leben lieben leiden

Leben – Lieben – Leiden

Manchmal denke ich, es ist kein Zufall, dass diese Worte so ähnlich klingen.

Leid ist eine vielschichtige und fundamentale Größe des Menschseins. Wir alle leiden, mal mehr mal weniger, der Umgang mit dem Leid ist unterschiedlich.

Die Eskalationsgrade des Leidens sind schwer zu ermitteln

Die Möglichkeiten zu leiden sind vielfältig und es ist schwer eine Hierarchie zu ermitteln. Eine schwere Erkrankung, eine Trennung in einer langen Beziehung oder der Tod eines nahen Menschen sind etwas, was wir unmittelbar verstehen. Andere Formen des Leids sind schwerer zu erkennen und nachvollziehbar. Manchmal hat man das Gefühl man habe es mit einer Prinzessin auf der Erbse zu tun:

„Ich langweile mich so, dass ich sterben möchte. Ich langweile mich so, dass nichts auf der Welt, wie es scheint, mich mehr interessieren und amüsieren kann. Ich wünsche nichts, ich will nichts! … Lesen, zeichnen, musizieren, und trotzdem Langeweile, Langeweile, Langeweile!“[1]

Andere sind so gestresst, dass sie sich freuen würden, wenn sie sich mal wieder langweilen könnten. Aber manchmal ist der Stress auch selbstgemacht, vielleicht ein Leiden um ein anderes, größeres zu verhindern, nämlich Langeweile und die damit oft verbundene Konfrontation mit der inneren Leere.

Doch mit dem Leid ist es, wie mit Schmerzen, Freude oder Sinn, man kann nur jeweils selbst entscheiden, wie es einem geht. Ein Leben mit Depressionen[verstehen] kann die Hölle sein, da nützt auch das gut gepolsterte Bankkonto oder gesellschaftlicher Erfolg nichts, nicht mal der Neid der anderen. Oder Hypochondrie, bei der man von der ständigen Angst vor Krankheiten geradezu gefoltert wird, unterbrochen nur von ein paar Untersuchungsergebnissen, die für kurze Zeit eine gewisse Entspannung bedeuten, bis da wieder dieses Zucken ist, es kann nur von einer tödlichen Krankheit sein. Es gäbe weitere Beispiele aus dem Reich der Psyche, wie generalisierte Angstemotionale Erpressung oder Gaslighting zu erleben.

Der Sinnverlust in der heutigen Zeit

Eine wesentliche Frage des Leidens ist, ob man darin einen Sinn sieht oder ob man sich nur als willkürliches Opfer einen blinden Missgeschicks erlebt. Bekanntlich kann man so gut wie jedes Leid ertragen, wenn man weiß, wofür man es erduldet, oft selbst unmenschlichste Bedingungen. Nur gibt unser Weltbild das nicht immer her. Gemäß diesem leben wir in einer Sinnwüste, einem Universum aus blinden Kräften, die sich irgendwie harmonisch eingependelt haben, weil Materie sich verhält, wie Materie sich nun einmal verhält. Sie hat bestimmte Eigenschaften, wie Masse, Ausdehnung, Geschwindigkeit, Ladung, Spin, woraus sich alles andere, gemäß der Erzählung ableiten lässt.

Man kann sagen, dass es ja schön wäre, in einem mit Sinn gefüllten Universum zu leben, aber wenn es nun mal nicht so ist, muss man sich den Tatsachen beugen. Die Frage ist nur, woher wir denn wissen, wie die Tatsachen sind? Das naturalistische Weltbild hinter der Wissenschaft folgt einfach der Idee, die Welt ohne irgendwelche anderen Kräfte, als die natürlichen zu erklären. Das ist historisch verständlich, weil man sich von der religiösen Interpretation absetzen wollte oder musste.

Gott, Geister, Übersinnliches bitte wieder dabei beim Leben.

