Genügt es nicht einfach, die Liebe als eine Mischung aus Wissen und Geduld zu begreifen?
„Liebe – und dann tue, was du willst“
Einleitung: Das unsterbliche Wort
Manchmal stößt man auf merkwürdige, völlig unerwartete Ähnlichkeiten zwischen Richtungen, die ansonsten sehr verschieden sind. Folgendes Beispiel könnte krasser kaum sein. Trotzdem sei es riskiert.
1.1. Bei Aleister Crowley
Im Jahr 1920 entstand in Cefalu auf Sizilien ein „Kloster“ ganz eigener Art. Die Gemeinschaft, die es unterhielt, bis sie 1923 durch Mussolinis Regierung des Landes verwiesen wurde, nannte sich „Thelema-Orden“. „Thelema“ ist bekanntlich das griechische Wort für „Wille“.
Der Gründer der bizarren Vereinigung war kein anderer als Aleister Crowley, eine der berüchtigsten Gestalten des modernen Okkultismus. Crowley versah sich selbst gerne – in Anspielung auf die Apokalypse des Johannes – mit dem Titel „The Great Beast“ sowie mit der Zahlenfolge 666 und gab sich als den verheißenen Antichrist aus.
Das dritte Album der Band, 666, »eine musikalische Adaption des Buches der Offenbarung«, war ein Prog-Rock-Epos mit zwei Scheiben, das alles von Free-Form-Jazz und Musique Concrète bis hin zu Einflüssen aus dem Nahen Osten und Raga beinhaltete. Es wurde 1972 veröffentlicht, musikalisch seiner Zeit weit voraus, aber zwei Jahre nachdem sich die Band selbst bereits aufgelöst hatte.
Selbst heute, über 4o Jahre nach der Veröffentlichung, wirkt »666« noch nicht angestaubt, sondern wie die durchgeknallte Version eines »Jesus Christ Superstar« Musicals oder die abgründige Seite einer New-Age-Bewegung, die noch gar nicht erfunden war.
666 bleibt eines der unglaublichsten, rätselhaften und visionärsten Alben, die die Rockmusikgeschichte je erlebt hat. 666 steckt voller Ironie und war das Meisterwerk in der kurzen Karriere von Aphrodite’s Child, die sich nach den Aufnahmen zu dem Album auflösten.
Aufgrund ungeheuerlicher Exzesse, über die hier kein Wort zu verlieren ist, bezeichnete ihn die Presse schon zu Lebzeiten als den „verruchtesten Mann der Welt“, ein Ruf, der ihm bis in unsere Tage anhaftet und ihn für viele in den Rang einer symbolhaften Persönlichkeit erhebt.
Daß das Andenken dieser traurigen Berühmtheit fortbestehe – und das auch über die Grenzen des wildwuchernden Dschungels sog. Neuer Religiosität hinaus -, dafür sorgen so einflußreiche Leute wie die Beatles, die Crowley auf ihrem Album „Sgt. Peppers Lonely Heart’s Club Band“ ein Denkmal setzten, oder der Jugendbuchautor Michael Ende, dessen „Unendliche Geschichte“ deutlich auf ihn Bezug nimmt.
Beatles: „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“-cover mit Aleister Crowley
Aber nicht nur seine Fama, auch das Echo seiner Lehre hallt fort. Worin besteht sein Anti-Evangelium, worin das einigende Band des „Thelema-Ordens“ (der übrigens von einem Herrn Eschner aus Berlin 1982 wiedererweckt wurde)?
Zwei Prinzipien prägen die Konzeption Crowleys: der „wahre Wille“ und die „Liebe“. Sie werden in der Formel „Love under will“ zusammengefaßt, mit der eine „Liebe unter der Kontrolle des wahren Willens“, eine „Liebe mit Bewußtsein“ gemeint ist (ich erspare Ihnen nähere Ausführungen dazu). Und der „wahre Wille“? Er ist nichts anderes als die Befolgung des Crowley’schen Urgebotes, des einzigen Gesetzes der „Thelema-Abtei“, das da lautet: „Do what thou wilt“ – „Tu, was du willst“. (So ist übrigens auch in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ auf dem mit einander in den Schwanz beißenden Schlangen verzierten Amulett „Auryn“ zu lesen.)
1.2. Bei Augustinus
Die Addition von „Liebe“ und „wahrem Willen“ ergibt: „Liebe und tue, was du willst“. Jedem von uns springt die verbale Übereinstimmung mit dem Wort eines anderen, eines wirklichen Großen der Geistes- und Kirchengeschichte, ins Auge. Ich meine die unsterbliche Sentenz, die der heilige Augustinus mehr als 1500 Jahre zuvor, nämlich zum ersten Mal um das Jahr 395 in seiner Auslegung des Galaterbriefes, später im Jahr 415 in seinem Kommentar zum Ersten Johannesbrief, formuliert hat.
„Liebe ist die zeitweilige Blindheit für die Reize anderer Frauen.“ Marcello Mastroianni
Mehr noch als an das Crowley’sche knüpft sich an das augustinische „Liebe und tue, was du willst“ eine lange Wirkungsgeschichte, die bis heute andauert. Man blättere doch einmal in erbaulichen Florilegien mit „Goldenen Worten“, man betrachte die Spruchkartensortimente christlicher Buchhandlungen und gehe in neueren Veröffentlichungen zur religiösen Lebensgestaltung auf die Suche: Fast immer ist die Begegnung mit diesem Augustinuswort unvermeidlich.
Und warum? Nun, weil man darin den Inbegriff und die Summe christlichen Lebens, die Überwindung jeder Gesetzesenge und Sklavenmoral, den Ausbruch aus dem Paragraphengestrüpp einer verrechtlichten Sittlichkeit, das Abwerfen des schweren Jochs scholastischer Prinzipien und den Todesstoß für alle kasuistischen Rechnereien früherer Moraltheologie sieht.
