Longevity

Alle wollen gesund alt werden. Dabei setzen wir mit ständiger Selbstoptimierung auf die falschen Mittel, sagt eine Allgemeinmedizinerin – und gibt stattdessen eine andere Empfehlung.

Longevity – dieser Begriff ist in den vergangenen Jahren in unserer Gesellschaft immer präsenter geworden. Sicher haben auch Sie ihn schon wahrgenommen. Man kann sogar fast schon von einer Longevity-Bewegung sprechen.

Dieser geht es um zwei Aspekte. Auf der einen Seite soll die Lebensspanne – das Alter, das wir erreichen können –, grundsätzlich verlängert werden, zum anderen soll die Lebensqualität während des Alterungsprozesses so hoch wie irgendwie möglich sein. Hierzu haben sich innerhalb der letzten Jahre unzählige Produkte, Behandlungen und Angebote auf dem Markt etabliert: Anti-Aging-Superfoods, Biohacking, Kältekammern oder hyperbare Sauerstofftherapien. Die Möglichkeiten, unser Leben zu verlängern und dabei vital zu bleiben, scheinen grenzenlos.

Als Ärztin biete auch ich in meiner Praxis eine Vielzahl von Longevity-Behandlungen an, welche Lebensqualität und Gesundheit fördern können. In den letzten Jahren habe ich viele Patienten begleitet, die sich intensiv mit dem Thema Langlebigkeit auseinandersetzen und bereit sind, in ihre Gesundheit zu investieren. Diese Begleitung hat mich immer mehr zum Nachdenken gebracht. Über allen Trends, hochpreisigen Nahrungsergänzungsmitteln und exklusiven Treatments haben wir nämlich einen Langlebigkeitsbooster völlig aus den Augen verloren, der so viel naheliegender ist, als die meisten vermuten, und zudem für jeden jederzeit verfügbar und praktisch kostenlos: sozialer Zusammenhalt.

Selbstoptimierung kostet Freude am Dasein

Zwischenmenschliche Bindungen, und das ist wissenschaftlich bewiesen, fördern nicht nur unser psychisches Wohlbefinden, sondern sind auch entscheidend für unsere körperliche Gesundheit. Stress, Isolation, Egoismus und Selbstoptimierung sowie das Streben nach immer mehr Lebensqualität kosten uns die Freude und Zufriedenheit am Dasein.

Als Ärztin erlebe ich in meiner Praxis täglich, wie Stress, Angst und Einsamkeit zunehmend körperliche Beschwerden auslösen. Der dahinterliegende Mechanismus ist leicht verständlich: Chronisch hohe Belastung stimuliert das sympathische Nervensystem und erhöht die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, was innere Unruhe und eine Vulnerabilität für Ängste und Depressionen nach sich ziehen kann. Dieser Zustand treibt uns dazu, immer schneller und noch härter zu arbeiten – in der Hoffnung, irgendwann aus dem „Hamsterrad“ aussteigen zu können.

Einsamkeit macht krank

Doch gemäß dem Prinzip der hedonistischen Tretmühle wird klar: Dieses Ziel bleibt unerreichbar. Gleichzeitig führt Stress dazu, dass viele Menschen die Si­gnale ihres Körpers nicht mehr richtig zu interpretieren wissen. Anstatt auf Warnzeichen wie Müdigkeit, Schmerzen oder Unwohlsein zu reagieren, werden diese entweder ignoriert oder versucht, mit modernen medizinischen Angeboten zu betäuben.

Dazu kommt: Einfache Beschwerden, die früher mit Hausmitteln behandelt wurden, erscheinen plötzlich als akuter Notfall. Diese durch Stress herbeigeführte Entfremdung vom eigenen Körper wird durch die zunehmende soziale Isolation begünstigt. Viele Studien konnten inzwischen eine Korrelation zwischen Krankheit und Einsamkeit aufzeigen, die fraglos zeigt: Einsamkeit macht krank. Einsamkeit schwächt das Immunsystem, fördert Erkrankungen und beeinträchtigt die mentale und körperliche Widerstandskraft. Alleinsein gilt mittlerweile als so gefährlich wie Rauchen oder Übergewicht, es ist ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen, erhöht das Risiko für einen vorzeitigen Tod.

Der Wert von stabilen und liebevollen Beziehungen

Damit wird deutlich, Gesundheit unterliegt nicht bloß der individuellen Verantwortung, sondern ist ein Produkt des sozialen Miteinanders. Die Bedeutung von zwischenmenschlichen Beziehungen für unsere Gesundheit kann deshalb nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Auch die prominenteste und umfassendste Langzeitstudie, die „Harvard-Studie über das Leben“ mit einer Laufzeit von mehr als 75 Jahren zeigt, dass die besten Prädiktoren für ein langes und gesundes Leben nicht Reichtum, Selbstoptimierung oder Erfolg sind, sondern stabile, liebevolle Beziehungen. Je mehr wir uns in reale, echte soziale Netzwerke einbinden, desto besser ist unsere körperliche und geistige Gesundheit.

Oxytocin fördert die Gesundheit

Die biochemischen Mechanismen, die diesen Zusammenhang untermauern, sind beeindruckend. Umarmungen oder ein verständnisvolles Gespräch führen zu einer Ausschüttung von Oxytocin, dem sogenannten „Bindungshormon“. Die Freisetzung von Oxytocin setzt eine Kaskade an gesundheitsfördernden Reaktionen in Gang: Der Blutdruck sinkt, Entzündungsreaktionen gehen zurück, die Aktivität der Amygdala, einer Hirnstruktur, die für emotionale Bewertungen zuständig ist, wird positiv beeinflusst. Angst und Stress werden so gesenkt.

Zudem konnte inzwischen gezeigt werden, dass auch der Neurotransmitter Dopamin bei einem schönen Miteinander vermehrt freigesetzt wird. Dopamin ist mitverantwortlich für Gefühle wie Freude und Motivation. Es gibt keinen wissenschaftlichen Zweifel: Die Qualität unserer sozialen Beziehungen ist ein zentraler Schlüssel zu einem gesunden und langen Leben. Der aktuelle Zeitgeist, in welchem egoistische Motive immer mehr an Bedeutung gewinnen und somit zu einer Fragmentierung der Gesellschaft führen, bringen aber diese fundamentalen Grundsätze in Gefahr.

Es ist an der Zeit, auch für uns Ärzte, den Fokus wieder auf das Wesentliche zu legen: auf das Miteinander, auf den sozialen Zusammenhalt – und damit auf ein gesünderes, erfüllteres Leben für uns alle.

Es ist kein endloser Prozess der Selbstoptimierung notwendig, sondern ein grundlegender Schritt zurück zum Wesentlichen: Gemeinschaft. Daher meine ärztliche Therapieempfehlung: Nehmen Sie sich die Zeit, die Menschen in Ihrem Umfeld bewusst wahrzunehmen. Ob in der Familie, am Arbeitsplatz oder im Alltag – kleine Gesten der Aufmerksamkeit können Großes bewirken. Fragen Sie Ihre Kollegin, wie ihr Tag war, haben Sie ein offenes Ohr für einen Freund, bieten Sie dem Nachbarn Hilfe an, oder seien Sie dankbar für alltägliche Begegnungen. Schenken Sie sich gegenseitig ein Lächeln.

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