Gott, Geister, Übersinnliches, all das blieb draußen und das unerwartete Ergebnis war, dass man, obwohl man diese Beschränkung hatte, die Welt auf einmal ungeheuer gut erklären konnte, in einigen Bereichen besser als jemals zuvor. Man merkte, dass man Gott und Übersinnliches gar nicht brauchte. Ein Siegeszug an Erklärungen, der mehr als 200 Jahre dauerte, der aber nach und nach die Grenzen dessen, was unerwünscht war, immer weiter nach außen drängte. Suspekt war nun nicht mehr nur die Religion und Metaphysik, sondern für viele auch die Philosophie in Gänze, die Soziologie, ‘weiche Wissenschaften‘, wie manche sie irrtümlich nennen, auch Teile der Psychologie vor allem Psychoanalyse und Tiefenpsychologie.

Das gipfelte in absurden Fragen und Diskussionen, wie denen, ob es Bewusstsein eigentlich wirklich gibt. Oder man versucht, die Subjekt-Perspektive irgendwie zu beseitigen, weil man aus dem Objektivitätsbegriff einen Fetisch gemacht hat. Doch auf der anderen Seite jeder Theorie sitzt ein Subjekt, das sie formuliert hat und nur ein Bewusstsein kann fragen, ob es Bewusstsein wirklich gibt. Das und mehr ist alles offensichtlich, aber die Frage ist, wie man überhaupt zu solchen absurden Bemühungen gelangen kann.

Man kann es, wenn man vergisst, dass die Setzungen des Naturalismus pure Willkür sind. Es ist das Programm gewesen, es einfach mal anders zu versuchen, nämlich die Welt aus der Entfaltung von Materie zu erklären. Das ging sehr gut, aber es gab Grenzen. Bestimmte Elemente lassen sich einfach nicht die ganze Zeit unter Wasser drücken und tauchen immer wieder auf. Bewusstsein, Qualia, das Subjekt, die Frage, wie uns Gründe eigentlich beeinflussen und vieles mehr. Man hat keine Antwort darauf und versucht daher diese Begriffe immer irgendwie klein zu halten und nach Möglichkeit aus der Diskussion zu drängen, doch sie tauchen immer wieder auf.

Man weiß heute, dass die Subjektperspektive uns in vielen Bereichen der Medizin weiter bringt. Man hat keine Ahnung, was Bewusstsein eigentlich ist und scheitert, da man es nicht in gewohnter Weise zum Objekt machen kann. Denn es ist ja Bewusstsein, was dieses Phänomen zum Objekt machen will. In der Psychologie entdeckt man den Sinn und seine Bedeutung gerade wieder. In der Konzeption einer Sinnwüste, die sich aus den Annahmen des Naturalismus ergibt, wäre Sinn aber etwas, was gar nicht so wirklich existiert. Sinn ist irgendeine seltsame Erfindung von denkenden Wesen, die etwas brauchen, was es nicht gibt. Dieses Unverständnis ist aber erneut ein Resultat der Prämissen des Naturalismus. Sinn ist dort irgendwie übersinnlich, weil nicht materiell nachweisbar. Alternativ könnte man darüber nachdenken, dass der Versuch alles aus der Materie abzuleiten einfach an ein Ende gekommen ist.

Eine nette Idee, die uns wirklich weiter gebracht hat, aber nun trudelt das Weltbild aus und seiner Vertreter versuchen dem dadurch zu begegnen, dass Fragen, die man damit nicht beantworten kann, nicht gestellt werden sollen. Sinn ist bloße Privatsache, die Frage nach dem Sinn von Leid albern, wenn man keinen evolutionären Nutzen dahinter entdecken kann. Dann ist alles in Ordnung, ansonsten ist es Esoterik.

Der Westen entdeckt das Leiden wieder

Auch das Leiden wurde etwas ins Exil verbannt. Das Leben musste toll sein, schließlich war man selbst seines Glückes Schmied. Solange es geht vermeldet und postet man in Social Media Erfolgsstorys. Zu unserem Weltbild gehört die Überzeugung, dass die Welt durch Vernunft und Fortschritt schrittweise immer besser wird. Vielleicht nicht paradiesisch oder perfekt, aber gut genug.