Der Mensch des „Liebe und tue, was du willst“, – das ist die befreite, von göttlichen Energieströmen durchflutete Persönlichkeit, in heiliger Selbstverständlichkeit durch die Welt schreitend, inspiriert und inspirierend, nichts an sich reißend, sich beständig an andere verströmend aus dem nie versiegenden Born der Liebe. Vor Jahren schrieb mir eine junge Frau, es habe sie innerlich schier „zerrissen“, als sie auf dieses Augustinuswort gestoßen sei. Der Anfang eines nicht enden wollenden Freudentanzes…
Hauptteil: Welche Liebe ist gemeint?
2.1. Der status quaestionis
Freilich, auch gegenüber der Aussage eines Kirchenvaters bleibt die wesentliche Einsicht bestehen, die schon von den mittelalterlichen Philosophen auf den Nenner gebracht wurde: „Omne quod recipitur, in modo recipientis recipitur“ – „Alles, was aufgenommen wird, wird auf die Weise des Aufnehmenden aufgenommen.“
Das ist im Grunde eine tagtäglich neu bestätigte Binsenweisheit. Wie soll ein Gegenstand, etwa ein Baum, vom Auge anders als sehend, vom Ohr anders als hörend, vom Geruchssinn anders als riechend wahrgenommen werden?
Und so wird auch das „Liebe und tue, was du willst“ entsprechend dem Verständnishorizont dessen, der es vernimmt, verstanden. Es kommt zum Beispiel darauf an, welchen Begriff von „Liebe“ er mitbringt. Ein Beispiel mag das illustrieren.
Vor einigen Jahren wohnte ich einer Primiz bei. Der Neupriester stammte aus einer Mischehe, die anwesenden Verwandten und Bekannten waren zu großem Teil keine überzeugten Christen, geschweige denn praktizierende Katholiken. Viele von ihnen lebten in ungeordneten Verhältnissen, was dem Primizianten – zumal mit Blick auf die Kommunion – nicht wenig zu schaffen machte.
Zu diesem Anlaß nun hielt der geladene Primizprediger eine gediegene, liturgisch geprägte Homilie. Nur eine Passage löste mein Befremden aus. Gegen Ende der Predigt betonte er, es gehe im katholischen Glauben in erster Linie um die Heilsmysterien, nicht um die Befolgung eines Gesetzeskodex (soweit – so gut); und überhaupt lasse sich die christliche Moral auf den Nenner des Augustinuswortes bringen: „Liebe und tue, was du willst.“
Ich fragte mich damals, was wohl der Prediger und was die Anwesenden – abständige Katholiken, luxusorientierte Großverdiener, unverheiratet zusammenlebende Pärchen usw. – unter „Liebe“ und unter „tue, was du willst“ verstanden haben mögen. Sicherlich atmeten manche auf, die durch die Strenge des Ritus doch irgendwie an Buße und ähnliche unangenehme Dinge erinnert worden waren. Das Zauberwort „Liebe“ bringt’s fertig; es schafft Ruhe und Frieden auch in derart unbequemer Lage!
Nebenbemerkung: Freilich zeitigt das Gesäusel von „Liebe, Liebe, Liebe“, das uns heute im christlichen Raum becirct, zuweilen auch gegenteilige Reaktionen. Manch ein eifriger Katholik, der ansonsten keine Neigungen zum Protestantismus hat, wollte am liebsten in den zornigen Ruf des Doktor Martin Luther einstimmen, den wir in seinem Galaterbriefkommentar mit den Worten vernehmen: „Maledicta sit Charitas“ – „Verflucht sei die Liebe“, und: „Loco charitatis ponimus fidem.“ – „An die Stelle der Liebe setzen wir den Glauben.“
Weniger aus häretischen Intentionen als aus einem Abscheu gegenüber dem unentwegten Liebes-Gerede lauer Theologen dürfte sich die schroffe Auskunft Sören Kierkegaards erklären: „Christus war nicht die Liebe (am wenigsten im menschlichen Sinne), er war die Wahrheit, die absolute Wahrheit.“
2.1.2. Zwei Katechismen
2.1.2.1. Der Holländische Katechismus
Dieser Problematik ist sich interessanterweise auch der berühmt-berüchtigte Holländische Katechismus bewußt. Nachdem er das Augustinuswort einmal angeführt hat, kommt er nicht umhin, es vor Mißverständnissen in Schutz zu nehmen. Hören wir ihn selbst:
„Damit meinte Augustinus die wirkliche, weitgreifende, aus sich herausgehende Liebe. Jeder weiß ja, wie leicht es dahin kommt, daß unsere Liebe nicht mehr vierundzwanzigkarätig ist; wir suchen im Grunde doch uns selbst. Damit wir uns darüber nicht täuschen, gibt es in der Predigt Christi und in seiner Kirche noch andere Gebote. Sie stehen aber nicht neben der Liebe; sie sind vielmehr Wegweiser zu einer reinen Liebe. Jedes Gebot ist ein Liebesgebot.“
Nein, das klingt wirklich nicht schlecht. Wird der Holländische Katechismus aber dem Kirchenvater von Hippo gerecht, indem er einen allgemeinen Hinweis auf die „wirkliche, weitgreifende, aus sich herausgehende“, die „reine Liebe“ bringt? Daß Augustinus mit seiner Formulierung nicht denen Munition liefern wollte, die gerne die hämische Frage stellen: „Kann denn Liebe Sünde sein?“, ist ja ohnehin jedermann klar. Und wir ahnen bereits, daß es auch nicht einfach darum gehen kann, (neudeutsch gesagt:) „aus dem Bauch heraus zu handeln“, also sich ganz dem Gefühl zu überlassen, das einem sagt: Ich stehe gerade in der Liebe und folglich hat das, was ich jetzt tue, schon seine Richtigkeit, selbst wenn es die Kirche vielleicht etwas anders sieht.
Nicht, daß der Holländische Katechismus solchen Vorstellungen das Wort reden wollte. Aber wir werden bald hoffentlich genauer sehen, daß hier eine ganze Dimension, die zum Verständnis des Augustinus unabdingbar ist, stillschweigend übergangen wird.
