Viele von uns essen Fleisch, ohne groß darüber nachzudenken. Das Schlachten überlassen wir anderen. (Das nennt man Affektauslagerung). Unser Autor fragt sich, ob er dazu in der Lage wäre – und startet einen fatalen Selbstversuch.
Als ich die Klinke herunterdrücke und den Schlachtraum betrete, kriecht mir der Tod in die Nase. Ich habe mich nie gefragt, wie er riecht. Und stelle fest: Er stinkt. Es ist ein warmer, stechender Geruch, der durch meine Nase in meinen Kopf steigt und dort so lange verharrt, bis ich Kopfschmerzen habe.
Vor mir klemmen sieben Masthühner kopfüber in einem silbernen Trichter. Darunter liegt ein Messer in einer Tropfschale. Ich schaue an mir herunter. Mit meinem weißen Kittel und den Einweghandschuhen sehe ich aus wie ein Gerichtsmediziner. Nur dass ich nicht hier bin, um eine Todesursache festzustellen. Ich bin hier, um zu töten.
Das Töten von Tieren ist seit Jahrtausenden Teil der menschlichen Kultur. Unsere Vorfahren jagten Wildtiere, um zu überleben. Wir jagen dem perfekten Gericht hinterher, um unseren Genuss zu steigern. In Deutschland sterben laut Statistischem Bundesamt jeden Tag mehr als zwei Millionen Nutztiere, die meisten davon sind Hühner, Puten und Enten. Im Schnitt isst jeder Deutsche 13 Kilogramm Geflügelfleisch im Jahr – anders als bei Schwein und Rind ist die Tendenz steigend.
Auch ich esse Fleisch. Nicht oft, aber ich tue es. Zu besonderen Anlässen wie Weihnachten und Ostern oder – wenn ich ehrlich bin – auch zu weniger besonderen Anlässen. Manchmal reicht es, dass der Dönerladen duftet.
Spätestens seit März 2022 habe ich ein ambivalentes Verhältnis zu Fleisch. Bis dato hinterfragte ich meinen Konsum kaum. Dann reiste ich mit Freunden nach Nepal. Dort aßen wir aus hygienischen Gründen kein Fleisch. Nur einmal machten wir eine Ausnahme, da ein Mann eine Ente frisch für uns köpfte. Als er sie schlachtete, stand ich daneben und hatte Mitleid mit dem Tier, das noch versucht hatte, vor dem Kescher wegzuschwimmen. Seitdem frage ich mich, warum ich diesen Prozess immer ausgeblendet habe, wenn ich Fleisch aß.
Grüne Landschaften – statt abschreckender Bilder
Dass Tiere sterben müssen, damit Menschen sie essen können, ist nur den wenigsten permanent bewusst. Wenn wir in den Supermarkt spazieren, dann ist die Geschichte hinter dem abgepackten Filetstück eine Nebensache. Selbst wenn wir zum Bioprodukt greifen. Statt abschreckender Bilder sind auf den Wurstverpackungen grüne Landschaften zu sehen. Nichts deutet darauf hin, dass da ein Tier gestorben ist.
Mit jedem Supermarkteinkauf verblassten auch meine Erinnerungen aus Nepal, an die Ente und ihren netten Henker mit dem großen Säbel. Vielleicht war das alles noch nicht eindringlich genug. Ja, vielleicht muss ich selbst ein Tier töten, um wirklich zu verstehen, was Fleischessen bedeutet.
Was für ein schrecklicher Gedanke. Ich habe noch nie ein Tier getötet. Also klar, mal eine Spinne oder eine Ameise, aber kein Säugetier, keinen Vogel, nicht mal einen Fisch. Aber der Gedanke lässt mich nicht los. Würde ich es übers Herz bringen? Und wenn nicht: Kann ich dann überhaupt noch vor mir selbst rechtfertigen, Fleisch zu essen?
Ich beschließe, es zu wagen
Ich beschließe, es zu wagen und kontaktiere Siegfried Ochsenschläger. Er hat einen Hofladen im hessischen Biblis und ist Mitglied der Bewegung Slow Food, die sich für bewusstes, regionales Essen einsetzt. Wir telefonieren kurz. Ich frage ihn, ob es möglich wäre, unter seiner Aufsicht und Anleitung ein Huhn zu schlachten. Wir verabreden uns für einen Montagmorgen im April.