Wir sahen die längste Zeit keine Notwendigkeit daran zu zweifeln, weil die westliche Weltsicht, eine Mischung aus Demokratie, Wissenschaft, Technik und Marktwirtschaft als so dominierend angesehen wurde, dass es nur nur als eine Frage der Zeit erschien, bis alle Welt so lebt, weil diese Lebensweise als die ideale Kombination angesehen wurde. Das gipfelte in dem Buch Das Ende der Geschichte, von Francis Fukuyama.

Wir wissen heute, dass es anders ist und sehen sowohl Demokratien, als auch die Weltsicht hinter Wissenschaft & Technik und den demokratischen Kapitalismus überall unter Druck. So schnell lässt man aber nicht von der Idee ab, dass die eigene Lebensweise gut und richtig ist. Teilweise will man vor anderen nicht schlecht dastehen, manchmal will man sich auch selbst nicht eingestehen, dass das, in das man viel Zeit und Energie investiert hat, Karriere oder Partnerschaft nicht den erwünschten Erfolg und die innere Zufriedenheit brachte.

In einer Welt, in der man für die Gestaltung seines Glücks wesentlich selbst verantwortlich ist und scheitern nicht gut ankommt, versucht man daher ein Fassade aufrecht zu erhalten. Doch äußere Stressoren sorgen dafür, dass die Fassade bröckelt und viele Menschen hoch besorgt sind, wegen eines möglichen Krieges, wegen des Klimas oder aus Angst um ihre Freiheit. Manche Ängste somatisieren sich aber auch, dann wird die Unsicherheit auf den eigenen Körper projiziert, der immer genauer beobachtet und untersucht wird, was die Angst immer mehr steigert.

Doch Somatisierungen sind nicht nur schlecht, sie weisen uns in gewisser Weise einen Weg. Psychosomatisches Leiden hat oft einen Sinn, nämlich eine versteckte Botschaft, drückt etwas aus, was wir ansonsten nicht sehen und nicht an uns heranlassen wollen und können. Ja, die Welt ist ein gefährlicher Ort und das Leben endet tödlich. Unser Leiden ruft uns das immer wieder ins Bewusstsein.

Leid macht unser Leben wesentlicher

Schön ist das nicht, aber es macht das Leben wesentlicher, bedeutsamer. Wenigstens im Rückblick ist das den meisten Menschen klar. Wenn alles wie man Schnürchen läuft, entwickeln wir uns nicht, schon die alten Griechen sahen das. Bei Aischylos heißt es im Agamemnon:

„Zeus führt uns der Weisheit Pfad, Leid ist Lehre, ewig steht dies Wort. Statt schmerzvergessendem Schlaf rieselt die Qual zum Herzen und widerstrebend werden wir klug.
Gewaltsam führen die Götter die Ruder, verleihen die Weisheit“

Wir haben das vergessen und verdrängt. Unsere Erzählung lautet, dass alles schrittweise immer besser werden wird. Sie passt nicht zu unserer anderen Erzählung der Welt als einer Sinnwüste. Nach der Idee der Evolutionstheorie ist Leben zufällige Anpassung an bestehende Lebensumstände, die sich beständig ändern. Unsere Entwicklung des langsamen, aber steten Fortschritts zum Besseren, beißt sich mit der Idee, dass Anpassung immer nur momentan und von zufälligen Größen abhängig ist. Was heute ein Fortschritt ist, Vernunft und wechselseitige Fairness, kann morgen schon keine passende Idee mehr sein.

Im Osten sieht man es genereller. Diese Welt, Samsara, ist nie ein guter Ort und wird auch niemals einer. Leid gehört zu dieser Welt zwingend dazu, weil es die Welt des Ego ist und Ego zu sein, heißt zu leiden. Nicht immer und nur, aber doch so oft, dass der Kern des Buddhismus ist, die Realität des Leidens zu erkennen und an der Wurzel zu packen, dem Ich-Gedanken.

Das wirkt manchen zu düster, auf der anderen Seite erkennen viele, dass das ins Leben eingebrochene Leid sie dazu gebracht hat, sich zu ändern, sich grundsätzliche Fragen, wie die nach dem Sinn zu stellen. Hat unser Leid einen Sinn? Das wird irgendwann eine gravierende Frage und ist mit dem nächsten Auto mit 100 PS mehr oder oder nächsten Beförderung nicht mehr zu übertünchen.

