Nachsicht und Wut

Wer wird denn da in die Luft gehen: Nachsicht auch und gerade im Straßenverkehr ist gut – vor allem wenn wie hier keine böse Intention vorliegt.

Wird unsere Gesellschaft immer unnachsichtiger? Im Interview spricht Psychotherapeut Sina Haghiri über die oft mangelnde Bereitschaft, sich in andere hinein­zu­versetzen, fehlende Empathie und warum auch Wut gesund für die Psyche ist.

Psychotherapeut, Autor, Dozent: Sina ­Haghiri, Jahrgang 1987

Herr Haghiri, „Mit Nachsicht“ heißt Ihr gerade erschienenes Buch. Nachsicht – welch schönes Wort eigentlich!

Ich hatte auch das Gefühl, dass das Wort Nachsicht nicht so besetzt ist. Dass es als Begriff bei uns irgendwie hinten runter­gefallen ist. Es scheint mir aktuell eine gute Zeit, ihn aus der Vergessenheit zu holen.

Wie füllen Sie Nachsicht wieder mit ­Leben?

Die Definition von Nachsicht ist zunächst, ein Verständnis zu haben für die Schwäche des Menschen, für dessen Fehlbarkeit. Bei uns selbst und bei anderen. Ich habe während des Schreibprozesses viele Leute gefragt: Wenn du eine Bühne bespielen dürftest – wie würdest du Nachsicht inszenieren? Da kamen sehr unterschiedliche Ansätze heraus. Ich selbst habe zu Nachsicht als Erstes dieses Bild vor Augen: Ein Kind hat beim Spielen etwas kaputtgemacht, aber ohne es recht zu bemerken, sodass es gar nicht weiß, was es getan hat; dann sehe ich eine erwachsene Person, die dies nicht persönlich nimmt, sondern ­gelassen damit umgeht, weil sie keine böse Intention bei dem Kind vermutet.

Also mehr Empathie wagen?

Ja, auch. Ohne Empathie keine Nachsicht. In der Psychologie definieren wir Empathie als die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich in andere hineinzuversetzen. Empathisch zu sein sagt aber noch nichts darüber aus, wie man sich der anderen Person gegenüber verhält beziehungsweise welches Urteil man über sie fällt. Man kann sich in jemanden hineinversetzen, aber dennoch unnachgiebig sein und demjenigen Böses unterstellen. Nachsicht geht einen Schritt weiter: Es heißt, ein mildes Urteil über die Intention des Gegenübers und auch die eigene zu treffen. Davon auszugehen, dass die Person einen Fehler ­gemacht hat aus Unwissenheit oder Überforderung, aber nicht aus böser Absicht heraus.

Ob real oder im digitalen Raum – viele Menschen wirken aber misstrauischer, dünnhäutiger, reizbarer.

Ich teile diesen Eindruck. Aus dem, was medial transportiert wird, was ich alltags erlebe und aus den Gesprächen mit meinen Patienten. Daraus sollten wir die Fragen ableiten: Was passiert da? Werden wir generell weniger empathisch? Ich glaube, dass sich in unserer Gesellschaft die ­Fähigkeit und die Bereitschaft, sich in andere hineinzuversetzen, nicht in die gleiche Richtung entwickeln.

Inwiefern?

Die Fähigkeit wird tendenziell sogar stärker. Das sieht man daran, wie omnipräsent psychologische Inhalte mittlerweile sind. Medial und in anderen Bereichen konsumieren die Leute – jedweden Alters übrigens – psychologische Inhalte. Die Bereitschaft, dies dann auch auf andere anzuwenden, wird aber eher geringer. Wir werden also nicht weniger empathisch, aber weniger nachsichtig.

Welche Erklärungsansätze gibt es dafür?

Es ist ein komplexes Zusammenspiel von Ursachen. So wie psychische Erkrankungen meist nicht von einem einzelnen ­Erlebnis oder Ereignis herrühren, sondern verschiedene Faktoren haben: genetische, wie wir aufgewachsen sind, was wir über uns und die Welt gelernt haben, wie wir aktuell belastet sind. Dazu kommt unser Selbst- und Menschenbild. Unsere aktuelle Lebensumwelt erschwert es uns aber ­offensichtlich, Nachsicht zu entwickeln.

Das Misstrauen gegenüber der Politik, dass sie nicht das Richtige tut, gegenüber der Gesellschaft, dass sie nicht zusammenhält, oder schlicht gegenüber dem ­Unbekannten ist nicht in uns angelegt, sondern erlernt?

