Was passiert, wenn immer mehr Menschen Sterbehilfe in Anspruch nehmen? Und gibt es eine Möglichkeit, sich auf das eigene Sterben vorzubereiten? Der Soziologe Lorenz Jäger hat die Geschichte des Lebens und Sterbens erforscht – und eine Theorie der Lebensalter entwickelt.
Frank Holl (British painter) 1845 – 1888
I am the Resurrection and the Life, or The Village Funeral, 1872
Lorenz Jäger erreicht man am besten über das Telefon; in Gedanken stellt man sich dazu seine Hanauer Wohnung vor, die vielen Bücher, den großen Esstisch, an dem man schon gesessen und viel Wein getrunken hat. Jäger ist einer der faszinierendsten Denker hierzulande, weil seine Bücher und Texte immer Deutungswürfe sind; sei es seine Walter-Benjamin-Biografie von 2017, in der er den „Unvollendeten“ in den denkerischen Bezügen seiner Zeit darstellt, sei es seine monumentale Heidegger-Biografie, in der er Heideggers Denken aus dessen frühem Ansagen der Zeit als Messner-Bub entwickelt. Jäger war viele Jahre lang Redakteur der Geisteswissenschaften der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Daher kennt ihn auch die Interviewerin, die vor längerer Zeit dort hospitierte; aus einer ungläubigen Reaktion Jägers auf einer Weihnachtsfeier, als sie freimütig bekannte, Carl Schmitt nicht zu kennen, entspann sich eine Lebensfreundschaft.
Michael Peter Ancher (Danish painter) 1849 – 1927
Den Druknede (The Drowned Fisherman), 1896
Jägers neues Buch, „Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens“ führt viele Motive zusammen, die ihn seit Langem beschäftigen: die Frage nach der jedem Menschen eingeschriebenen Zeitlichkeit, die Frage, ob es so etwas wie eine Semantik der Vorahnung des eigenen Todes gibt – ein Thema, das er übrigens ausführlich in „Signaturen des Schicksals“ (Matthes & Seitz, 2003) behandelt. Jäger diskutiert aber auch drängende aktuelle Themen wie die nach der Sterbehilfe oder transhumanistischen Bestrebungen, das Leben ins Unendliche auszudehnen. Zeit, ihn zu fragen, was sich über das Sterben lernen lässt – und somit über das Leben.
Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens
«Philosophieren heißt sterben lernen», bekannte Montaigne einmal. Er war nicht der Erste, der darauf hinwies, dass das Leben nur von der Endlichkeit her wirklich zu ergründen ist. Die «Ars Moriendi», die Kunst des Sterbens, hat eine weit zurückführende Tradition, und mit ihr untrennbar verbunden ist die «Ars Vivendi», die Kunst des Lebens, deren Ursprünge bis in die Antike reichen. Lorenz Jäger greift ein großes Thema auf und fragt in seiner ebenso klugen wie leichtfüßigen Erkundung, was die Endlichkeit für unsere Lebensführung bedeutet. Er blickt auf früheste literarische Werke wie das Gilgamesch-Epos und die Bibel, auf die fragwürdige Gelassenheit der Stoiker, das japanische Feiern der Vergänglichkeit oder die Unsterblichkeitsträume des Silicon Valley, befragt mit Georg Büchner einen Frühverstorbenen, mit Hans-Georg Gadamer oder Claude Lévi-Strauss Hundertjährige. Dabei spricht Jäger immer auch über unsere Gegenwart, über das, was unser Leben reich und sinnhaft machen kann, über unseren Umgang mit der Zeit angesichts der Endlichkeit, die Gestaltung unserer Ziele und Wünsche – ein im besten Sinne existenzielles Buch.
WELT: Ich finde, dir ist mit diesem Buch etwas Außerordentliches gelungen. Eine Geschichte des Lebens oder gar des Sterbens zu schreiben, das geht doch gar nicht, war mein erster Gedanke. Sie müsste von allem handeln. Du untersuchst Literatur, Geschichte, Philosophie, Religion und Märchen und erzählst einfach drauflos, wie gelebt wird – und wie gestorben.
