Politische Psychoanalyse

Der Borderline-Mensch ist nicht neurotisch wie seine Väter. Er kennt keine Schuldgefühle und hat keinerlei Sinn für die Zukunft. Er lebt nur in der Gegenwart und in seinem eigenen Handeln. Analog zu dieser individuellen Funktionsweise kann man beobachten, dass in der postmodernen Borderline-Gesellschaft ein Übergang von „Alles ist erlaubt“ zu „Alles ist möglich“ stattfindet.

Steht Russland tatsächlich hinter dem Feldzug seines Präsidenten? Und wenn ja: Wie lässt sich diese fatale Beziehung erklären? Der Psychiater Marc Hayat findet die Muster bei Freud und Hitler – und weiß, was dem Westen davon fehlt.

In seinem Buch „Du névrosé d‘antan à l‘homme limite d‘aujourd‘hui“ („Vom Neurotiker von einst zum Borderline-Menschen von heute“) schreibt der französische Psychiater und Psychoanalytiker Marc Hayat eine Geschichte der Psychosen. Im Gespräch analysiert er die Beziehung zwischen dem russischen Präsidenten und seinem Volk. Als eine sehr enge Verbindung, die seiner Ansicht nach den heutigen Demokratien fehlt.

WELT: Was ist ein Borderline-Mensch?

Marc Hayat: Der Borderline-Mensch ist nicht neurotisch wie seine Väter. Er kennt keine Schuldgefühle und hat keinerlei Sinn für die Zukunft. Er lebt nur in der Gegenwart und in seinem eigenen Handeln. Analog zu dieser individuellen Funktionsweise kann man beobachten, dass in der postmodernen Borderline-Gesellschaft ein Übergang von „Alles ist erlaubt“ zu „Alles ist möglich“ stattfindet.

WELT: Funktioniert die heutige Welt auf eine schizophrene Weise?

Hayat: In einigen Teilen der Welt, ja, in gewissem Maße. Analog zu dem, was wir an der Schizophrenie beobachten, würde ich das Konzept der „Anti-Zivilisation“ vorschlagen, vergleichbar mit dem „Anti-Ödipus“. Es ist die gleiche Kraft, die Mutter und Kind in einer gegenseitigen narzisstischen Anziehung verbindet und jeden Dritten aus dieser Beziehung ausschließt.

WELT: Inwiefern lässt sich dieser Vergleich auf Wladimir Putins Russland übertragen?

Hayat: Wladimir Putin verbindet sich in so einer reziproken narzisstischen Anziehung mit dem russischen Volk. Er spricht von der russischen Identität, der großen Geschichte Großrusslands, von seinem Sieg über Nazi-Deutschland, der mit so vielen Toten, Leid und Gräueltaten bezahlt wurde. Er hat die eigentlichen Institutionen verschwinden lassen, die Duma ist nur noch ein Schattenparlament. Und er lässt keinen Dritten in dieser Beziehung zu seinem Volk zu. So entsteht so etwas wie ein Gefühl der Verfolgung, einer belagerten Festung. Gemeinsame Geheimnisse werden zur Regel. Mehr noch: Die Wahrheit wird zum Tabu. Es ist genau dieses Tabu der Wahrheit, das die „Anti-Ödipus“-Funktion regelt. Russland hat eine lange Erfahrung mit Propaganda und Lügen und ist an Geheimhaltung gewöhnt.

WELT: Kann man Putin mit Hitler vergleichen?

Hayat: Sie haben einiges gemeinsam. Im Nationalsozialismus hat Hitler ebenfalls Institutionen aufgelöst und Vermittler, wie das Parlament, verschwinden lassen, um sie durch Organisationen und Männergruppen zu ersetzen, wie die SA und die SS, deren einziges Ziel es war, ihrem Führer zu gehorchen. Es ist diese Zwiebelschalenstruktur, die Hannah Arendt beschrieben hat und die man in allen totalitären Regimen wiederfindet. Wladimir Putin tut genau dasselbe. Wenn er davon spricht, dass er die Ukraine „entnazifizieren“ will, dann denkt er an Hitler. Die Ukraine ist seine Obsession. Dabei ist der historische Kontext jedoch ein ganz anderer. Die Shoah hat stattgefunden, dafür gibt es Beweise und Zeugenaussagen. Wir wissen also, dass das Schlimmste wirklich passiert ist.

