Der Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt erforscht, wie Erzählungen unser Denken prägen. Im Gespräch erzählt er, wie eine einfache Lebensstrategie glücklicher macht, warum Robert Habeck der beste Erzähler ist, und welche zwei Dinge Selenskyj jetzt unbedingt tun sollte.
Fritz Breithaupt leitet das Experimental Humanities Lab an der Indiana University in Bloomington in den USA. Mit seinem Team erforscht er narratives Denken, Empathie und Emotionen empirisch. Der Kognitionswissenschaftler und Germanist hat Bücher über die „Kultur der Ausrede“ (2001) und „Die dunklen Seiten der Empathie“ (2017) geschrieben. Wir sprechen mit ihm über seine neuste Veröffentlichung „Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen“.
Fritz Breithaupt: Das narrative Gehirn – Was unsere Neuronen erzählen
Wer in Geschichten verstrickt ist, lebt intensiver – ich erzähle, also bin ich. Doch nicht nur das eigene Leben wird als Narration prägnanter. Mittels Erzählungen gelingt es uns auch, die Erfahrungen eines einzelnen Menschen zu solchen von vielen anderen zu machen. Dazu müssen unsere Gehirne und die Weisen, wie wir Geschichten erzählen, aufeinander abgestimmt sein. Doch wie genau geschieht das? Fritz Breithaupts brillantes Buch unternimmt eine Neubestimmung des Menschen als narratives Wesen, das sich durch Erzählungen in der Welt verankert.
Um dem Denken in Geschichten auf die Spur zu kommen, stützt Breithaupt sich ebenso auf die neuesten Einsichten der Hirnforschung und faszinierende Experimente mit Nacherzählungen im Stille-Post-Verfahren mit Tausenden von Versuchsteilnehmern wie auf die Analyse von Serien, Romanen, Grimm’schen Märchen und alltäglichem Büroklatsch. Narratives Denken, so zeigt sich, wird stets mit spezifischen Emotionen belohnt, und das heißt: Wir leben, wie wir leben, weil wir diesen Belohnungsmustern folgen. In Narrationen kann darüber hinaus aber auch immer alles anders kommen, und ebendies erlaubt uns den Aufbruch zu neuen Ufern.
WELT: Sie betonen, dass Ihr Buch kein Selbsthilferatgeber ist. Trotzdem findet man darin den Satz: „Narratives Denken kann glücklich machen.“ Was meinen Sie damit?
Fritz Breithaupt: Narrationen erlauben uns, Dinge zu Ende zu denken. Wenn wir es schaffen, etwas anzufangen und damit wieder aufzuhören, geht es uns besser. Ich glaube, dass es sehr viel mit Glück zu tun hat, wenn man sich nicht verzettelt und verfranzt. Außerdem erlauben es uns Narrationen, in die Welten anderer Personen einzutauchen. Unser eigenes Leben wird reicher, wenn es mit anderen Menschen verwoben wird, und das ist ein Aspekt von Glück.
WELT: Plaudernde Menschen sind also glücklicher?
Breithaupt: Klatsch und Tratsch hält uns als Lebewesen zusammen. Der Anthropologe Robin Dunbar hat schon vor dreißig Jahren behauptet, dass in der Evolution der Menschenaffen etwas Spannendes passiert ist: Das soziale Geschäft der Menschenaffen war immer das Lausen und Kraulen.
Der Sprung zu den Menschen bestand darin, dass wir uns nicht mehr lausen, sondern Klatsch und Tratsch betreiben, der uns zusammenschweißt. Nur, dass hier größere Gruppen zusammenkommen. Insofern sollte man das Erzählen unbedingt pflegen und fordern, ob es auf dem Hinterhof, auf dem Markt oder in der Kneipe ist. Es ist etwas Gutes.