Geben wir dem sog. Katechismus nochmals die Ehre des Zitates. Da lesen wir geradezu mystisch anmutende Passagen wie die folgende: „Die Liebe ist so göttlich, daß man nicht nur sagen muß: Gott ist die Liebe, sondern auch Die Liebe ist Gott. Überall, wo etwas von lauterer Liebe lebt – selbst wenn so ein Mensch Gott nicht kennt -, da lebt Gott: göttliches Leben.“
Wissen wir jetzt, wie das Augustinuswort gemeint ist? In solchen Zusammenhängen scheint es zu einer allgemeinreligiösen, nicht mehr spezifisch christlichen Aussage zu werden. Auch ein Hindu, der alles von Brahma beseelt glaubt und der göttlichen Kraft in sich durch Entsagung Raum schafft, wird ihr seine Zustimmung nicht entziehen können.
You know it’s up to you
Anything you can do
And if you find a new way
Well, you can do it today
Well, you can make it all true
And you can make it undo
You see, ah-ah-ah, it’s easy, ah-ah-ah
You only need to know
2.1.2.2. Deutscher Erwachsenenkatechismus
Wo wir schon bei den Katechismen sind: Vielleicht hilft uns ein anderer weiter? Denn auch der 2. Teil des „Katholischen Erwachsenenkatechismus der Deutschen Bischofskonferenz“ kann sich unseres Augustinuswortes nicht enthalten. Und er wirft sogleich die ganze Problematik, die sich daran heftet, auf, wenn er schreibt:
„Liebe, und dann tu, was du willst! Dieses Wort des heiligen Augustinus (…) findet bei vielen Menschen großen Anklang. Alle weiteren Maßstäbe oder Normen scheinen überflüssig zu sein, zumal auch Jesus selbst als oberste Norm die Liebe verkündet hat. Genügt es nicht, auf die Liebe hinzuweisen und dann jedem einzelnen zu überlassen, welche persönlichen Konsequenzen er daraus für sein Leben ziehen will? Was brauchen wir außer der Liebe noch weitere Normen? Sind sie nicht eine Einengung unserer Freiheit und unserer Entfaltungsmöglichkeiten?“
Gut gefragt ist schon halb geantwortet. Der Katechismus jedenfalls zeigt sich im Anschluß an seine Fragen geflissentlich bemüht, Klarheit in die Angelegenheit zu bringen und den Sinn der einzelnen Gebote Gottes trotz des einen, alles zusammenfassenden Liebesgebotes zu begründen.
Gelingt es ihm aber, das Augustinuswort in das richtige Licht zu rücken; ihm eine theologisch vertretbare Bedeutung zu geben, die es der Sphäre kühner Aphoristik oder Poesiealbenmystik entzieht?
Ein Hinweis sei erlaubt: Der besagte Band 2 des Erwachsenenkatechismus gibt im Register nur zwei Fundstellen zum Stichwort „Gnade(n)“ an, davon eine zu „Gnaden als Gaben“, eine andere zur „heiligmachenden Gnade“ (an der entsprechenden Stelle geht es um deren Verlust durch schwere Sünde). Für ein Buch, das immerhin den Anspruch erhebt, die katholische Sittenlehre darzustellen, ist das reichlich wenig. Ich wage schon hier zu behaupten, daß es unter solchen Vorzeichen mit dem Verständnis des Augustinuswortes nicht weit her sein kann. Warum, das soll im folgenden deutlich werden.
2.2. Notwendige Unterscheidungen
Beginnen wir also mit der alles entscheidenden Frage: Um welche Liebe geht es denn bei „Liebe und tue, was du willst“?
Mir ist des öfteren aufgefallen, daß Personen, die des Lateinischen mehr oder minder kundig sind, sogleich, wenn von dem Augustinuswort die Rede ist, mit dem lateinischen Original auftrumpfen möchten und dann sagen: „Ama, et quod vis fac.“
Nun braucht es ja gar nicht im Sinne von peinlicher Bildungsdemonstration gedeutet worden, dieses Zitieren in der Ursprache. Bekanntlich hängt oft viel davon ab, welches Wort vom Autor selbst benutzt wurde – und nicht vom Übersetzer in irgendeine andere Sprache.
Und so verhält es sich auch in unserem Fall. Auch hier ist es mehr als interessant, ist es sogar maßgeblich und notwendig zu wissen, mit welchem lateinischen Wort Augustinus, der nicht unüberlegt ins Blaue hinein schrieb, sich an der Stelle unseres sehr vieldeutigen Wortes „Liebe“ ausdrückte. Es gibt dafür nämlich im Lateinischen eine ganze Palette.
2.2.1. Amor, dilectio, caritas
Bevor wir uns dem augustinischen Original zuwenden, werfen wir einen kurzen Blick auf den heiligen Thomas von Aquin, der als systematischster Weiser und weisester Systematiker so viel Licht in viele trüben Bereiche bringt, daß man leicht versteht, warum das kirchliche Lehramt nicht aufgehört hat, ihn den Theologen anzuempfehlen.
Bei der Behandlung der verschiedenen Namen für die Liebe führt Thomas amor, dilectio und caritas an. Die Bezeichnung amor, so erklärt der Aquinate, ist die allgemeinste, die die beiden anderen umfaßt, so daß man sagen kann: Jede dilectio und jede caritas sind ein amor, aber nicht jeder amor eine dilectio oder caritas. Und weshalb nicht? Weil der Begriff dilectio dem amor schon rein etymologisch das Moment der electio, also der wissentlichen und willentlichen Wahl, hinzufügt, der Begriff caritas aber die besondere Hochschätzung für das Geliebte.
