Ab heute nennt mich bitte Sebastian.
»Was nützt es in einer Welt ohne Teleologie, die göttliche
Gnade anzurufen? Noch immer erzeugt das Opfer die Grenze
zwischen dem Profanen und dem Heiligen, doch anstelle und
am Ort des Göttlichen ist nichts und niemand mehr.«
Anne Dufourmantelle
In unserer Gesellschaft hat die Gnadenlosigkeit zugenommen: Klimawandel und Artensterben spiegeln unseren gnadenlosen Umgang mit der Natur wider, im Umgang untereinander und uns selbst gegenüber herrschen Perfektionszwang und mangelnde Fehlertoleranz. Die Digitalisierung bringt neben unbestreitbaren Vorteilen auch bedenkliche Folgen für die Psyche mit sich, die bis in die analoge Debattenkultur hineinwirken: Entdifferenzierung und Polarisierung prägen öffentliche Auseinandersetzungen. Dabei ist der Bezug zum Begriff der Gnade weitgehend verloren gegangen. Doch auch in der Gnade selbst liegen Schattenseiten, denn sie kann leicht als Machtinstrument missbraucht werden.
Infolge der entstandenen Debatte stellte ich mir die Frage, ob wir gegenwärtig überhaupt noch ein Verständnis für das Phänomen der Gnade haben. Muss man sich die Gnade erst verdienen, sich ihrer als würdig erweisen oder wird sie einem bedingungslos zuteil, sozusagen auch ohne erbrachte Vorleistung? Ist dieser Begriff in gewisser Weise mittlerweile überholt, an andere, längst vergangene politische und gesellschafliche Verhältnisse gebunden? So einfach ließen sich diese Fragen jedoch nicht zufriedenstellend beantworten. Ihnen nachzugehen und sie auf den unterschiedlichsten Ebenen zu verhandeln, sie in verschiedenen Facetten und Bereichen zu spiegeln und mit dem Aspekt der Gnadenlosigkeit zu kontrastieren, darin liegt nun die Intention der vorliegenden Texte.
Bei mir ist alsbald der Verdacht aufgekeimt, und hat sich dann leider
auch zunehmend bestätigt, dass in unserer gegenwärtigen Gesellschaft etwas fehlt, dass wir mit solch einer Begriffichkeit gar nichts mehr so recht anzufangen wissen, die dafür nötigen Antennen sind nicht ausgefahren. Im Sog des lange Zeit grassierenden Machbarkeitswahns fehlt uns womöglich die Anerkennung einer höheren Instanz, sei es nun die Natur oder sei es ein Gott. Demut, Barmherzigkeit und Gnade sind uns offenbar sehr fremd geworden. Der Respekt vor der Schöpfung hat sich verflüchtigt. Von den
zahlreichen Schattenseiten der Religion und deren üblen Folgen als Instrument der Unterdrückung wollte uns die Aufklärung zu Recht befreien. Damit war allerdings auch ein bedauerlicher Verlust an Transzendenzerfahrung verbunden.
»Manchmal geschieht nichts, und auch das ist bereits Gnade.«
Anne Dufourmantelle
Wir genießen eine ganze Reihe von äußerst wertvollen Freiheiten, die
unbedingt geschützt werden sollten. Aber trotz alledem bleibt ein gewisses Unbehagen, dass hier doch etwas Wesentliches fehlt. Die Orientierung an Nützlichkeit, Effektivität und Pragmatik hat zweifellos ihre Berechtigung und ihren Sinn, aber man sollte sich nicht allein darauf beschränken.
Braucht es vielleicht sogar eine neue, anders formulierte Aufklärung, die auch das Irrationale als Teil der Realität integriert? Fantasien, Vorstellungen und Träume sind darin eben auch wirksame Teile der
Realität. Sie existieren und haben konkret fassbare Folgen.
Einen vielversprechenden, ungemein unkonventionellen Weg weist
auch der amerikanische Philosoph und ‚eologe John D. Caputo in seiner Abhandlung Die Torheit Gottes (2022), in dem er Gott nicht als höchstes Wesen, sondern als ein schwaches Vielleicht entwirft.
Ist Gott vielleicht nicht ein höchstes Wesen, sondern ein schwaches Vielleicht? Den niemand anruft und der allein in seinem Bus sitzt?
In seiner radikalen Theologie sucht er, in Anlehnung an den berühmten Theologen Paul Tillich (1886–1965), Gott nicht in der Höhe, sondern in den Tiefen, an den Wurzeln der menschlichen Existenz. Diese theologische Konzeption bricht mit vertrauten Mustern, denkt viel weniger dogmatisch, sondern weitaus offener und freier. Sie ließe sich, losgelöst von Glaubenszwängen,
ebenso mit der Aufklärung, ja, sogar mit dem Atheismus verknüpfen. Derrida spricht von einer »Religion ohne Religion«, Caputo von einer »Proto-Religion«. Die Solidarität mit den Schwachen bleibt dabei ein zentraler Gedanke. Demut, Gnade und Barmherzigkeit sind keineswegs überholt und könnten wieder eine größere Rolle spielen, aber auch die Vernunft ist willkommen und der Zweifel wird begrüßt. Eine Legierung von Aufklärung und Spiritualität in Verbindung mit zeitgenössischer postmoderner Theorie – könnte das nicht tatsächlich ein attraktives Modell für die Gegenwart sein?