Lorenz Jäger: Ich habe auch nichts mehr zu verlieren. Wenn jetzt Leute kommen und sagen: „Das ist völlig unwissenschaftlich!“ – das interessiert mich gar nicht mehr. Ich muss mich nicht mehr durch die entsprechende Terminologie anpassen. Ich kann das machen, was mir im Lauf des Lebens aufgegangen ist. In den letzten Jahren hat sich mein ganzer Begriffsrahmen verschoben: weg von Sprache, Theorie, Geschichte, Gesellschaftsthemen – hin zum Tod und solchen Dingen.
Georges Girardot (French painter) 1856 – 1914
The Death of Cleopatra, 1884
WELT: Du beginnst mit den ältesten Erzählungen, der Bibel, Homer, dem Gilgamesch-Epos. Zunächst ist der Tod noch etwas, das mitunter recht pragmatisch verhandelt wird. Erst mit der Individuation gewinnt er an Bedrohung, wird zur Tragödie.
Jäger: Ich habe versucht, das an einer Bibelstelle zu schildern, wo es sinngemäß heißt: „Mein Sohn, wenn jemand stirbt, bitte trauere, das gehört sich so. Wenn du das nicht machst, gucken die Nachbarn komisch. Aber trauere nicht länger als drei Tage.“ Das ist für mich so die archaische Form, da zählt der einzelne Tod nicht so sehr. Wir haben inzwischen ein anderes Verständnis von Individualität.
WELT: Wenn ich dich richtig verstehe, dann ist in der Gegenwart in unserem Verhältnis zum Tod aber einiges aus den Fugen geraten.
Jäger: Ich habe das Gefühl, dass alle fraglosen Gewissheiten über Leben und Tod ins Rutschen gekommen sind. Mich hat die Geschichte eines Freundes extrem schockiert: Seine Enkelin hat im Alter von 18 Jahren in Belgien assistierten Suizid begangen – wegen Dauerdepression. Das ist eine so furchtbare Vorstellung: dass du mit 18 deine Willenserklärung da abgibst, und dann kommt einer, der macht das Gutachten und den Stempel drauf. Wenn Leute das fast aus einer Laune heraus machen, wo es Therapiemöglichkeiten gäbe oder palliative Therapie … Das sehe ich als eine große Bewegung, in der die Fundamentalgewissheiten in die Schwebe kommen. Ich habe versucht, das herzuleiten: Es fängt mit Schopenhauer an, mit der Aufgabe des Willens zum Leben. Die Dinge haben einen langen Vorlauf, und wir leben jetzt in der dramatischen Phase, wo sich das sozusagen realisiert.
WELT: Ist es zwangsläufig so, dass im Zuge des zunehmenden Individualismus in der Gesellschaft die Grenzen von Tod und Leben immer radikaler verhandelt werden? Lässt sich manchen Entwicklungen gegensteuern oder gibt es kein Zurück?
Jäger: Das ist eine schwierige Frage. Es ist leichter, eine Sache gegen Widerstände durchzusetzen, als sie irgendwann wieder zurückzunehmen. Ich bin gespannt, wie das jetzt ausgeht mit der Abtreibung. Es gibt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus den Siebzigerjahren, als die ganze Sache schon mal weiter war durch die SPD-Regierung.
George Sherwood Hunter (British artist) 1846 – 1919
Kinderbegrafenis (A Dutch Child’s Funeral)
WELT: Du meinst, als 1975 die Fristenregelung wieder aufgehoben wurde, nach der Schwangerschaftsabbruch in den ersten 12 Wochen straffrei war.
Jäger: Das Verfassungsgericht hat gesagt: Das geht nicht. In dem Urteil wurde noch ganz offensiv das Wort „Lebensschutz“ verwendet. Selbst diese Formulierung – Schutz des ungeborenen Lebens – ist ja fast schon verpönt heutzutage. Ich habe sprachwissenschaftliche Untersuchungen herangezogen, die zeigen, dass sich für die Ungeborenen immer mehr so eine Terminologie durchsetzt, die sehr technisch ist, sehr medikalisiert. In der das Leben gar nicht mehr vorkommt.
