Die meisten der psychoanalytischen Theorien zum Narzissmus sind
sehr komplex und häufig nicht leicht zu verstehen; will man die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der klinischen Theorie zur narzisstischen Persönlichkeit des Selbstpsychologen Heinz Kohut (1913 – 1981) und des Objektbeziehungstheoretikers Otto Kernberg (1928) wirklich verstehen, so braucht man Ausdauer und Opferbereitschaft.
Wir können von einer Prävalenzrate der narzisstischen Persönlichkeitsstörung von ca. 1% in der Allgemeinbevölkerung ausgehen. Der Psychiater und Psychoanalytiker Joachim Maaz (2014) meint, heute eine »narzisstische Gesellschaft« ausgemacht zu haben, in der Kinder nicht mehr um ihrer selbst willen
geliebt, sondern nur noch auf Erfolg getrimmt werden, um sich in
dieser Konsum- und Wachstumsgesellschaft rücksichtslos durchsetzen zu können.
Dennoch glaubte ich zu verstehen, dass am Ende aller Wege zurück in die Kindheit eine große Frage steht: Wer hat mich so geliebt, wie ich bin?

Großer sekundärer Narzisst (oben), kleiner primärer Narzisst (unten).
Wir müssen uns also um die Ursachen des aktuellen Verhaltens bemühen, um zu verstehen, warum verhält sich jemand so und welchem Zweck dient dieses Verhalten. Und noch mal Sarah King: »Um das Pathologische des Narzissmus zu erkennen, bedarf es eines Blicks über die geläufigen, dem breiten Volk bekannten Definitionen hinaus und des Einbezugs einer wesentlichen Komponente, die den Narzissmus zu einer Störung macht: die Verletzlichkeit. Morf und Rhodewalt (2001) definieren den Narzissten als einen Menschen mit einem grandiosen, aber verletzbaren Selbstkonzept. Seine Zerbrechlichkeit führt zur drängenden Suche nach permanenter äußerer Selbstbestätigung.«
Der grandiose und der vulnerable Aspekt
Die Gelassenheit, die es ermöglicht, mit der eigenen Verletzlichkeit
souverän umzugehen, hat ihren Ursprung in einer Phase des Lebens, in der selbst-regulatorische Fähigkeiten erlernt werden, um Schwankungen im eigenen Selbstwertgefühl auszugleichen. Das Lernziel des Kleinkindes ist es, nach einer unvermeidbaren Kränkung und Frustration in den eigenen Modus der Selbstwirksamkeit und Selbstkohärenz zurückzukehren. Diese Aufgabe nennen Morf und Rhodewalt (2001) »eine chronische Situation des Selbst-im-Bau-Zustands (self-under-construction)« (S. 178).
»Das Modell unterstellt, dass diese selbst-regulatorischen Prozesse
dazu da sind, ein gewünschtes Selbst aufzubauen oder zu erhalten und um Bedürfnisse nach Selbst-Einschätzung zu erfüllen. Wir argumentieren, dass die darunter liegende narzisstische Selbst-Regulation ein grandioses, aber doch verletzliches Selbstkonzept ist.« (S. 178) Das heißt vereinfacht gesagt: Die basale Verletzlichkeit eines Menschen, dessen zentrale Selbst-Bedürfnisse nach empathischer Spiegelung in der Kindheit nicht ausreichend erfüllt wurden, typischerweise durch elterliche Gleichgültigkeit, Ablehnung oder Vernachlässigung, wird durch die Entwicklung eines grandiosen Selbst überdeckt und garantiert so ein Weiterleben mit Schrammen auf der Seele.
Grandiosität ist das Pflaster für die Seelenwunde.
Da wir uns mit der Dialektik von frühkindlicher Verletzung und der
Konstruktion von Grandiosität in diesem Buch noch häufiger auseinandersetzen müssen, hier schon ein paar Assoziationen dazu:
Die Aspekte der Vulnerabilität: Diese Menschen klagen über geringen Selbstwert, Scheu, Scham, mangelnde Selbstwahrnehmung, chronische Gefühle von Demütigung und Abweisung und reagieren hypersensibel auf Kritik.
Die Aspekte der Grandiosität : Diese Menschen scheinen mit hohem
Selbstwert ausgestattet und leugnen Gefühle von Scham. Wir finden Anspruchsdenken, fehlende Empathie, Neid, grandiose Fantasien. Auch sie reagieren in hohem Maße kränkbar.
Interessant ist, dass die Nutzung und Ausgestaltung dieser kompensatorischen Grandiosität im Selbst-System durch einen seelisch verletzten Menschen in empirischen Studien (Russ et al. 2008), aber auch nach Augenschein in der klinischen Praxis, zu drei Prävalenztypen der NPS führte:
- grandios-maligne
- vulnerabel-fragil und
- exhibitionistisch mit hohem Funktionsniveau.
In anderen Untersuchungen verteilen sich die Subtypen der narzisstischen Phänomenologie auf die Bezeichnungen »offener« und »verdeckter« Narzissmus – eine Beschreibung, auf die ich später zurückkommen möchte.