Soweit Thomas. Und welches Wort findet sich nun bei Augustinus? „Ama, et fac quod vis“ oder „Habe caritatem, et quod vis fac“? Weder – noch. Ich zitiere Augustinus, Kommentar zum Ersten Johannesbrief, siebter Traktat, Nummer 8: „Semel ergo breve praeceptum tibi praecipitur: Dilige, et quod vis fac…“ – „Ein für allemal also wird dir ein kurzes Gebot aufgestellt: Liebe – dilige! -, und was du willst, das tue…“
Das ergibt nun bereits ein ganz anderes Bild von der Sentenz des Augustinus. Die darin gemeinte Liebe, die „dilectio“, kann eben schon nicht mehr als eine warme Gefühlstönung, als ein unreflektiertes Das-Herz-Sprechen-Lassen und schon gar nicht als eine Regung der Sinnlichkeit interpretiert werden. Sie hat, wie Thomas – in völliger Übereinstimmung mit dem heiligen Augustinus – betont, ihren Sitz nicht in der Begehrkraft, sondern im Willen des vernunftbegabten Lebewesens.
In diesem Punkt ist kaum jemand strenger als der heilige Augustinus. Wer auch nur einen kleinen Einblick in sein Denken besitzt, der muß sich wundern, wie man gerade eines seiner Worte zum Feigenblatt für die Bestrebungen einer permissiven Moral machen kann. Was hätte der Bischof von Hippo wohl gesagt, wenn man sich ihm gegenüber auf das „Dilige, et quod vis fac“ berufen hätte, um „liebevolle“ Verstöße gegen die Gerechtigkeit, Treulosigkeit gegenüber der Weisung Gottes und seiner Kirche oder gar wollüstige Umtriebe reinzuwaschen?
2.2.2. Caritas und concupiscentia im Widerstreit
Die dilectio liegt nicht in der menschlichen Begehrkraft. – Hier ist der Ort, auf ein Gegensatzpaar hinzuweisen, das in der Anthropologie und Moraltheologie des Augustinus eine fundamentale Rolle spielt: das Gegensatzpaar caritas – concupiscentia, Liebe und Begierlichkeit. Am besten läßt es sich durch physikalische Gesetz der Schwerkraft veranschaulichen: Liebe wie Begierlichkeit wirken sich als eine Art von Anziehung aus, die dem ganzen Leben und Streben des Menschen eine bestimmte Richtung verleiht. Es geht also nicht so sehr um eine vereinzelte Befindlichkeit oder Handlung des Menschen, die entweder im Zeichen der Liebe oder ungeordneten Begehrens steht. Augustinus sieht vielmehr die ganze Person in einem Spannungsfeld entgegengesetzter Kräfte, die sie mit sich ziehen wollen. Alles kommt darauf an, wer hier einen stärkeren Einfluß gewinnt und wem sich der Mensch überläßt: ob der Kraft der Liebe, ansetzend am Guten des gnadenhaft neuen Menschen, oder ob der Kraft der Konkupiszenz, ansetzend an der gefallenen, morbiden Natur des Alten Adam. Hier fällt die Entscheidung über moralisch gut oder schlecht, letztlich über Heil und Unheil.
Augustinus schreibt: „Wenn die Wurzel aller Übel die Begierde, dann ist die Wurzel aller Güte die Liebe“, und vergleicht zur Erklärung das willentliche Streben des Menschen mit einem Gewicht, das geradezu naturnotwendig entweder (im Falle der concupiscentia, der bösen Begierlichkeit) ins Verderben oder (im Falle der caritas, der heiligen Liebe) in die Seligkeit zieht; denn – so stellt der Kirchenvater fest – wir Menschen handeln nun einmal nach dem Gesetz der größeren Befriedigung, die allein den Willen zur Ruhe bringt.
Wie eine hymnische Konklusion des Gesagten klingt der Satz aus der Schrift De musica: „Wo dein Schatz, da dein Herz; wo die Lust, da dein Schatz; wo aber dein Herz, da deine Seligkeit oder Pein.“
Wir sehen bereits: Zwischen Liebe und Begierlichkeit liegt in der Schauung unseres heiligen Kirchenvaters nicht nur eine Spannung. Die könnte auch Komplementarität, gegenseitige Ergänzung, bedeuten, wie etwa im Fall von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Nein, Augustinus sieht das Verhältnis beider strenger, schärfer. Für ihn obwaltet zwischen ihnen eine Kontradiktion, ein unvereinbarer, unüberbrückbarer Widerspruch.
Die caritas verhält sich zur concupiscentia nicht einfach wie in der Logik A zu B, sondern wie A zu Nicht-A. Das will sagen: Das Vorhandensein des einen schließt das des anderen (wenigstens in ein und derselben Hinsicht) aus, das Nichtvorhandensein des einen aber erzwingt das Vorhandensein des anderen. Augustinus: „Es herrscht die fleischliche Begierde, wo nicht die Gottesliebe.“ Es kann also etwas nicht zugleich und in derselben Beziehung caritas und concupiscentia sein. Entweder – oder!
Zum vorhin erwähnten Vergleich mit der Schwerkraft paßt gut eine andere Veranschaulichung des Verhältnisses beider, die Augustinus mehrmals gebraucht. Es ist das Bild einer Waage mit ihren beiden Schalen. Dazu heißt es in einem Brief des heiligen Bischofs: „Was wir dem Gewicht der Begierde entziehen, das fügen wir zum Gewicht der Liebe hinzu, bis jenes verschwindet und dieses sein Höchstmaß erreicht.“ Braucht nicht erwähnt werden, daß der Vorgang selbstverständlich auch in die entgegengesetzte Richtung funktioniert.
2.2.3. Verfehlte Liebe
Die Ausführungen über Liebe und Begierlichkeit dürften etwas Licht in das Dunkel des „Dilige, et quod vis fac“ gebracht haben. Jetzt kann kein Zweifel mehr darüber bestehen, welche Art von Liebe hier nicht gemeint ist: jene, die (um mit dem Evangelisten Johannes zu sprechen) aus dem Geblüte, aus dem Willen des Fleisches und aus dem Willen des Mannes hervorgeht.