Hans Heyerdahl (Norwegian painter) 1857 – 1913
Det Døende Barn (The Dying Child), 1889
WELT: Ich glaube, unsere Haltungen zu dem Thema sind etwas verschieden. Aber trotzdem empfand ich deine Ausführungen als interessant, wie sich die Sprache für den Embryo gewandelt hat. Du zitierst die Feministin Marie-Luise Jurreit, die in Reaktion auf das Urteil des Verfassungsgerichts damals schreibt, das Nervensystem sei nicht höher entwickelt als das eines „Insekts“.
Jäger: Das Problem der Abtreibung ist ja nicht isoliert. Das Problem des Selbstmords ist damit verbunden. Der hat bei mir ein eigenes Kapitel. Auch dort sehe ich eine Akzeleration, die schon im 19. Jahrhundert einen ziemlichen Drive kriegt. Die Antike war da – ohne das auszuformulieren – sehr skeptisch und hat Selbstmord nur in Ausnahmefällen toleriert, wenn die Leute keinen anderen Ausweg mehr gesehen haben.
WELT: Du nennst die Haltung der Antike zum Selbstmord „zurückhaltend“: Er taucht in Mythen auf, wie etwa bei Antigone, er wird nicht verurteilt, aber auch nicht heroisiert. Du schreibst, er „entzieht sich der moralischen Verurteilung“. Dann kommt das Christentum, das den Selbstmord zum ersten Mal radikal verbietet: Wir seien „nicht Eigentümer des Lebens“, das Gott uns gegeben hat. Wenn wir jetzt also ins 19. Jahrhundert springen: Was ist die große Veränderung?
Jäger: Da habe ich zwei Hauptzeugen, der eine ist der russische Schriftsteller Iwan Turgenjew und der andere ist Karl Marx. Beide schildern ein ähnliches Szenario. Bei Turgenjew ist es eine Frau, die sich während eines Konzerts vergiftet und dann tot ist vor aller Augen. Bei Marx (in der Ballade „Lucinde“, die Marx in seiner Jugend verfasste, Anm. d. Red.) ist es ein fiktiver Held, der heimkehrt, und die Geliebte ist inzwischen dabei, einen anderen zu heiraten, und er bringt sich dann vor der gesamten Festgesellschaft um. Diese aggressive, offensive Art, den Selbstmord darzustellen, das ist 19. Jahrhundert. Man kann sagen, heute ist die gegenteilige Bewegung: diese völlige Entdramatisierung. Du fährst in die Schweiz oder nach Belgien und dann ist die Sache gelaufen.
Hans Andersen Brendekilde (Danish painter) 1857 – 1942
Driven to the End, 1889
WELT: Auf der anderen Seite gibt es jene, die gar nicht mehr sterben wollen. Der 46-jährige Multimillionär Bryan Johnson lässt sich dafür rund um die Uhr von einem Team von Wissenschaftlern überwachen, ernährt sich fast ausschließlich von Nahrungsergänzungsmitteln. Sein Ziel ist es, den Alterungsprozess umzudrehen.
Jäger: Das ist Dorian Gray.
WELT: Ja, die Frage ist, welchen Preis er bezahlt. Jemand wie Bryan Johnson lebt von Tabletten und hört um 11 Uhr morgens auf zu essen, weil eine KI für ihn herausgefunden hat, dass ihm dieses Verhalten eine optimale Gesundheit ermöglicht. Das Leben wird einerseits fetischisiert – es soll am besten ewig währen –, andererseits verliert es dramatisch an Attraktivität, denn wer will schon so leben? Wie begreifst du das Verhältnis dieser beiden Pole zueinander?
Jäger: Beide sind sehr wissenschaftsabhängig. Der assistierte Suizid erfordert ebenfalls eine gewisse Technik der Medikamente. Solange man die Lebensverlängerung mittels einer Diät macht, ist es das eine … Ich glaube schon, dass man mit gesunder Ernährung älter werden kann. Die Menschheit hat ihre durchschnittliche Lebenszeit im 20. Jahrhundert sehr gesteigert. Aber irgendwann gibt es eine Grenze.
WELT: Der Tod gilt manchem im Silicon Valley mittlerweile als „Ideologie“. Du schilderst die kürzlich erschienenen Überlegungen des Philosophen Ingemar Patrick Linden, der meint, der Tod sei etwas, das nur zufällig „in unserer Kultur“ akzeptiert werde, das aber abgeschafft gehöre.