Fritz Breithaupt – Kultur der Ausrede
Warum erzählen Menschen? Wie haben sie Erzählen gelernt? Welche kulturellen Leistungen sind mit dem Erzählen verbunden? Und was ist Erzählen überhaupt? Auf diese Fragen gibt Fritz Breithaupt eine verblüffende Antwort. Erzählen erlaubt es, Ausreden vorzutragen. Wer eine Ausrede hat, kann den Kopf aus der Schlinge ziehen. Das Wesen der Ausrede besteht darin, neue, meist komplexere Beschreibungen für bereits beurteilte Handlungen zu liefern. In der ersten Ausrede der Menschheitsgeschichte bekennt Adam zwar, daß er den Apfel aß, bestreitet aber seine Verantwortung, da Eva ihm die Tat eingeflüstert habe. Beginnend mit dieser Urszene, verfolgt das Buch die ineinander verschlungenen Pfade von juristischer Verantwortung und Literatur und zieht dabei auch evolutionsbiologische Erkenntnisse heran.
WELT: Besonders Geschichten über Hochstapler erfahren gerade einen Boom. Verfilmungen über Felix Krull, Anna Sorokin, Elizabeth Holmes und den Tinderschwindler faszinieren die ganze Welt. Ist es gut, wenn wir uns die Welt so machen, wie sie uns gefällt?
Breithaupt: Es ist nicht schlecht, dass wir es können. Natürlich gibt es Grenzen. Felix Krull schafft es aber, den anderen Menschen eine Welt der Oberklasse vorzuspiegeln, die diese angenehm finden. Wenn man anderen dieses Angebot zum Eintauchen macht, fühlen sie sich gut aufgehoben. Geschichten sind insofern immer eine Hochstapelei, eine Manipulation. Aber sie erlauben uns Ordnung ins Leben zu bringen. Das müssen wir kultivieren.
Der Weg ist nicht, zu sagen: Nein, da steigen wir aus, da machen wir nicht mit. Sondern wir müssen einen kultivierten Umgang mit dem Erzählen pflegen und uns überlegen, welche Narrative uns guttun und welche nicht – auch auf lange Sicht.
Fritz Breithaupt -Die dunklen Seiten der Empathie
Empathie gilt als Grundlage moralischen Handelns – und damit selbst als gut. Sieht man aber genauer hin, erweist sich die Fähigkeit, »sich in andere Menschen hineinzuversetzen«, auch als Voraussetzung für gezielte Erniedrigungen und Grausamkeiten. Zudem hat selbst das wohlmeinende Mitgefühl zahlreiche unbeabsichtigte Konsequenzen. Aus diesen Gründen sind es gerade die dunklen, bisher verdrängten Aspekte der Empathie, die auf dem Weg zu einer besseren Gesellschaft in den Blick genommen werden müssen. Fritz Breithaupt lädt seine Leser dazu ein, diese Seiten zu bedenken oder gar an sich selbst zu entdecken, und führt uns dabei von Narzissmus und Nietzsche bis zu den Helikopter-Eltern und Angela Merkels Flüchtlingspolitik.
WELT: Die andere Gefahr, zu der narratives Denken neigt, ist die Vernachlässigung von Fakten zugunsten von wissenschaftlich unhaltbaren Verschwörungstheorien.
Breithaupt: Verschwörungstheorien sind ungeheuer attraktiv, weil sie klare Täter- und Opferpositionen zuweisen. Sie schaffen Ordnungsmuster: Wer tut etwas, wer erleidet etwas? Auf der Seite der informierten Politik gibt es hinsichtlich der Corona-Pandemie keine starken Narrative. Im Labor haben wir versucht, zu untersuchen, wie ein Corona-Narrativ entsteht. Jeden Monat haben wir hunderte Versuchsteilnehmer gebeten, uns Geschichten über Corona zu erzählen. Interessanterweise hat sich jedoch kein Narrativ durchgesetzt. Die Geschichten wurden immer langweiliger.
WELT: Verschwörungstheoretiker erzählen also die besseren Geschichten?
Breithaupt: Nur die Verschwörungstheorien haben zu Corona große Narrative entwickelt. Sie benennen die Position des Bösewichts und das macht immer eine tolle Erzählung aus. Solche Geschichten bleiben hängen. Auszubrechen ist schwierig, weil man von Verschwörungstheorien ständig bestätigt wird. Das macht süchtig.
WELT: Wie unterscheidet man nützliche von gefährlichen Narrationen?