Nach dem Gespräch setze ich mich sofort hinter den Laptop und tippe „Huhn-Schlachtung“ in das Suchfeld bei Youtube ein. Ich klicke auf das oberste Video. Der Metzger in dem Tutorial hat einen norddeutschen Dialekt und begleitet jeden Arbeitsschritt mit einem trockenen Spruch. Als die Rupfmaschine aufhört zu drehen, hält er ein Huhn in die Kamera: „So sehen die dann aus, die Geräte. Noch ’n bisschen wat zum Nachzuppeln. Ansonsten tippitoppi.“
Bis 10 Uhr werden 100 Hühner tot sein
Bei Siegfried Ochsenschläger geht es einige Wochen später ähnlich pragmatisch zu. Als er den ersten Schnitt setzt, spritzt Blut aus dem Hals eines gefiederten Tieres. Es ist kurz nach 7 Uhr morgens in Biblis bei Darmstadt. Bis 10 Uhr werden in diesem Raum 100 Hühner gestorben sein. Normalerweise, wenn sein Mitarbeiter ihm hilft, schafft Ochsenschläger 50 in einer Stunde, doch der Kollege hat sich für heute abgemeldet. Stattdessen stehe ich im Schlachtraum. Und ich bin keine große Hilfe. Die Eindrücke überfordern mich. Der Griff in die Plastikbox, zack, ab in die Elektrode, Elektroschock, kopfüber in den Trichter, Schnitt, Brühkessel, Rupfmaschine, repeat.
Ochsenschläger besitzt zwischen 1600 und 2000 Hühner. Er kauft sie als Eintagsküken aus Frankreich. Nach vier bis fünf Wochen im Kükenaufzuchtstall kommen sie nach draußen auf die Weide. Sie fressen das Futter, das Ochsenschläger selbst anbaut. Am Abend bringt er sie dann in den Stall und kontrolliert noch mal die Türen. Sonst kommt ja der Marder oder der Fuchs.
Früher wurde per Hammerschlag betäubt
Früher, da hat Ochsenschläger noch per Hammerschlag betäubt. Inzwischen gelten neue Standards. Er hat eine Elektrode im Schlachtraum. Nach einem Stromschlag mit 260 Milliampere besteht kein Zweifel mehr, dass die Tiere zu hundert Prozent betäubt sind, sagt er und schreitet zum Trichter. Er deutet mit dem Finger auf das Auge eines noch lebenden, aber schon bewusstlosen Tieres. Das Auge würde flackern, wenn das Huhn Schmerzen verspürte, sagt Ochsenschläger und greift zum Messer.
Als er das nächste Huhn aus der Plastikbox holen will, entwischt es ihm. Entgeistert gucke ich zu, wie der braune Vogel einmal quer durch den Raum fliegt und hinter dem Brühkessel in der Ecke haltmacht. Ochsenschläger stellt sich an die eine Seite des Kessels und sagt mir, ich solle die andere zustellen. Dem Huhn sozusagen den Weg abschneiden, damit es nicht entkommen kann. Unbeholfen stehe ich da und tue so, als würde ich ernsthaft Beihilfe leisten. Natürlich büxt es an meiner Seite aus und fliegt an mir vorbei in den Nebenraum. Ochsenschläger seufzt.
Darf man Tiere töten, um sie zu essen?
Die lebenden Hühner werden immer weniger. „Nun soll das Ganze ja hier ein Selbstversuch werden“, stammle ich los. Ochsenschläger sagt, ich solle mir Handschuhe aus dem Nebenraum holen und dann wiederkommen.
Kommen wir zur moralischen Frage. Ist es okay, Tiere zu töten, um sie zu essen? Bei meiner Recherche werde ich auf einen Essay in der „Süddeutschen Zeitung“ aufmerksam: „Wer Tiere liebt, sollte sie essen“. In einer Welt voller Vegetarier würde es Hühner, Schweine, Kühe, Ziegen und Schafe nicht mehr geben, schreibt die Autorin. Sie lebten ja nur, weil wir sie züchteten, um sie zu essen. Also besser züchten, um zu töten, als ihnen ihr ganzes Leben zu verwehren. Auf den ersten Blick leuchtet mir das ein.