Ein integrativer Prozess, der die zuvor so gegensätzlichen, ja, sich geradezu feindselig gegenüberstehenden Positionen miteinander zu einemneuen, vielfältigen Ganzen verknüpft, ein versöhnlicher Vorgang, wie er auch bezüglich der unterschiedlichen Schulen der Psychotherapie im Laufe der Zeit möglich wurde und das Spektrum erfreulich erweitert hatte. Mehr Freiheit in der therapeutischen Praxis war die begrüßenswerte Folge, man konnte vieles durchaus sinnvoll und auf neue Weise miteinander kombinieren, ein spielerischer Umgang mit theoretischen wie praktischen Zugängen wirkte belebend. Diese entspannende Entdogmatisierung scheint aber in
jüngster Zeit leider wieder zurückgedreht zu werden. Der Eklektizismus der Postmoderne, der heute so oft scharf kritisiert wird, hatte fraglos auch seine berechtigten Seiten. Die Postmoderne wurde aber in jüngster Zeit als Sündenbock auserkoren und als Fehlentwicklung gebrandmarkt, ihre Positionen wurden verworfen. Beliebigkeit lautet der Vorwurf, mit dem man es sich nun doch ein wenig zu leichtmacht. Gerade die Dekonstruktion versucht demnach den Wesenskern einer Sache in der Tiefe zu erfassen, in dem sie vor allem auf ihre zunächst verborgenen Aspekte abzielt und sie sichtbar macht. Der Vorbehalt postmoderner Philosophien gegenüber den »großen Erzählungen« war nun auch alles andere als unbegründet. Jetzt aber kehren wir wieder zurück zur Lagerbildung, so scheint es.
Wenn die Psychoanalyse also nun schon seit Längerem zunehmend von der Verhaltenstherapie abgelöst wird, sozusagen ein Vorgang der Verdrängung – es existieren nur noch zwei analytische Lehrstühle in Deutschland –, so spiegelt diese einseitige Entwicklung auch gesamtgesellschaftliche Phänomene wider, das bedeutet aber eine traurige Verengung der Perspektive, einen Verlust an Tiefe, Vielfalt, an Aufmerksamkeit auch für die Details einer Lebensgeschichte, in denen sich gerade die Individualität zeigt. Der kürzeste Weg ist keineswegs immer der beste Weg. Er kann auch der armseligste Weg sein.
»Wir stehen am Beginn einer kleinen Eiszeit, einer Zeit steter und unmerklicher Anästhesierung. Die Freizeit ist durchorganisiert und die Meinungen sind gesteuert, denn es soll bloß keine Überraschungen, Fehltritte oder größere Veränderungen geben. Je mehr die Menschen sich mit dem Morgen beschäftigen, desto melancholischer werden sie, hier, vor unseren Augen«,
Anne Dufourmantelle
stellt die französische Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle (2021, S. 123) in ihrem überaus gehaltvollen Büchlein Verteidigung des Geheimnisses fest. Sie plädiert für die Macht der Sanftheit und fragt, ob es nicht einfach genügen würde, »die Liebe als eine Mischung aus Wissen und Geduld zu begreifen« (ebd.).
Will sich keiner mehr anstrengen, sich niemand jemals mehr Mühe
geben? Anstrengung wird nurmehr als Voraussetzung sportlicher und gesundheitlicher Fitness akzeptiert und geschätzt, in anderen Bereichen aber geradezu vehement abgelehnt. Warum? Aversionen gegen Bildung und vor allem gegen jede Form von Komplexität befördern den weiteren Aufstieg der Rechtspopulisten. Die Vereinfacher sind die Gewinner, so scheint es.
Eine billige Lösung. Muss sich ausnahmslos alles immer lohnen, hat sich einberechnender Lebensstil flächendeckend ausgebreitet? Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche dringt in jede noch so kleine Ritze. Die Sprache verändert sich, sie lädt sich mit fiskalischen Begriffen auf, die mittlerweile Allgemeingut, ja, selbstverständlich geworden sind. Wir »investieren« in Beziehungen und sprechen nun zumeist vom »Gewinner« eines Wettkampfs und nur noch selten vom »Sieger«. Der Sinn für Asymmetrien aber verkümmert. Wir denken nur noch in Leistung und Gegenleistung. »Was bekomme ich dafür?«, lautet die ewige Frage. Hier also läge das widerständige Potenzial einer Gnade ohne Vorbedingung. Wir aber sind bereits erschöpft, ohne uns zuvor überhaupt bemüht zu haben, erschöpft vom Ausbleiben der Anstrengung. Die Trägheit vermehrt sich wie von selbst. Aber »das Schlaraffenland« ist mittlerweile abgebrannt, wie der jüdische Publizist Michel Friedman völlig zu Recht schreibt (2023). Wir können uns nicht mehr zurücklehnen. Es wird also anstrengend.