Breithaupt: Narrative erschweren es einem, diese Grenze genau zu ziehen, weil sie so emotional überzeugend sind. Lange dachte man, dass Kommunikation einen Ausweg aus der Verschwörungstheorie bietet. Das funktioniert in den heutigen Echoräumen jedoch nicht mehr. Zwei Dinge machen mir allerdings Hoffnung.
WELT: Welche?
Breithaupt: Erstens haben auch Verschwörungstheorien eine Halbwertszeit. Irgendwann wollen die Menschen auch diese Geschichten zu einem Ende bringen. Zweitens enthalten Narrationen immer auch die Möglichkeit, dass alles auch anders sein könnte. Viele Fernsehserien zeigen das. Ich nenne das „Multiversionalität“ des Denkens. Diese Kraft unterminiert die ein oder andere Verschwörungstheorie von innen. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Erzählung.
WELT: Putin bietet zum Krieg auch eine alternative Erzählung an: Für ihn ist es kein Krieg, sondern eine „Spezialoperation“.
Breithaupt: Putin und Russland haben sehr starke Narrative auf ihrer Seite. Sie wärmen das alte Großrussland auf und legen nahe, dass Russland unter der Verkleinerung leidet. Man vermenschlicht das Land also, gibt ihm einen Körper. Dazu kommt die Furcht vor Veränderung, die Furcht vor dem Westen, der das Rennen auf technologischer Ebene gewonnen hat.
Dass Putin nicht aufgibt, sondern sich aktiv zeigt, ist ein starkes Narrativ für viele Russen. Aber es hat seine Tücken, weil zu viele eigene Soldaten sterben, sodass die russische Bevölkerung kleiner wird, auch wenn das Territorium wächst.
WELT: Funktioniert Selenskyjs Narrativ für die Ukraine besser?
Breithaupt: Selenskyj erstes Narrativ war ein Heldennarrativ, das des Davids, der gegen Goliath aufbegehrt, der mutig ist und nicht abhaut. Wenn Selenskyj nicht gesagt hätte „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“ wäre die Begeisterung und Solidarität von westlicher Seite nicht zustande gekommen. Das Problem dieses Narratives ist jedoch, dass es in Triumph enden müsste. Selenskyj müsste als Sieger durch den Donbass ziehen. Das erscheint mir aber wenig wahrscheinlich.
Eigentlich brauchen wir jetzt also andere Narrative, das aktuelle scheint festgefahren. Man kommt aus der jetzigen Situation nicht heraus, außer eine Seite gewinnt. Wenn Russland etwa sagt: „Der Donbass ist alles, was wir wollten. Wir hören auf.“ Dann muss man sehen, was die Ukraine und der Westen dazu sagen. Sie müssten zu einem Angriffskrieg übergehen und das wird schwierig. Ich frage mich also: Was wird das Nachfolgenarrativ von Selenskyj?
WELT: Wozu würden Sie ihm raten?
Breithaupt: Erstens muss er unbedingt einen möglichen Nachfolger aufbauen. Es ist zwar hart, seinen eigenen Tod einzuplanen, aber der Mensch steht unter ungeheurer Lebensgefahr. Russland würde sehr profitieren, wenn sie ihn ermorden könnten. Denn es gibt kein bekanntes Gesicht, niemanden, der im Hintergrund steht. Mit Selenskyj steht und fällt das Ganze.
WELT: Und zweitens?
Breithaupt: Die andere Gefahr ist, dass er irgendwann als Quengler dastehen könnte. Schließlich fordert er ständig mehr Waffen und Geld ein. Bisher hat er diesen Grat gut gemeistert; viele vertreten die Auffassung, dass seine Forderungen legitim sind und er recht hat. Aber irgendwann könnte der Zeitpunkt kommen, wo die Menschen denken: Der nörgelt ja schon wieder.
Was kann Selenskyj also tun? Er muss anfangen, auf Zukunftsnarrative zu setzen. Er muss sich vom Kriegs- und Triumphnarrativ abkoppeln und anfangen, auf ein Aufbau- und Visionsnarrativ umzusteigen. Er muss sagen: Weil in der Ukraine alles flach ist, könnten wir mit dem 21. Jahrhundert erst richtig anfangen, da könnten wir etwas ganz Neues aufbauen, an dem alle beteiligt sind. Sodass man denkt: Das ist nicht nur ein Wiederaufbau, sondern auch eine Neuentdeckung der Welt.
