übernehmen?
Es ist total wichtig, da Aufklärungsarbeit zu leisten. Es ist aber genauso wichtig, sich mit den Gründen für Dating-Burnout zu beschäftigen. Das Erlebnis auf den Apps ist eintönig: immer das gleiche Swipen; die Profile selbst sind oft lieblos gestaltet; und man trifft, wenn man auf mehreren Apps unterwegs ist, da auch noch auf dieselben Personen. Ich nutze die Plattformen zu Testzwecken und bin immer wieder erstaunt über die Nachrichten, die man dort bekommt: Die können in ihrer Einfallslosigkeit kaum gesteigert werden. Tinder hat einen Algorithmus, der einem eine Zeitlang Vorschläge für Chatbeginne schickte: „Naaa?“ oder „Hey XX, wie geht’s denn so?“ Es ist für alle Seiten ermüdend, wenn sich die Nutzer kaum Gedanken machen, wie sie kommunizieren. Auch die Plattformen selbst sind zu monoton gestaltet.
Und Sie finden, die Apps müssten da eingreifen?
Ich sehe es auch als Aufgabe der Plattformen, dafür zu sorgen, dass sich Nutzer im Sinne des Kategorischen Imperativs so verhalten wie sie selbst behandelt werden möchten. Nehmen wir das Thema Ghosting: Sehr viele Nutzer beklagen sich darüber, dass andere eine vielversprechende Kommunikation plötzlich abbrechen, dass sie ohne Begründung blockiert werden – gleichzeitig ghosten sie selbst. Auf manchen Apps kann man Ghostingerfahrungen schon melden, dann droht dem Ghoster eine kleine „Strafe“. Das ist aus meiner Sicht ein sinnvoller Ansatz.
Das Phänomen des Ghostings sprechen Sie immer wieder an. Wieso ist das ein großes Thema?
Eine Nutzerin hat mir einmal von einem Date erzählt: Sie hatten sich zum Picknicken im Park verabredet. Der Mann sagte: Ich hole schnell Kuchen. Schwupps, war er weg. Er blockierte die Nutzerin auf allen Kanälen, und sie wusste nicht, wieso, konnte ihn aber auch nicht mehr fragen. Ich denke, jeder kann sich vorstellen, warum solche Erfahrungen ein großes Thema sind.
In dem Forum Reddit unterhielten sich letztens Nutzer über ihre Erlebnisse beim Onlinedaten. Einer von ihnen schrieb: „Es fühlt sich ähnlich wie die erfolglose Suche nach einem Job an.“ Ist es ein Warnzeichen, wenn wir das Bemühen um Flirts und Beziehungen mit Arbeit vergleichen?
Auf jeden Fall. Diesen Vergleich ziehen sehr viele. Und der Aufwand ist tatsächlich hoch. Je nach Studie verbringen die Menschen zwischen 30 und 90 Minuten auf den Apps. Wenn man die Leute fragt, wie häufig sie sich am Tag einloggen, antworten viele: zehn bis 20 Mal. Der erste Blick nach dem Aufstehen geht aufs Handy: Habe ich ein neues Match? Der zweite Blick folgt vormittags in einer langweiligen Zoom-Konferenz – und so begleitet einen dieses Thema mehr oder minder aktiv den ganzen Tag.
29 Prozent der Nutzer, die Sie für Ihre Studie befragt haben, sind gar nicht Single, sondern in einer Beziehung. Trotzdem sind auch sie von Dating-Burnout betroffen.
Dieses Ergebnis hat uns überrascht. Aber wenn man darüber nachdenkt: Wieso sollte die Atmosphäre auf den Dating-Apps nur für die Singles ermüdend sein und nicht auch für diejenigen, die lediglich ihren Marktwert testen wollen? Oder sich – während sie noch liiert sind – bereits nach einem neuen Partner umschauen?
Unterscheidet sich die Betroffenheit der Nutzer je nach Geschlecht?
Interessanterweise unterscheidet sie sich laut unseren Daten kaum. Dabei weiß man, dass Männer eher auf der Suche nach Gelegenheitssex sind und Frauen eher eine feste Partnerschaft wollen. Außerdem berichten Männer und Frauen zum Teil von unterschiedlichen Problemen. Die Nachrichten von Männern laufen häufig ins Leere. Frauen beklagen dagegen, dass ihnen unaufgefordert Penisbilder zugeschickt würden. Unterm Strich scheint es aber egal zu sein, um was für Probleme es im Detail geht – das Gefühl der Unzufriedenheit und Erfolglosigkeit ist bei beiden Geschlechtern gleich.
Inwieweit trägt die Tatsache, dass bei digitaler Kommunikation Zwischentöne viel schwerer herauszulesen sind, zur Ermüdung bei?
Wir wissen aus der Medienpsychologie, dass Menschen bei textbasierter Kommunikation versuchen, diese fehlenden Zwischentöne mit eigenen Phantasien und Projektionen zu füllen. Deswegen kommen Verliebtheitsgefühle oft relativ schnell auf. Je länger man sich mit seinen Phantasien in Bezug auf das Gegenüber beschäftigt, desto enttäuschender kann der Sprung in die Realität sein. Deswegen ist es wichtig, sich nach der Anbahnung online möglichst schnell zu treffen.
Wie sehr beeinflusst das eigene Selbstwertgefühl das Risiko zum Dating-Burnout?