Wir sind biologisch und genetisch nicht veranlagt, direkt misstrauisch zu sein, sondern sehr vorsichtig zu sein. Wert darauf zu legen, sich negative, gefährliche Er­lebnisse zu merken. Unsere Vorfahren lebten einst in einer weitaus lebensbedrohlicheren Umwelt. Da war es überlebenswichtig, sich für immer zu merken, wo wilde Tiere lauern könnten und wie die Beere aussieht, an der fast jemand gestorben wäre. Gefahrenquellen abzuspeichern war sehr lange Zeit wichtiger, als sich ­Momente zu merken, in denen jemand gut zu einem war. Dies führt aber in heutiger Zeit leider zum Beispiel hierzu: Wenn ein Freund oder eine Freundin fünfmal nett zu mir ist und mich einmal enttäuscht hat – dann wiegt diese eine Enttäuschung sehr viel mehr als all die positiven Erfahrungen.

Schon scheinbar nichtige Dinge wie eine negative Reaktion in den sozialen Netzwerken lässt dann viele überreagieren?

Ja, unser Gehirn kann auch bei misslungenen sozialen Interaktionen eine ähnlich starke Reaktion auslösen wie in Situationen, in denen es tatsächlich um unser ­Leben gehen würde. Und deshalb tut es dann auch oft so weh. Ein negatives Menschenbild führt zu weniger Lust auf Begegnungen. Also schalten viele auf Rückzug, isolieren sich selbst. Das hat wiederum zur Folge, dass das Umfeld derjenigen anders mit ihnen umgeht: Andere haben dann auch weniger Lust, mit denjenigen Zeit zu verbringen. Und das Tückische daran ist: Sie sagen das meistens nicht, weil es keine bewusste Entscheidung ist. Sie finden es einfach etwas anstrengend und schwierig mit denjenigen und ziehen sich dann selbst zurück. Das verdoppelt den Effekt, ein Teufelskreis entsteht.

Dass wir ganz offenkundig in einem der sichersten, am besten organisierten und am wenigsten korrupten Länder der Welt ­leben, in dem man nicht permanent Angst um seine Gesundheit und sein Eigentum haben muss, hilft nicht?

Leider lösen die Fakten bei uns nicht dasselbe Gefühl aus wie Einzelerlebnisse. Sehr interessant sind die Ergebnisse der Studie „The Perils of Perception“, die in mehr als 30 Industrienationen vorgenommen wurde. Die Leute wurden gefragt, wie zufrieden sie mit ihrem eigenen Leben sind und, noch wichtiger in diesem Zusammenhang, wie hoch sie die Zufriedenheit einschätzen in der Gesellschaft, in der sie ­leben. In jedem Land haben die Leute die Zufriedenheit ihrer Landsleute extremst unterschätzt. Das heißt natürlich nicht, dass alles bestens ist – aber dass die Lage unserer Mitmenschen weitaus besser ist, als die meisten denken und spüren.

Welche Rolle spielt dabei die Flut an schlechten Nachrichten, die Medien­konsumenten täglich umspült?

Bei allen Bemühungen vieler Medien um konstruktiven Journalismus sind sie in letzter Konsequenz einer Marktlogik unterworfen: der Nachfrage. Unsere Psyche ist evolutionär darauf gepolt, uns dafür zu belohnen, wenn wir Gefahreninformation konsumieren. Darum klicken wir einen warnenden, bedrohlichen Artikel eher an als einen entwarnenden, gelassenen. Diese Veranlagung, dieser Mechanismus war während 99 Prozent der Menschheitsgeschichte sinnvoll, weil es nur wenige zugängliche Informationen über die Welt gab. Aber heute, da wir einen unend­lichen Nachschub haben, überfordert es uns. Es ist nicht mehr sinnvoll, sondern macht uns pessimistisch, misstrauisch, manche sogar hoffnungslos. Das beobachte ich in den vergangenen Jahren vermehrt in meiner Arbeit mit den Patienten.

Was ist zu tun?

