Sei gut zu dir selbst! Nimm deine Bedürfnisse wahr! So tönt es von allen Seiten. Das eigene Selbst ist zur Ideologie geworden. Mit Selbsterkenntnis hat das wenig zu tun.
Auch im Lockdown kann man Neues lernen. Ich zum Beispiel habe gelernt, mich vor mir selbst zu verneigen. Nachdem ich jahrelang gesagt hatte, Yoga sei nichts für mich, kam das Home-Office. Und mit ihm die Verspannungen in Rücken und Nacken. Nun folge ich manchmal einer betont lieben Yoga-Trainerin in den Hund oder in die Heuschrecke. Die Übungen tun mir gut, doch etwas irritiert mich: Am Ende jedes Videos sagt die Trainerin zuckersüss: «Verneig dich vor dir selbst!», und beugt den Kopf über ihre zum Namaste-Gruss gefalteten Hände.
Was genau soll ich hier tun? Auf Sanskrit bedeutet «Namaste» «Ich verbeuge mich vor dir» und bezeichnet eine Respektbekundung anderen gegenüber. Aber mich vor mir selbst zu verneigen? Wie soll das gehen, wenn mir niemand gegenübersitzt? Soll ich mich verdoppeln? Wo und was ist dieses «Selbst» überhaupt?
Mein Geist, der doch gerade durch die Körperübungen beruhigt wurde, gerät wieder ins Grübeln.
Stimmt es für mich?
Vielleicht hängt die rätselhafte Aufforderung mit dem Titel des neuen Yoga-Programms zusammen. Die nette Trainerin und ihre Followerinnen sind nämlich mit «Sweet Selfcare» ins neue Jahr gestartet. Das ist besser als alle guten Vorsätze. Selfcare ist nicht nur erstrebenswert, sondern auch süss – und das Gebot der Stunde. Auf Instagram gibt es unter dem gleichnamigen Hashtag über 58 Millionen Einträge.
Sogar die Stadt Zürich informiert zum Thema Selbstsorge auf ihrer Website. Dort steht: «Damit man über längere Zeit einer Krise standhalten kann, braucht es Liebe und Sorge zu sich selber. Kennen Sie Ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche?»
Wenn mich schon die Stadtbehörden nach meinen Wünschen fragen, müssen diese offenbar sehr wichtig sein.
Nicht nur in Lebenshilfe-Empfehlungen oder auf Instagram, auch in Gesprächen mit Freunden oder Coaching-Cracks werde ich ermuntert, mich um mich selbst zu kümmern, mir selbst Gutes zu tun, mich und meinen Körper wahrzunehmen. Im Meditationskurs lerne ich, mir selbst ein Lächeln zu schenken. Und in jeder Situation habe ich darauf zu achten, ob es «für mich stimmt», während mir Bekannte und Freundinnen wiederum darlegen, was für sie stimmt.
Natürlich wünschen wir uns alle ein stimmiges Leben, brauchen Erholung und Ausgleich, können nicht immer nur leisten und liefern. Doch nicht alle haben die Möglichkeit, täglich «Me-Time» einzuplanen, wie es Ratgeber empfehlen, sich ein heisses Bad mit Lavendelduft einzulassen oder joggen zu gehen.
Gerade jene Menschen, die Ausgleich am nötigsten hätten, kommen im alltäglichen Räderwerk von Care-Arbeit oder Existenzkampf oft gar nicht dazu, über eigene Bedürfnisse nachzudenken. Selfcare riecht nach Privilegiertsein. Ausserdem ist die unermüdliche Suche danach, was uns guttut, eigenartig beschränkt: Wir landen immer wieder bei uns selbst.
Corona hat die Sache nicht besser gemacht. Zum gesteigerten Individualismus kommt der diffuse Wunsch, uns für die pandemiebedingten Einschränkungen zu belohnen, unseren Verzicht zu kompensieren. Gefangen in den eigenen vier Wänden, zurückgezogen in einen kleinen Kreis, blicken wir noch obsessiver auf uns selbst.
Wir haben uns vom öffentlichen Leben abgewandt und nutzen stattdessen die Gelegenheit, an uns zu arbeiten, um – endlich! – besser oder schöner zu werden. Wie besser und schöner genau aussieht, zeigt uns das unendliche Spiegelkabinett des Internets. Wir hatten in den letzten zwei Jahren viel Gelegenheit zur Selbstsorge, oder wie es der Philosoph Michel Foucault formuliert hat, um «uns selbst zum Kunstwerk zu machen».