Es scheidet die Art von Liebe aus, die Sokrates im platonischen Dialog „Phaidros“ auf dem Hintergrund seiner Zeit (die von der unsrigen in dieser Beziehung nicht allzu verschieden gewesen sein dürfte) demaskiert: „Dies also mußt du bedenken, Kind, und die Freundschaft des Liebhabers durchschauen, daß sie nicht aus Wohlwollen entsteht, sondern gleich einer Speise um der Sättigung willen. Denn wie Wölfe das Lamm, so lieben Verliebte den Knaben.“
Dem wölfisch begehrenden Menschen hätte Augustinus also keinesfalls zugerufen: „Liebe und tu, was du willst!“ Er hätte ihn zur Abkehr von seiner Konkupiszenz, zur Hinwendung zur wahren Liebe, zur caritas und dilectio, ermahnt.
Allerdings tritt die begehrende Liebe nicht immer so offen zutage wie im Fall des klassisch-griechischen oder des modern-deutschen „Kinderfreundes“. Oft bedarf es eines genauen Hinhorchens, um den egoistischen Cantus Firmus eines Liebesliedes wahrzunehmen.
Die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach hat eine beachtenswerte Sammlung geschliffener Aphorismen hinterlassen. Darunter findet sich ein Apercu, das ganz im Trend oberflächlicher Arglosigkeit in Sachen Liebe liegt: „Die Liebe hat nicht nur Rechte, sie hat auch immer recht.“
Doch die Dichterin scheint sich ihrer Sache nicht so sicher zu sein wie die auf Optimismus getrimmten, Optimismus verbreitenden Pastoralstrategen der kirchlichen Gegenwart. Wenige Seiten weiter lesen wir unter ihren Aphorismen einen Satz, der das eben Gesagte seiner Fragwürdigkeit überführt: „Es gibt eine schöne Form der Verstellung: die Selbstüberwindung – und eine schöne Form des Egoismus: die Liebe.“
Auch solche „Liebe“, die letztlich dem Egoismus eine ansehnliche Gestalt verleiht, kommt für den Kirchenvater nicht in Frage. Einmal stellt er fest: „Was man nicht um seiner selbst willen liebt, das liebt man nicht.“ Die Liebe blickt demnach auf ihren Gegenstand, macht ihn zum Zentrum ihres Denkens, zum Ziel ihrer Bewegung. In diesem Sinne schreibt der heilige Johannes vom Kreuz, augustinische Bahnen nachziehend: „Die Liebe gleicht dem Feuer: immer strebt es nach oben, um sich dem Mittelpunkt seiner Sphäre einzusenken.“
2.3. Wahre Liebe
Nachdem nun die Konkupiszenz aus dem „Dilige, et quod vis fac“ ausgeschlossen werden konnte, stoßen wir aber bei genauerer Untersuchung des Phänomens „Liebe“ und seiner mannigfaltigen Spielarten auf noch weitaus mehr Varianten als nur auf das Gegensatzpaar von (selbstloser) caritas und (ichhafter) concupiscentia. Auch edle Liebe ist nicht gleich edle Liebe. Unterschiede bestehen z.B. in Hinsicht auf den Ursprung, den Gegenstand, den innerseelischen „Sitz“ und auch das Ziel der Liebe.
2.3.1. Vielfalt wahrer Liebe
Es leuchtet z. B. unmittelbar ein, daß die rechtmäßige und in gewisser Weise sogar sehr selbstlose Liebe eines Hundehalters zu seinem treuen Begleiter von grundsätzlich anderer Qualität ist (oder zumindest sein sollte) als die eines Pfarrers zu seiner Gemeinde. Sogar die viel näher beieinander liegenden Arten der Freundschaftsliebe, der ehelichen Liebe und der elterlichen Liebe weisen bei manchen Ähnlichkeiten doch zugleich auch entscheidende Unähnlichkeiten auf.
Erhellend sind hierzu die Bemerkungen des Philosophen Dietrich von Hildebrand. Er unterschiedet innerhalb jeder wahren Liebe zwei Grundelemente: a) die benevolentia, das Wohlwollen, das verbunden ist „mit dem Gehalt fließender Güte, mit der Bejahung des fremden Wesens“ und b) die intentio unitiva, die eine „Sehnsucht nach Vereinigung mit dem andern“ ist, „ein Dem-andern-sein-Herz-Schenken und Sich-nach-dem-Herzen-des-andern-Sehnen, Ihm-gehören-Wollen, Mit-ihm-eins-werden-Wollen, An-seinem-Wesen-partizipieren-Wollen“. Die vielfältigen Arten der Liebe unterscheiden sich voneinander auch dadurch, welches der beiden Elemente jeweils im Vordergrund steht. So prävaluiert etwa in der Liebe der Eltern zu ihrem Kind und in der christlichen Nächstenliebe das Element des Wohlwollens, während in der Gattenliebe und in der Liebe zu Gott das Streben nach Einswerdung im Vordergrund steht.
2.3.2. Liebe als Gnade
Welche Liebe meint nun also der heilige Augustinus? Nur die, welche sich auf Gott richtet? Auch die auf den Menschen bezogene? Und innerhalb ihrer nur die christliche Nächstenliebe im strengsten Sinne, die sich als selbstlos und wohltätig erweist?
„Liebe und tue, was du willst“ – ja, wunderschön; aber was muß ich denn tun, um diese Liebe zu haben, die mir dann erlaubt, zu tun, was ich will? Begeben wir uns hier nicht in einen circulus vitiosus, einen Teufelskreis also, der das, wohin er strebt, immer schon voraussetzt?
Wenn wir auf der rein horizontalen Ebene verblieben und die Liebe nur in menschlichen Dimensionen betrachteten, so gerieten wir tatsächlich in einen Teufelskreis. Wir müßten uns, um die wahre Freiheit der Liebe zu erlangen, zu dieser Liebe zwingen, sie aus unserem Inneren hervorpressen, und dann wäre uns alles das erlaubt, was diese Liebe laut Aussage des Holländischen und des Deutschen Erwachsenenkatechismus ja ohnehin schon enthält und fordert. Von hier aus gesehen wird die fatale Situation einer sittlichen Glaubensunterweisung für Erwachsene deutlich, die zwar das billig zu habende Augustinuswort anführt und auch sonst alle Gebote aufzählt, die aber nur an einer Stelle, an einer elendig schwachen Stelle, etwas zum Stichwort „Heiligmachende Gnade“ sagt.