WELT: Welche Narrative gibt es für Deutschland?
Breithaupt: Einerseits habe ich mich gefreut, wie solidarisch sich Deutschland mit der Ukraine gezeigt hat, andererseits war ich überrascht, wie zögerlich Deutschland anfangs bei der Waffenlieferung war. Da war Deutschland lange Zeit der Klotz am Bein. Aus deutscher Sicht besteht ein großer Druck, dass Deutschland jetzt eine positive Führungsposition einnimmt, und nicht nur als Zehnter sagt: Ok, jetzt liefern wir auch ein paar Stahlhelme. Da hinkt Deutschland sehr hinterher.
WELT: In welcher Sache sollte Deutschland jetzt eine Führungsposition einnehmen und sich eine Vorreiterrolle sichern?
Breithaupt: Zukunftsvisionen! Wer sich fragt, welche Länder in der Geschichte große Wiederaufbauleistung erbringen oder mit einer Teilung des Landes umgehen mussten, kommt schnell auf Deutschland. Deutschland könnte jetzt anfangen, große Konzepte für den Wiederaufbau der Ukraine zu erstellen. Solch eine Tabula Rasa ist eine historisch seltene Situation und könnte positive Energien freisetzen.
WELT: Ist es ein Problem, dass Olaf Scholz keine Narrative entwickelt?
Breithaupt: Er hat keine Narrative, aber das ist nicht immer falsch. Angela Merkel hatte auch wenige Narrative. Im Nachhinein sehen wir die großen Narrative von Angela Merkel, aber bevor wir sie mit der Flüchtlings- und Griechenlandpolitik verbunden haben, gab es den Ausdruck „merkeln“, weil sie sich nicht festlegen wollte. Scholz ist nicht lange im Amt. Ein bisschen Geduld müssen wir schon noch haben. Aber bisher hat er keine überzeugenden Narrative geliefert.
WELT: Gibt es deutsche Politiker, die darin besser sind?
Breithaupt: Der große Erzähler unter den deutschen Politikern ist Robert Habeck. Er ist deshalb so überzeugend, weil er nicht nur eine Position vorgibt, sondern abwägt. Er sagt, welche Sachzwänge und Spannungen bestehen, und wie er versucht, zu einer Entscheidung zu kommen. Er erlaubt es, an einem Prozess der Meinungsbildung teilzunehmen.
WELT: Was meinen Sie, wenn Sie von einem „Auszug aus der narrativen Unmündigkeit“ sprechen?
Breithaupt: Wir kommen aus dem narrativen Denken nicht heraus. Wir müssen aber lernen, bessere Geschichten zu erzählen und auch die Geschichten der anderen mitzudenken. Plötzlich sieht man: Ich bin nicht nur Opfer, sondern ich manipuliere auch. Man kann plötzlich eine andere Geschichte erkennen. Der Ausweg ist nicht, vom Narrativen wegzulaufen, sondern es noch einmal eine Runde zu steigern.
WELT: Das Beharren auf der eigenen Identität bezeichnen Sie hingegen als Pathologie.
Breithaupt: Das Festgeschriebensein auf die eigene Identität halte ich für sehr problematisch. Wie gehen wir mit Identitäten um? Ich plädiere für einen spielerischen Umgang mit uns als Figuren in Geschichten. Wenn wir uns als narrative Wesen begreifen, sehen wir, dass wir in unterschiedliche Narrative verwickelt werden können. Eine Festschreibung wird kritisch, weil sie das Handlungspotenzial einschränkt.
WELT: Ein großer Teil der linken Identitätspolitik beruht heute jedoch darauf, sich selbst auf eine Rolle, meist die als Opfer, festzuschreiben.
Breithaupt: Ich stehe einer jeden Identitätspolitik gegenüber skeptisch, egal ob rechts oder links. Wer zum Opfer geworden ist, muss sich aber natürlich wehren dürfen. Dazu gehört die Selbstdefinition. Ich denke hier etwa an die koloniale Ausbeutung von Menschen, die aus der Fremdbestimmung auszubrechen versuchen.