Die Soziologin Anja Röcke weist darauf hin, dass sich Strategien der Selbstoptimierung wie Fitnesstraining und Yoga, gesunde Ernährung, die Arbeit am Äusseren ebenso wie am Inneren stets auf die eigene Person richten. Letztlich geht es immer um das Ich. Das unaufhörliche Kreisen um das eigene Selbst ist zur Ideologie geworden. Es ist in unsere Alltagssprache eingedrungen, in die Kindererziehung, in die Bilder, die wir uns von uns selber machen.
Plötzlich erscheint es normal, sich vor sich selbst zu verneigen. Es gibt ja sonst nichts Wichtigeres im Universum. Höhere Instanzen haben wir längst entsorgt. Einen Bezugspunkt ausserhalb von uns selbst erkennen wir nicht an. Statt an Utopien orientieren wir unsere Zukunft am Projekt Ich. Wir haben uns so daran gewöhnt, unsere subjektiven Bedürfnisse absolut zu setzen, dass manche bereits die Maskenpflicht als persönliche Kränkung wahrnehmen. Die Pandemie hat vieles beschleunigt, so auch die Ausbreitung des Gefühls: Ich bin der Nabel der Welt.
Damit ist aber die Frage nicht beantwortet: Vor wem oder was verneige ich mich, wenn ich mich vor mir selbst verneige? Um wen sorge ich mich, wenn ich mich um mich selbst sorge?
Hier hilft vielleicht ein Blick an jenen Ort, der einst als «Nabel der Welt» bezeichnet wurde. Er liegt in den Hügeln von Delphi in Griechenland, am Ort des berühmten Orakels. Ein Stein, der als Meteor vom Himmel gefallen sein soll, markierte im Apollon-Tempel den Nabel der Welt. Am Eingang ebendieses Tempels stand: «Erkenne dich selbst».
Offensichtlich war bereits den alten Griechen und Griechinnen klar, dass es nicht so einfach ist mit der Selbsterkenntnis; sonst hätten sie diese Aufforderung nicht auf die Tempelfassade geschrieben. Auch für Platon, der über die «Sorge um sich» geschrieben hat, lange bevor Selfcare-Tipps in sozialen Netzwerken kursierten, war die Selbstreflexion zentral für ein gutes Leben.
Im Spiegel der Anderen
Was in Delphi vor fast dreitausend Jahren formuliert wurde, bleibt bis heute eine Herausforderung. Manche widmen sich ihr durch jahrelanges Nachdenken oder in unzähligen Therapiesitzungen. Unsere Beweggründe und Verhaltensmuster sind uns selbst allzu oft unklar, und wir sind gut darin, uns selbst zu täuschen. Doch Selfcare hilft hier wenig.
So lange wir nur um uns selbst und die eigenen Bedürfnisse kreisen, sehen wir nicht klarer. Dafür brauchen wir den Spiegel von aussen: Gespräche, kritische Fragen des Gegenübers, eine andere Version der Geschichte als die eigene. Selbstreflexion – im ursprünglichen Sinn des lateinischen reflectere, zurückbeugen – entsteht erst an einem Ort ausserhalb von uns selbst, von dem aus der eigene Blick zurückgeworfen wird.
Erst in der fremden Perspektive schärft sich der Blick. Selbsterkenntnis ist unmöglich, solange wir völlig von uns selbst eingenommen sind.
Abgesehen davon, dass es neben meinem subjektiven Standpunkt auf der Welt noch acht Milliarden andere subjektive Standpunkte gibt, ist es auch einfach langweilig, nur um mich selbst zu kreisen. Auch das wurde mir während der Pandemie bewusst: Ich bin mir selbst nicht genug. Ohne Austausch ist das Leben ziemlich fad. «Für Menschen heisst Leben ‹unter Menschen weilen›», schrieb die Philosophin Hannah Arendt.
Leben in Verbindungen
Wenn niemand «du» zu mir sagt, kann ich auch nicht «ich» sagen. Wir existieren in Verbindungen. Doch die Ich-Ideologie droht uns davon abzulenken, dass wir auch soziale Wesen sind. So dass wir beinahe vergessen, dass es neben der Selbstoptimierung auch möglich ist, gemeinsam etwas zu erreichen und zu verbessern.
Spätestens mit dem Ende der Pandemie werden wir wieder von der obsessiven Beschäftigung mit uns selbst ablassen und Beziehungen zur Welt und zu anderen Menschen aufbauen. Die Welt verheisst ja wieder grösser zu werden, und Begegnungen sind nicht länger mit Gefahr assoziiert.
Mehr Austausch bringt auch mehr Konfrontationen, mehr Spiegel, die mir vorgehalten werden. Ich werde keinen Grund mehr haben, mich beim Yoga vor mir selbst zu verneigen. Lieber rücke ich ein Stück weg von mir selbst und kündige der Yoga-Trainerin das Abo.