Hören wir als Kontrastprogramm den heiligen Kirchenlehrer Thomas von Aquin. In seinem Römerbriefkommentar schreibt er, bezugnehmend auf Vers 5,5 („Die Liebe Gottes ist in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist, der uns verliehen wurde“):
„Die ‘Liebe Gottes‘ kann auf zweifache Weise verstanden werden: einesteils als die Liebe, mit der Gott uns liebt; in anderem Sinn kann als ‘Liebe Gottes‘ die gemeint sein, mit der wir Gott lieben. Die Liebe Gottes in beiderlei Sinn aber ist es, die ausgegossen wird in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns verliehen ist. Daß der Heilige Geist, welcher die Liebe des Vaters und des Sohnes ist, uns gegeben werde, bedeutet, daß wir hingeführt werden zur Teilhabe an jener Liebe, die der Heilige Geist ist. Kraft dieser Liebe werden wir zu solchen, die Gott lieben. Und dies, daß wir ihn lieben, ist ein Zeichen dafür, daß er uns liebt.“
Unter diesem Gesichtspunkt wird alles anders. Die Frage nach dem Ursprung der Liebe führt aus der Sackgasse, aus dem Teufelskreis. Erst wenn wir wissen, woher die Liebe stammen soll, wird uns auch klar, welche Liebe in dem Wort „Dilige, et fac quod vis“ gemeint sei. Anders ausgedrückt: Wer sich über fundamentale Wahrheiten wie die von der Heiligmachenden Gnade ausschweigt, in dessen Mund wird das „Liebe und tue, was du willst“ zur verwirrenden, vielleicht gar zur verführerischen und lügnerischen Parole.
Die „dilectio“, die den Menschen in die Freiheit versetzt, tun zu können, was er will, ist also die gnadenhafte Liebe. Die Liebe der Taufgnade, die Gott durch den Heiligen Geist in das Herz gießt und die also weder dem Geblüt noch dem Willen des Fleisches oder des Menschen, sondern die Gott entstammt. Die Liebe, die als Frucht des Erlösungswerkes Jesu Christi geschenkt wird. Die Liebe, die daher den Glauben an Ihn voraussetzt: „Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen“ (Hebr 11,6). Die Liebe, die wesentlich mit der Einhaltung seiner Gebote verbunden ist: „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten“ (Joh 14,15). Und die Liebe, die nicht nur zur moralischen, sondern auch zur seinshaften Vereinigung mit Gott, zur Einwohnung der göttlichen Dreifaltigkeit, führt: „Wenn einer mich liebt, wird er mein Wort bewahren, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ (Joh 14,23)
2.3.3. Liebe, Gebot und Wahrheit
Für die Interpretation unseres Augustinuswortes ist es notwendig, sich diese Offenbarungswahrheiten vor Augen zu halten. Nur so werden die scheinbaren Widersprüche gelöst, die etwa zu dem Wort des Herrn an den Jüngling: „Wenn du in das Himmelreich eintreten willst – halte die Gebote“ oder zu der Anweisung an die Jünger im Abendmahlssaal: „Der ist es, der mich liebt, welcher meine Gebote hält“ zu bestehen scheinen.
Augustinus kennt eben gar keine Liebe, die den Namen caritas oder dilectio verdiente und die sich über das Gesetz, über die von Gott geforderte Gerechtigkeit hinwegsetzen könnte. Die Liebe, von der er spricht, stammt ebenso aus Gott wie die geoffenbarte Wahrheit und die Gebote, und so kann kein Widerspruch zwischen Glaubenswahrheit, Gebot und Liebe bestehen. Gott ist nicht schizophren.
Die drei in eins fassend, schreibt der heilige Kirchenvater: „Das aber ist die wahre Liebe, daß wir gerecht leben, indem wir der Wahrheit anhängen.“ Und an anderer Stelle: „Eine beginnende Liebe ist beginnende Gerechtigkeit; eine fortgeschirttene Liebe ist fortgeschrittene Gerechtigkeit; eine große Liebe ist große Gerechtigkeit; eine vollkommene Liebe ist vollkommene Gerechtigkeit.“
Durch die Verbindung mit Wahrheit und Gerechtigkeit wird der Liebe das Zufällige, Irrationale und Chaotische, das ihr gewisse Enthusiasten so gerne beilegen, weil es sich damit ja recht angenehm lebt, genommen. Die Liebe ist nicht gegen, sondern für die Ordnung. Demnach liegt derjenige falsch, der sich einfach nur auf seine – wirklichen oder vermeintlichen – Liebesregungen verlassen will, ohne seinem Leben die nötige Form zu geben, ohne nach dem zu streben, was die Alten „Tugend“ nennen. Der Keimling göttlicher Liebe, der in das Herz des Menschen gesät wurde, verlangt im Gegenteil nach Ordnung und Tugend. So schreibt Augustinus: „Eine kurze und genaue Bestimmung der Tugend scheint mir diese zu sein: Tugend ist geordnete Liebe.“
2.3.4. Verähnlichende Liebe
Dies alles vorausgesetzt, vermögen wir zu verstehen, warum der Kirchenvater im Anschluß an den Imperativ „Dilige“ noch anfügen konnte „et quod vis fac“. Die Liebe setzt das gläubige Umfassen der geoffenbarten Wahrheit voraussetzt. Darüber hinaus führt sie zu einer Verähnlichung und Vereinigung mit Gott selbst. Das ist ja jeder Liebe eigen, eine wie auch immer geartete Verähnlichung und Vereinigung zu erreichen.