Ein niedriges Selbstwertgefühl ist definitiv ein Risikofaktor. Es macht einen vulnerabler, sodass negative Erfahrungen stärker zu Buche schlagen. Wir wissen auch, dass Nutzer von Apps im Durchschnitt ein niedrigeres Selbstwertgefühl haben als Nicht-Nutzer. Doch hier haben wir das Problem der Kausalität: Haben die Nutzer einen geringeren Selbstwert wegen schlechter Erlebnisse beim Onlinedating? Oder sind Menschen mit geringem Selbstwert eher auf den Apps unterwegs, weil sie hier geplanter ihre Selbstdarstellung inszenieren können, mehr Zeit haben und von zu Hause aus kommunizieren können? Wir wissen es nicht. Auch hier fehlt es an Langzeitstudien.
Ihre Forschungen haben auch ergeben, dass man beim Onlinedating auf mehr Personen mit einem ängstlich-vermeidenden Bindungsstil trifft als im realen Leben.
Das ist das andere Thema. Menschen mit diesem Bindungsstil haben auf der einen Seite ein großes Bedürfnis nach Nähe, auf der anderen Seite macht ihnen Intimität Angst. Auch hier wissen wir über die Gründe noch zu wenig. Vielleicht ist die Annäherung über Dating-Apps für Bindungsängstliche einfacher, weil sie sich so peu à peu auf eine andere Person einlassen können? Vielleicht ist die Bindungsängstlichkeit aber auch eine Folge von gefühlter permanenter Ablehnung und wiederholtem Ghosting auf den Plattformen.
Forscher haben herausgefunden: Je mehr Möglichkeiten wir haben, desto schwerer fällt uns eine Entscheidung und desto unzufriedener sind wir später mit der getroffenen Wahl. Das ist ein Fluch, dem wir in der Onlinedating-Welt nicht entkommen können, oder?
Doch, indem wir die Auswahl eigenhändig begrenzen. Ich habe letztens den schönen Satz gehört: Wenn du die Nadel im Heuhaufen suchst, musst du den Heuhaufen abbrennen. Das kann man gut aufs Onlinedating übertragen. Die meisten Nutzer geben sich in ihren Profilen und Nachrichten besonders attraktiv, gefällig und humorvoll, um so viele Matches wie möglich zu erzielen. So haben sie zwar mehr Auswahlmöglichkeiten, aber es geht doch eigentlich darum, diesen einen Kontakt zu finden, der dich als Person versteht. Und das wird womöglich eher etwas, wenn man in seinem Profil auf seine Besonderheiten verweist und ganz klar macht, was man möchte und was nicht.
Bei Ihrer Befragung stellte sich heraus, dass ein Großteil der Nutzer auf mehreren Apps gleichzeitig aktiv ist. Halten Sie das für eine gute Idee?
Ich halte es für eine gute Idee zu überlegen, welche App die geeignete für mich und mein Anliegen ist. In Deutschland gibt es mehr als 2500 verschiedene Dating-Plattformen. Da ist es wichtig, sich mit den eigenen Wünschen auseinanderzusetzen: Was suche ich? Ist mir Bildung wichtig, Religiosität, Alter? Und dann wählt man die passende App aus. Generell würde ich empfehlen, verschiedene Apps eher nacheinander als gleichzeitig zu nutzen.
Sie sagen, Onlinedating sei nichts für schwache Nerven. Wie kann ich mich wappnen?
Es ist wichtig, sich zu begrenzen – in jeglicher Form. Was den Zeitaufwand betrifft, die Anzahl der parallelen Kontakte, der Matches und Plattformen. Dann kann man sich auch ausgiebiger mit den Profilen der anderen befassen und arbeitet sich nicht nur durch optische Stereotype. Bevor man sich in Schale schmeißt für das erste Date, wäre es außerdem sinnvoll, über ein Telefonat, auch per Video, einen weiteren Eindruck vom Gegenüber zu bekommen. So kann man vorfühlen: Schwingen wir überhaupt gemeinsam?
Es gibt viele Paare, die sagen: Über Tinder hätten wir uns nie kennengelernt.
Das ist so. Weil der Partner zum Beispiel auf den ersten Blick nicht dem eigenen Attraktivitätstypus entsprach. Man weiß aus der Forschung, dass Menschen Kriterien – wenn sie leicht vergleichbar sind – überschätzen und sich von Fehlentscheidungen leiten lassen. Die Körpergröße etwa. Da haben viele App-Nutzer ein striktes Limit, dabei ist die Paarzufriedenheit erwiesenermaßen nicht von der Körpergröße abhängig.
Es gibt eine Studie, die Sie zitieren, nach der es durchschnittlich 57 Matches brauche, bis ein Date zustande komme, und nach der jedes fünfte Date zu einer Partnerschaft führe. Das klingt, als gäbe es eine realistische Chance auf die große Liebe.
Naja, man muss dazu sagen: Der Zeitaufwand, um so viele Matches zu bekommen, ist meist enorm. Durchschnittlich dauert es sechs Monate, so einen Partner zu finden. Eine Kollegin von mir rief mich an, nachdem sie meine Studie zu Dating-Burnout gelesen hatte, und sagte: Oh Gott, bin ich froh, dass ich verheiratet bin. Und das kann sie auch sein. Denn man kann zwar gute Erfahrungen beim Onlinedating machen und viel Spaß haben, aber es ist auch ein sehr anstrengendes Business.