Deshalb müssen wir auch wieder in der Lage sein, das Schlimme wiederzuerkennen, wenn es wieder auftaucht – und es bekämpfen. Wie können wir die Haltung und die psychische Reaktion der heutigen zivilisierten Welt verstehen, angesichts der Gräueltaten der russischen Armee in Tschetschenien, Syrien und nun in der Ukraine? Vielleicht haben wir ja hier den wahren Borderline-Menschen: Er sieht, er weiß, aber er wundert sich über gar nichts, er echauffiert sich nur pro forma, er fügt sich einfach und begehrt nicht mehr auf.

WELT: Dieser Borderline-Mensch, wie Sie ihn nennen – ist er einfach nur passiver oder ist er auch resistenter gegen die Diktatur?

Hayat: Schwer zu sagen. Vielleicht ist er sogar beides. Hinter seiner scheinbaren Passivität spürt er Wut, seine Gefühle brodeln. Die schwache Wahlbeteiligung in Frankreich war für mich dafür ein deutliches Zeichen. In unserer postmodernen Welt machen wir keinen Unterschied mehr zwischen Transparenz und Klarheit. Dabei handelt es sich um verschiedene Begriffe: Die Transparenz meidet die Klarheit. Aufgrund der sozialen Medien gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem psychischen Leben im Inneren und der Realität der äußeren Welt. Jeder stellt sein Leben öffentlich dar, was er isst, was er sieht, was er denkt.

Wir leben heute in einer transparenten Welt. In dieser Welt wird die Lüge zur Wahrheit. Siehe Donald Trump. Die sozialen Medien bringen etwas in historischer Hinsicht völlig Neues mit sich: Sie überschreiten tatsächlich Grenzen. Ob das nun dabei helfen wird, das psychische Verhalten derjenigen zu mobilisieren, die sich unter dem Einfluss Wladimir Putins befinden? Leider reicht die Vernunft als Gegensatz zum schizophrenen Handeln im Einzelfall nie aus, um das Tabu der Wahrheit zu überwinden.

Und leider vermissen wir eine so starke Beziehung zwischen einem Regierungschef und seinem Volk in den heutigen Demokratien auf schmerzliche Weise. Die europäischen Staatsmänner sollten zu den Europäern genauso über Geschichte reden, wie Wladimir Putin mit den Russen über Geschichte spricht. Wir müssen die Geschichte Europas erzählen!

Auf diesem Kontinent lebt der Westen seit über siebzig Jahren in Frieden. Die sogenannte Boomer-Generation, die man heute so sehr kritisiert, hat gute Arbeit geleistet. Sie hat eine enorme Kreativität bewiesen, um dieses Ziel zu erreichen. Aber den Verantwortlichen der europäischen Demokratien fehlt der Bezug zur Geschichte. Und genau darauf basiert der Erfolg der Populisten und Extremisten aller Art und die Abkehr von demokratischen Idealen.

WELT: Ist das auch in Frankreich der Fall?

Hayat: Es ist inakzeptabel, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärt: Es gibt keine französische Identität. Damit sagt er jedem einzelnen Franzosen: Du existierst nicht. Kein Wunder, wenn das nicht wenige Franzosen wütend macht. Macron erzählt den Franzosen zwar von der europäischen Geschichte, aber trocken und technokratisch, als Geschichte des Euro. Damit schürt er die Ressentiments gegenüber der Politik und damit auch gegen sich selbst.

Charles de Gaulle und François Mitterand wurden respektiert, weil sie der Geschichte verbunden geblieben waren. Je weiter sich die Geburtsdaten der europäischen Regierungschefs vom Ende des Zweiten Weltkriegs entfernen, desto weniger Respekt nötigen sie den Menschen mit ihren Erzählungen ab. Aber noch ist nicht alles verloren: Wir erleben gerade einen Moment des Umbruchs. Wladimir Putin ist eben auch dabei, gegen sich ein vereintes Europa von morgen zu erschaffen, ein wahres politisches Europa.

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