Ich würde aber allen Menschen, die auf ihren Identitäten bestehen, wünschen, dass sie das mit einer gewissen Leichtigkeit tun und schmunzelnd zu wissen, das auch alles anders sein könnte. Ich würde ihnen wünschen, dass sie daraus nicht immer einen Rechtsanspruch erheben, dass sie die einzigen sind, die die Bedeutsamkeit ihrer Geschichte festlegen und ermessen können. Niemand kann die eigene Geschichte vollständig beherrschen.
WELT: In Ihrem Digital Humanities Lab erforschen Sie anhand von Stille-Post-Experimenten, wie Geschichten weitererzählt werden. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Breithaupt: Bislang wurde die These vertreten, dass beim Weitererzählen die meisten Informationen wegfallen bis auf den kausalen Kern – also warum etwas passiert, weshalb Leute etwas machen. In unseren Experimenten kam jedoch heraus, dass die Leute Emotionen sehr genau weitergaben, also zum Beispiel den Grad der Überraschung. Aber was genau überraschend war, der Inhalt, konnte variieren. Ein besonders interessanter Forschungsgegenstand sind Märchen, weil diese immer wieder nacherzählt, also optimiert wurden. Im Fall der Grimmschen Märchen wurde damit sogar etwas Neues erfunden.
WELT: Was ist das Neue?
Breithaupt: Das Narrativ, in dem die Verwundbarsten, also die Ausgesetzten, Waisen und unschuldigen Tiere, immer die Gewinner sind. Die Erwartung, dass die Verwundbarkeit etwas Gutes ist und dass sie gewinnen wird, ist das große Erbe der Märchen für unsere heutige Zeit. Das hat unsere Welt vorwärtsgebracht, zu Bewegungen der Gleichberechtigung und zur Abschaffung der Sklaverei beigetragen. Das Erbe der Grimms ist, dass Verwundbarkeit für uns zur Tugend wurde.
Das kann allerdings in der Gegenwart dazu führen, dass man schon deshalb recht hat, weil man sich verwundbar zeigt. Das heißt, auch Donald Trump kann plötzlich den Verwundbaren spielen und sagen „Ich bin ein weißer Mann, ich leide unter der Übermacht der Feministinnen. Ich bin ein Opfer“. So könnte auch er dieses Leidensnarrativ besetzen. Ähnlich wie Putin, der mit Cancel Culture argumentiert hat. Beide ermöglichen es ihren Wählern, sich als Opfer zu fühlen und somit zu den Gewinnern zu gehören.
WELT: Sie streuen in Ihrem Buch zwischen die theoretischen Überlegungen und empirischen Forschungen selbst viele persönliche Anekdoten ein.
Breithaupt: Ja, das ist Programm. Es ist für unsere kognitiven Fähigkeiten enorm wichtig, zu erzählen – das wissen auch Lehrer. Wir brauchen Geschichten, damit uns die Dinge im Gedächtnis bleiben.
WELT: Haben Sie eine abschließende persönliche Geschichte, die uns im Gedächtnis bleiben soll?
Breithaupt: Als ich zehn Jahre alt war, ist mein Vater [Anmerkung der Redaktion: der Diplomat und Völkerrechtler Friedrich C. Breithaupt] gestorben. Wir dachten damals, er sei verunglückt. Inzwischen wissen wir, dass er vom KGB ermordet wurde. Das habe ich erst durch die Aufzeichnungen meiner kürzlich verstorbenen Mutter erfahren. Was mir auch erst nach ihrem Tod klar geworden ist: Sie hatte meinen Vater in ihrem Kopf so verinnerlicht, dass sie nach seinem Tod 1977 nicht wieder heiratete, aber immer zufrieden war und viel Zeit allein verbrachte.
Sie hatte sich eine neue Heiterkeit aufgebaut, weil sie nicht nur an meinen Vater dachte, sondern auch weiter mit ihm kommunizierte. Für sie war die Fähigkeit des narrativen Denkens, Vorstellens und Verlebendigens nicht nur therapeutisch, sondern auch eine Lebenskunst.