Einen Sinn in seinem Leben zu sehen soll nicht heißen, dass man sich sein Leid schön redet, sondern es öffnet die Tür, um sich tiefer mit den Elementen von Leid, Tod und dem, was wir oft nicht wollen zu beschäftigen und zwar auf konstruktive Weise, nicht in einer Endlosschleife depressiven Grübelns. Dabei geht es nicht darum, sich nur für eine bestimmte vorgefertigte Sichtweise zu entscheiden, sondern seine eigene zu finden.

Man kann beide Ansätze vereinen

Wenn man erkennt, dass die sinnlose Welt fast zwingend ins Leid führt, kommt man weiter, aber man muss es auch erkennen, nicht einfach nur herunter beten. Die sinnfreie Weltsicht ist zirkulär, weil sie alles was Sinn anbietet von vorn herein ausschließt. Die Folge ist, wenn man doch meint, Sinn sei wichtig – was kaum noch einer bezweifelt – dass dieser irgendwie eine virtuelle Größe wird, wie das Subjekt oder Bewusstsein. Der Sinn fällt aber nur durch die gewählten Grundbedingungen des naturalistischen Ansatzes raus, der alles aus der Materie ableiten will. Die Beschreibung der Materie kennt nur Kräfte die aufeinander einwirken, keinen Sinn oder Wert, keine Innenperspektive.

So entfernt die westliche Sicht – eine schrittweise Verbesserung aus dem Leid ist möglich – und östliche – Leid ist zwingend – zu sein scheinen, schaut man sich die Wege an, kann man große Parallelen erkennen. Auch östliche spirituelle Wege wollen in der direkten Umgebung helfen, aber die Idee, dass am Ende alles gut und lebenswert ist, würden sie nicht teilen. Nicht, weil sie abstreiten, dass man die Welt verbessern kann, sondern weil sie abstreiten, dass der Ich-Gedanke ohne Leid zu produzieren zu denken ist.

Etwas wie eine Auflösung des Ich oder Ich-Tod klingt für unsere Ohren seltsam, es deckt sich aber mit dem, was wir weniger Narzissmus nennen. Narzissmus wirkt selbstbewusst, ohne es zu sein. Die grandiose Fassade ist bereits ein Notprogramm. Eigentlich geht es darum den Narzissmus oder Egozentrismus zu verringern und westliche Therapien wissen, dass es den Menschen, die daran leiden besser geht, wenn es ihnen gelingt, sich nicht überall im Mittelpunkt zu sehen.

Dabei wird die Ich-Schwäche reduziert, man nimmt sich selbst zurück und andere Menschen werden einem wichtiger. Exakt darum geht es auch in spirituellen Wegen, die das Ich in den Dienst einer größeren Sache stellen, sich hingeben, wobei man immer selbstzufriedener und gelassener wird, weil man sich selbst nicht mehr über die Maßen wichtig nimmt.

Leid ist oft der Türöffner, um sein Leben grundlegend anders zu sehen. Dabei ist es mehr oder weniger normal, es als junges, wildes Ich dennoch aus eigener Kraft zu probieren und alle Warnungen in der Überzeugung, die anderen hätten sich nur ungeschickt angestellt, zu verwerfen, bis man sich verheddert vorfindet und auch das ist bereits bei den alten Griechen das Thema. Das Ich geht unbeirrt seinen Weg, scheitert, tragisch (es kann eigentlich nichts dazu) und ist in dem Moment des Scheiterns ansprechbar für den Rückweg, die Überwindung des Ich.

Nichts ist schöner als zu scheitern. Erst recht tragisch.

Auch in der westlichen Tradition schlummert das Wissen, dass Leid einen Sinn hat und das ist vielleicht gerade in aktuellen Zeiten wichtig zu erkennen.

Quelle:[1] Tagebuch der Maria Bashkirtseff, Frankfurt am Main 1983, S. 194, zitiert in Wolfgang Krüger, Der alltägliche Neid, Ernst Reinhardt Verlag 1989, S.79

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