Jäger: Für mich ist interessant, dass in der frühen Sowjetunion und im postmodernen Kalifornien fast identische Vorstellungen entwickelt wurden. Das sind Konzepte, die mit einer großen revolutionären Energie verbunden sind. Du musst diesen Drive haben, wie Maxim Gorki ihn hatte, in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts, als er den Universitätsstudenten sagte: „Wir werden das schaffen mit der Unsterblichkeit. Wir haben ja heute auch U-Boote. Die hat es vor 100 Jahren auch noch nicht gegeben.“ Ganz ähnlich ist es, wenn man mal nach Palo Alto kommt und sich mit den Studenten unterhält. Was die für Vorstellungen haben, völlige Selbstüberzeichnung: „Nee, Angst vor dem Tod hab ich nicht. Bis es so weit ist, hab ich die Technik, da kann ich mein Bewusstsein dann runterladen.“
Zygmunt Andrychiewicz (Polish painter) 1861 – 1943
Śmierć Artysty – Ostatni Przyjaciel (Death of the Artist – The Last Friend), 1901
WELT: Kann es nicht sein, dass das irgendwann möglich ist?
Jäger: Ich glaube, was das menschliche Leben ausmacht, ist eine Öffnungsfähigkeit. Dass permanent die Beurteilungshorizonte wechseln, dass wir Sachen revidieren, dass wir neu planen müssen. Dass wir in eine Offenheit hineinleben. Diese Offenheit ist nicht in einer Programmsprache darzustellen, grundsätzlich nicht.
WELT: Entsteht der Sinn des Lebens erst durch seine Endlichkeit?
Jäger: Die Endlichkeit ist etwas, das den Wert unendlich steigert. Erst unter dem Druck der Endlichkeit müssen wir entscheiden und können dann hinterher feststellen, ob es vernünftig oder unvernünftig war. Erst dadurch erleben wir Kontur, Wertbesetzung. Deswegen habe ich auch das Gedicht von Emily Dickinson als Motto vorangestellt: „That it will never come again / is what makes life so sweet.“
WELT: Glaubt man diversen Untersuchungen, dann ist es so, dass die ganz jungen Menschen immer depressiver werden. Vielleicht hat ja das mit einem vorauseilenden Verlust dieser Wertbesetzung zu tun. Kommt uns das Begehren nach dem süßen Leben abhanden, weil die Grenzen scheinbar wegfallen?
Jäger: Das ist eine sehr gute Frage. Meine Frau ist ja Psychotherapeutin. Das haben wir in der zugespitzten Form, wie du es jetzt sagst, nie besprochen. Ich kann mir vorstellen, dass da etwas dran ist.
WELT: Du zitierst den italienischen Dichter Giacomo Leopardi: Der Kindheit und Jugend wohne ein „Hang zur Zerstörung“ inne, dem „reifen und dem fortgeschrittenen Alter“ hingegen ein „Hang zur Bewahrung von Natur.“ Hat sich das umgedreht – die Boomer zerstören und die Greta Thunbergs bewahren?
Marianne Stokes-Preindlsberger (Austrian painter) 1855 – 1927
A Parting, ca. 1884
Jäger: Die „Fridays for future“ sind ja trotzdem protestierend gegen das, was sie als das Herrschende verstehen. Die Haltung des Protestes ist die der Jugend, weil sie ihre eigenen Werte gerade erst entdeckt, geltend machen muss. Es gibt gar keine andere Chance als den Protest. In dem Maße, wie sie Erfolg haben, werden sie konservativer, weil sie dann merken, dass ihre Absichten in die Gestalt der Welt eingegangen sind. Das wollen sie dann festhalten. Deswegen ist der Protest nicht ins Endlose verlängerbar, irgendwann musst du ja sagen: Wie die Welt aussieht, das hat etwas mit meiner eigenen Praxis zu tun, die ich in den letzten 40 Jahren betrieben habe. Da ist man dann vorsichtiger.
WELT: Du entwickelst in deinem Buch eine Theorie der Lebensalter. Die erste Lebenskrise siehst du im Alter von 28 bis 30 Jahren, wenn „aus der Fülle der Möglichkeiten eine Wirklichkeit wird“.