Nicht nur die Ähnlichkeit, die sich oft zwischen lange verbundenen Eheleuten zeigt, oder der frische und klare Charakter mancher Liebhaber der Bergwelt legen davon Zeugnis ab. Auch die zerrüttete Natur derer, die seit langem dem Alkohol oder den Drogen ergeben sind, auch das verlebte Gesicht eines altgewordenen Filmstars, der seine Tage in Saus und Braus verbracht hat, offenbaren eine Art Verähnlichung mit dem Geliebten…
Ganz in diesem Sinne schreibt Augustinus: „Liebst du die Erde? So wirst du der Erde gleich. Liebst du Gott? So wirst du Gott gleich. Aus mir wagte ich es nicht zu sagen; vernehmen wir dazu die Schriften: Ihr seid alle Götter und Kinder des Höchsten.“
Das Psalmzitat, das Augustinus schützend vor sich hält, während er solche Kühnheiten äußert, spricht die Wahrheit von der wirklichen Teilhabe am göttlichen Leben durch die übernatürliche Liebe, die heiligmachende Gnade, aus. Wer so eins geworden ist mit seinem Schöpfer und Herrn, der wird tatsächlich gleichsam von selbst in Übereinstimmung mit seinem Willen, seinen Geboten handeln. Und umgekehrt, in seinem Handeln wird sich erweisen, ob diese Liebe tatsächlich vorhanden ist.
Gerade die Schwierigkeiten und Kämpfe, die Versuchungen und Anfeindungen werden den wahrhaft Gottliebenden als solchen erkennbar machen, denn die Liebe gleicht – nach einem passenden Wort des Franziskaners Francisco de Osuna, dessen Werke maßgeblichen Einfluß auf die heilige Theresia von Avila hatten – „dem Ritter, der sein Wesen besser im Kampfe offenbart als im Herumflanieren mit schönen Damen.“
Und so kann die Liebe, die Augustinus in seinem unsterblichen Wort meint, auch zuweilen harte, kämpferische Züge annehmen. Manch einem erscheint sie als ausgesprochen lieblos, während in Wahrheit das, was ihm im gleichen Moment als liebevoll gelten würde, Lieblosigkeit wäre.
2.4. Dilige, et quod vis fac
An dieser Stelle ist es dringend an der Zeit, das „Dilige, et quod vis fac“ einmal in seinem ursprünglichen Kontext zu präsentieren. Es steht nämlich nicht in einer frommen Spruchsammlung und ist ebensowenig ein verständlicher Satz inmitten ekstatischer Zungenrede eines Charismatikers. Augustinus spricht in seiner Auslegung des Ersten Johannesbriefes sehr überlegt und gezielt „ad rem“.
2.4.1. Das Augustinuswort im Kontext
Der Passus befindet sich im Zusammenhang von Überlegungen über den Unterschied menschlichen Tuns, der daraus resultiert, daß grundverschiedene Absichten vorliegen. Die Liebe allein ist es, die unterschiedet und die Taten der Menschen voneinander trennt, so Augustinus, um mit recht paradoxen Beispielen fortzufahren:
„Bei verschiedenem Tun finden wir einen Menschen, der aus Liebe wütet, einen andern, der aus Bosheit sich liebenswürdig benimmt. Der Vater prügelt den Knaben, der Sklavenhändler putzt ihn heraus. Stellst du dir nur dieses beides zur Wahl: Stockstreiche und hübschen Aufputz: wer wählte nicht lieber den Putz als die Streiche! Achtest du auf die Personen: so ist es die Liebe, die schlägt, die Bosheit, die schmeichelt. Ihr seht, was wir euch nahelegen wollen: die Taten der Menschen lassen sich nur von der Wurzel der Liebe her werten. Denn vieles kann man tun, was guten Anschein hat, aber nicht aus der Wurzel der Liebe hervorgeht. Denn auch der Dornstrauch blüht; vieles aber scheint hart und finster, und doch schafft es um der Zucht willen die Liebe. Einmal für alle wird dir also ein kurzes Gebot aufgestellt: Liebe und tue, was du willst! Schweigst du, so schweige aus Liebe; sprichst du, so spreche aus Liebe; rügst du, so rüge aus Liebe; schonst du, so schone aus Liebe: innen sei die Wurzel Liebe, nur Gutes kann dieser Wurzel entsprießen.“
Das sind deutliche Worte. Weil die Liebe eine Gleichgestaltung mit Gott bedeutet, deshalb kann sie nur auf das Gute ausgerichtet sein, wie auch Gott nur das Gute will. Und daher mag etwas hart und lieblos scheinen – und entstammt doch der Liebe; und es gibt sich eine Handlung als besonders liebevoll, aus Verständnis und Wohlwollen hervorgehend – und ist doch Lieblosigkeit, weil Nachgiebigkeit im Widerspruch zur Gerechtigkeit und Wahrheit.
2.4.2. Zugkraft und Schwerelosigkeit der Liebe
Vorhin wurde die übernatürliche Quelle, die Gottgewirktheit der Liebe betont, während das letzte Zitat sie eher als Aufgabe des Menschen, als Frucht seines Bemühens darstellt. Wie jeder wahrhaft katholische Lehrer kennt der heilige Augustinus selbstverständlich beide Seiten, das Werk Gottes, ohne das der Mensch rein gar nichts zu seinem Heil vermag, und die Anstrengung des Menschen.
„Der gegen die Macht des Todes die Neuheit des Lebens brachte, der selbst hat gegen die alte Sünde das neue Gesetz erhoben. Willst du daher die alte Sünde ausmerzen, dann lösche die Begierde durch das neue Gesetz und umfasse die Liebe“, so ruft der Kirchenvater in einer seiner Predigten dem Volk zu. Er fordert den Einsatz, die Initiative. Es genügt nicht, daß der Sohn Gottes am Kreuz gestorben ist und uns dadurch erlöst hat: Wir müssen das neue Gesetz auch aufnehmen und zum Kampf wider die gegenläufige Begierlichkeit benutzen.