Dann stoße ich auf das Buch „Tiere essen – Dürfen wir das?“ von Friederike Schmitz. Es ist eines von drei Büchern, die die Tierethikerin geschrieben hat. Sie fordert ein Ende der Nutztierhaltung. „Mindestens 99 Prozent der Produkte aus der Nutztierhaltung werden auf eine Weise erzeugt, die vielen Tieren schwere Leiden zufügt“, schreibt sie.
„Ich nehme es und atme noch einmal tief durch. Dann setze ich den Schnitt, und es ist vorbei, das Leben des Huhns“ – so beschreibt unser Autor den Griff zum Messer.
Doch ich lese auch bei ihr, dass man sich überlegen sollte, ob man selbst ein Tier töten könnte, wenn man Fleisch essen will. Damit würde man die eigenen emotionalen Reaktionen testen. Ich fühle mich in meinem Vorhaben bestärkt – und rufe Schmitz an. Doch die Frau am anderen Ende der Telefonleitung bremst mich: „Ich glaube schon, dass das eine lehrreiche Erfahrung sein kann. Aber man darf die Aussagekraft auch nicht überschätzen.“ Selbst wenn ich es gut hinkriegte, hieße das nicht, dass es richtig sei, ein Tier zu töten.
Der Schlachtraum als martialischer Mikrokosmos
In Biblis stülpe ich mir die Einmalhandschuhe über, drücke die Klinke runter und betrete den Schlachtraum aufs Neue. Es stinkt. Neben der Rupfmaschine liegen haufenweise Federn auf dem Boden. Überall Blutflecken. Ich fühle mich, als wäre ich in einem martialischen Mikrokosmos gefangen.
Ochsenschläger schiebt die Türen der Plastikbox zur Seite und holt ein Huhn heraus, dass sich weniger lautstark beschwert als manche seiner Vorgänger. Bevor er mir das Tier übergibt, erklärt er, wie ich es greifen soll. An den Schenkeln. Check. Dann die Flügel fixieren. Check. Und den Kopf von oben nach unten durch die trichterförmige Elektrode ziehen. Ich setze an. Jetzt muss alles schnell gehen. Ochsenschläger hilft mir. Auf der digitalen Kontrolltafel läuft ein oranger Balken von links nach rechts, als würde ein Computerspiel laden. Dann blinkt ein Lämpchen grün. Es piept. Das Tier ist betäubt.
Ich nehme das Huhn, schreite zum Trichter und stecke es kopfüber hindurch. Wo ist denn jetzt der Kopf? Ochsenschläger zieht es am Hals nach unten durch die Trichteröffnung und deutet auf das Messer, das in der mit Blut bedeckten Tropfschale liegt. Ich nehme es und atme noch einmal tief durch. Dann setze ich den Schnitt, und es ist vorbei, das Leben des Huhns.
Zwei Jahre lang hatte ich mich gefragt, ob ich es übers Herz bringen würde, ein Tier zu töten. Und falls nicht, ob ich dann noch vor mir selbst rechtfertigen könnte, Fleisch zu essen. Jetzt habe ich es also getan. Und nun? Kann ich jetzt sagen, dass ich Fleisch essen darf, weil ich ja jetzt weiß, wie es sich anfühlt, ein Tier zu töten? Nein. Schmitz hatte recht. Ich bin keinen My schlauer, ob das nun richtig oder falsch war. Zumindest hat es sich falsch angefühlt. So leicht es mir auch von der Hand ging.
Ein Monat später. Ich habe überhaupt keinen Appetit auf Fleisch. Beim Gedanken daran kommt mir der Geruch aus dem Schlachtraum wieder hoch. Zwei Monate später. Immer seltener denke ich an das Huhn in Biblis, aber ich verzichte beim frühsommerlichen Angrillen auf die Bratwurst. Drei Monate später. Ein Freund hat Spaghetti Carbonara gekocht und mir auch einen Teller hingestellt. Ich seufze und sündige.