Jäger: Bis zu dem Alter glaubt man, man kann noch alles machen: Man kann Straßenmusiker werden, man kann promovieren … Irgendwann ist aber eine Entscheidung einfach da. Die hat sich dann hergestellt. Ingeborg Bachmanns schöne Erzählung „Das dreißigste Jahr“ handelt von den Schwierigkeiten, die es bereitet, sich in eine endliche Wirklichkeit zu finden, wo man vorher noch unendliche Fantasien gehabt hat. Man muss seine Energien in bestimmte Kanäle schicken, damit man sie überhaupt wirksam machen kann.
Petrus van der Velden (Dutch painter) 1837 – 1913
The Dutch Funeral, 1875
WELT: Wo befinde ich mich mit meinen 36 Jahren?
Jäger: Du bist in der vollen Professionalität. Das läuft auch noch ein paar Jahre ganz gut, dann kommt mit ungefähr 40 der Moment, wo du dich fragst: „War es das jetzt schon? Oder sollte ich nicht noch mal was völlig anderes probieren?“
WELT: Du hast deine eigene Theorie der Midlife-Crisis: dass man das ganz andere wollen muss, weil das Ich ausgestaltet ist. Es gibt in einem selbst keine Möglichkeitsräume mehr sozusagen.
Jäger: Ja. Das ist eine wahnsinnige Schwierigkeit. Du bist eigentlich fertig, aber du darfst nicht fertig sein! Das ist tödlich!
Louis Edouard Fournier (French painter and illustrator) 1857 – 1917
The Funeral of Shelley, 1889
WELT: Eine interessante philosophische Erklärung für das Klischee vom Sportwagen, den Männer sich auf einmal zulegen …
Jäger: Ja …
WELT: Ist das Verhältnis von Männern und Frauen zum Sterben ein anderes? Es scheint, als wären Männer häufig bereit, ihr Leben zu riskieren.
Jäger: Wenn es da ein Ungleichgewicht gibt, dann, weil Männer risikobereiter sind als Frauen. Sie sind es von Natur aus. Die Frau muss versuchen, das Risiko für sich zu vermindern, weil sie mit dem Kind alleine schwer durchkommt. Der Mann kann weggehen. Achill ist der typische Risikoheld. Er sagt: Ich sterbe eher ruhmbekränzt hier vor Troja, als dass ich nach Hause zurückkehre und 80 Jahre alt werde, aber kein Mensch über mich redet. Das ist eine typische männliche Einstellung. Odysseus, der Frau und Sohn hat, muss sich schon anders verhalten. Achilles ist ja ganz jung, der ist vielleicht gerade mal 20.
WELT: Was hast du über das Sterben herausgefunden, das du weitergeben möchtest?
Jäger: Das Gedicht von Rilke: „O Herr, gib jedem seinen eignen Tod“. Ich glaube, dass das der Punkt ist, an dem man sehr viele Entdeckungen machen kann. Freud hat in „Jenseits des Lustprinzips“ gezeigt, dass der Lebens- und der Todestrieb einander verkoppelte Prinzipien sind. Insofern stirbt auch jeder Organismus, wenn er nicht einer Massenvernichtung zum Opfer fällt, auf seine eigene, unverwechselbare Weise. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein Gesichtspunkt für eine – auch praktische – Sterbensbegleitung sein könnte.
Philip Sadée (Dutch artist) 1837 – 1904
Cimetière du Père Lachaise, Paris, 1895
WELT: Du schreibst, wenn man jenseits der 80 ist, hat sich alles so transformiert, dass man es nicht mehr wiedererkennt. Da bist du ja mit Anfang Siebzig noch lange nicht. Magst du beschreiben, wo du dich gerade verortest?
Jäger: Mir geht es sehr gut. Ich habe das Glück, eine gute Frau zu haben. Das verlängert das Leben.
WELT: Das ist bei den Männern so, die Frauen sterben eher früher, wenn sie verheiratet sind.
Jäger: Das ist das größte Glück, das man haben kann. Dass man in der Partnerwahl wenigstens einmal richtig gelegen hat. Das ist das, was ich zu meinem Befinden sagen kann, dass es in hohem Maße dadurch bestimmt ist, dass ich mit meiner Frau hier lebe.