Und doch ist es vielmehr die Gnade als das eigene Bemühen des Menschen, wodurch es dazu kommt. Eines der theologischen Leitmotive des Kirchenvaters ist das Wort vom „Gezogenwerden“. Im Zusammenhang mit dem Gegensatzpaar caritas – concupiscentia und dem Bild von der Schwerkraft wurde es schon berührt. Das Wort Jesu in Joh 6,65: „Niemand kommt zu mir, es sei denn, der Vater ziehe ihn“ gibt ihm Anlaß, die Wahrheit von der Zugkraft der gnadenhaften Liebe näher zu erläutern:
„Fortgerissen wird die Seele durch die Liebe… Willig ist zu wenig gesagt, vielmehr ergötzlich… Wenn der Dichter sagen konnte: Jeden zieht seine Lust, nicht der Zwang, sondern das Entzücken, nicht die Pflicht, sondern die Freude, um wieviel mehr müssen dann wir sagen, zu Christus werde jener hingezogen, der sich an der Wahrheit erfreut, an der Seligkeit, an der Gerechtigkeit, am ewigen Leben; denn alles das ist Christus… Gib mir einen Liebenden, und er fühlt, was ich sage; gib mir einen Sehnsüchtigen, einen Hungernden, einen in der Wüste Wandernden und Dürstenden, einen nach der Quelle des ewigen Lebens Lechzenden, gib mir einen solchen, und er weiß, was ich spreche.“
Herrliche Worte über eine noch herrlichere Wirklichkeit! Sie lassen die Freiheit erahnen, die sich durch diese wahre, gottgeschenkte Liebe eröffnet. Freiheit nicht nur dadurch, daß man einfach nichts anderes mehr erstrebt als Gott. Freiheit auch dadurch, daß solches, was zuvor als schwer erschien, plötzlich mit gnadenhaft-graziöser Leichtigkeit bewältigt wird. Die spitze Feder eines polnischen Aphoristikers, Stanislaw Jerzy Lec, traf ins Schwarze, als sie einmal niederschrieb: „Ich sah fliegende Käfige. Es waren Adler darin.“
Noch besser könnte man eine ganze Spruchsammlung zum Thema „Schwerelosigkeit der Liebe“ aus den Opera Sancti Augustini zusammenstellen. Hier mein bescheidener Anfang: „Wer liebt, empfindet die Mühe nicht.“ Und: „Die Last des Herrn, erdrückend für die Schwäche, wird leicht für die Liebe.“ Und auch: „Wer liebt, der läuft. Je inniger er liebt, desto freudiger läuft er. Je weniger er liebt, desto lässiger bewegt er sich vorwärts auf dem Wege. Wenn er überhaupt nicht liebt, steht er still auf dem Wege. Wenn er gar nach der Welt sich sehnt, schaut er rückwärts vom Wege und wendet sein Antlitz ab von der Heimat.“
Und daß die heilige Liebe keine Grenze, kein menschliches Maß kennt, das versteht sich von selbst: „In der Liebe zu Gott wird uns keinerlei Maß auferlegt, da hier das Maß ist, ohne Maß zu lieben: Man soll sich nicht sorgen, zu viel zu lieben, sondern nur fürchten, zu wenig zu lieben.“ Dieses köstliche Wort, das uns im Mittelalter beim heiligen Bernhard von Clairvaux wiederbegegnet („Causa diligendi Deum, Deus est; modus, sine modo diligere“) hat uns der Augustinusschüler und bischöfliche Amtsbruder Severus von Mileve als Zusammenfassung der Gedanken seines Meisters überliefert.
3. Schluß: Augustinus, nicht Aleister!
Ja, es kommt nach dem heiligen Augustinus tatsächlich letztlich nur auf die Liebe an. Aber für das Verständnis dieser Aussage kommt es nochmals darauf an, die Liebe richtig einzuschätzen. Nach unserem kleinen Rundgang sehen wir die Essenz des famosen „Dilige, et quod vis fac“ hoffentlich in anderem Licht als vorher, sofern wir es nur außerhalb seines echten Zusammenhanges kannten.
Jetzt müßten wir besser verstehen, warum in dieser Liebe tatsächlich alles enthalten ist und weshalb Augustinus, der doch die Heilige Schrift und ihre vielfältigen Forderungen an den Menschen kannte, dennoch schreiben konnte: „Die Schrift gebietet weiter nichts als die Liebe.“ Übrigens sagt Franz von Sales, der heilige Bischof von Genf, ein gleiches über die Kirche, wie der heilige Bischof von Hippo über die Schrift: „Alles gehört der Liebe, alles liegt in der Liebe, alles ist für die Liebe, alles ist aus Liebe in der heiligen Kirche.“
Jetzt müßte uns aber auch klar sein, daß ein substantieller Unterschied besteht zwischen dem, was durch die Herbeizitierung des großen Heiligen mit diabolischer List gutmeinenden Christen untergejubelt wird, um ihr Gewissen im Schlechten zu beruhigen und sie auf der abschüssigen Bahn der Concupiscentia bis zum bitteren Ende der Talfahrt festzuhalten, – und dem, was Augustinus wirklich sagen wollte und auch gesagt hat für die, die hören können und hören wollen.
Mit dem Wort „Liebe und tue was du willst“ verhält es sich im übrigen ähnlich wie mit dem Gegensatzpaar von „caritas“ und „concupiscentia“: Wenn man es vom echten, ganzen Augustinus löst, dann bewegt es sich zwangsläufig in Richtung jenes anderen, der es ebenfalls zum Lebensmotto erhob. Augustinus oder Aleister Crowley. Dazwischen klafft ein riesenhafter Abgrund, der aber keine neutrale Zone ist, sondern Raum der Entscheidung, Schlachtfeld, um sich mit der Kraft der Liebe und den Waffen der Liebe den Eintritt in das Reich der Liebe, die Gott selbst ist, zu erringen. Sich und möglichst vielen anderen.