Jeder Einzelne kann an seinem Konsum arbeiten. Negative Nachrichten sind wie Zucker und Fett. Früher waren sie knapp und darum überlebenswichtig. Auch jetzt sollten wir nicht komplett darauf verzichten, aber sie sind weder gesund noch nachhaltig. Wir sollten also nicht jeden Monat von null auf hundert, von Fasten auf Ess­attacken, hin und her springen. Sondern eine ausgewogene Balance finden. Also sorgfältig aufbereitete, ausgewogene ­Informationen konsumieren, die uns nachhaltig weiterbringen. Lieber auch einmal ein gutes Buch, eine gute Reportage oder ­Dokumentation als immer nur Meinungen und Meldungen.

In Ihrem Buch schildern Sie eine Begebenheit mit einer Patientin in einem Münchner U-Bahnhof. Sie beauftragten sie, zu zählen. Und zwar die Szenen, in denen Menschen offensichtlich rücksichtslos handelten, und solche, in denen sie das zugewandt taten. Mit dem Ergebnis, dass die Frau weitaus mehr hilfsbereite Menschen erlebte als erwartet.

Es ging um die Überprüfung ihrer Annahme, dass die Welt ein gefährlicher, ja böser Ort geworden ist. Wenn ich ihr einfach ­gesagt hätte, dass dem nicht so ist, wäre das verpufft. Hilfreich für sie war es, in ihrer hyperlokalen Realität mit eigenen Augen hinzusehen und es bewusst zu erleben. Das konnte aber freilich nur ein Start, ein Impuls sein.

Was kann daraus folgen?

Wir können uns unserer falschen Annahmen bewusst werden und eine Haltung der Empathie kultivieren. Dafür braucht es vor allem eines: Nachsicht. Sie kann uns nicht nur helfen, andere besser zu verstehen, sondern auch mitfühlender mit uns selbst zu sein. Denn das Böse in anderen zu erwarten bringt das Schlechteste in uns selbst hervor.

Gut zu sehen an den sofort hochdrehenden Empörungsspiralen in den Echo­kammern im Internet?

Ja. In einer großen Studie an der Yale-Universität wurden zwölf Millionen Inter­aktionen auf der Plattform X, vormals Twitter, analysiert. Da hat sich gezeigt, dass viele Nutzer, die ursprünglich selbst wenig gepostet haben, aber vielen wütenden Inhalten gefolgt sind, später selbst ­angefangen haben, ­wütende Inhalte zu produzieren. Echokammer ist in meinen Augen übrigens das falsche Wort in Bezug auf soziale Medien. Denn Echos werden ­leiser. Katalysator oder Verstärker erscheinen mir passender.

Was sind demgegenüber Katalysatoren und Verstärker von Nachsicht?

Es ist leider und tatsächlich schwer, im 21. Jahrhundert eine Institution oder auch nur Person zu identifizieren, die für Nachsicht steht. Das war ein Grund, warum mir dieses Thema wichtig und dringlich ­erschien. Am ehesten, denke ich, kann die Kultur diese Rolle ausfüllen.

Inwiefern?

Die Psychologie weiß, dass beispielsweise das Lesen von Belletristik in einem messbaren Zusammenhang steht mit sozialem Engagement, mit Wohlbefinden, sogar mit der Wahlbeteiligung. Einen Roman zu ­lesen ist eine Art von Empathietraining. Es schult die Fähigkeit, sich in eine oder sogar mehrere andere Personen mit unterschiedlichen, ja sich sogar widersprechenden Standpunkten hineinzuversetzen.

Ist Ihr Buch ein Plädoyer für mehr Nachsicht unter uns?

Ja, denn der Weg ist nicht zu weit. Weil Nachsicht eine trainierbare Fähigkeit ist. Das Buch ist aber gleichzeitig kein Plädoyer gegen Wut. Beides ist wichtig.

Aber ist Wut nicht ein Gegenteil von Nachsicht?

Es wirkt so, aber man muss vorsichtig sein, was man daraus schließt. Ein Beispiel: Wenn mir der Hausarzt rät, ich solle mehr Sport treiben, denke ich ja nicht, aha, mehr Bewegung ist gut, darum schlafe ich nun deutlich weniger. Das Gegenteil ist richtig: Treibe ich mehr Sport, schlafe ich besser, und wenn ich gut schlafe, habe ich mehr Energie für Sport. Genauso sehe ich das mit Nachsicht und Wut. Wenn wir unsere Zugänge zur Wut vergraben und keine mehr empfinden könnten, würde uns das auf lange Sicht verbittern. Und auch dazu führen, dass wir uns von anderen Menschen abwenden. Beides, Nachsicht und Wut, sind notwendig für eine ­gesunde Psyche.

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Blog

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert