Ein Neuropsychiater legt dar, warum nur eigenständiges Denken und kritisches Hinterfragen helfen können, Resilienz gegen autoritäre Strukturen zu entwickeln. Eine Rezension
Adolf Eichmann war glücklich, seine Arbeit »gut« erledigt zu haben: Als Koordinator für die »Endlösung der Judenfrage« war er für den Transport hunderttausender Juden in nationalsozialistische Vernichtungslager verantwortlich. Für ihn selbst reine Verwaltungsarbeit. Als Eichmann 1961 wegen seiner Verbrechen in Israel vor Gericht stand, verfolgte die Philosophin und Journalistin Hannah Arendt, die als Jüdin selbst vor den Nationalsozialisten geflohen war, den Prozess. Doch den Organisator des Massenmordes empfand sie nicht als Monster, sondern als »normalen« Menschen, wie sie in ihrem sehr kontrovers aufgenommenen Buch zur »Banalität des Bösen« schrieb.
Warum werden manche Menschen Mitläufer und Mittäter, andere dagegen nicht? Dieser Frage geht der französische Neuropsychiater Boris Cyrulnik (geb. 1937) in seinem Buch »Die mit den Wölfen heulen« nach. Seine jüdischen Eltern wurden im Holocaust ermordet. Er selbst wurde als Kind mit dem Tod bedroht, konnte aber fliehen. Nach dem Krieg machte auch er eine verstörende Beobachtung, die an die Beschreibung Arendts erinnert: Deutsche Kriegsgefangene – eben noch todbringende Feinde – begegneten der französischen Zivilbevölkerung plötzlich freundlich.
Cyrulnik setzt bei seiner Suche nach Gründen für Mitläufertum und Täterschaft früh in der kindlichen Entwicklung an. Er argumentiert, dass Kinder zunächst auf binäre Kategorien wie »gut oder schlecht« und »richtig oder falsch« angewiesen sind, um sich ein Weltbild zu formen. Diese Weltanschauung reift mit zunehmendem Alter. Anhand der Nationalsozialisten Rudolf Höß (Lagerkommandant in Auschwitz), Josef Mengele (Lagerarzt von Auschwitz) sowie Adolf Eichmann zeigt er, wie durch fehlende Empathie oder die Dominanz einer Respektsperson schon in der Kindheit das Verlangen nach leitenden Autoritäten entstehen kann.
Später im Leben kommen die in der Erziehung erlernten Strategien zum Einsatz: Wer sich autoritätshörig an eine Gruppe anpasst, wird durch Zugehörigkeit belohnt. Das System einfacher, binärer Kategorien gibt Orientierung. Es führt aber auch zu nicht verhandelbaren Gewissheiten: »So ist es und nicht anders.« Cyrulnik spricht in diesem Zusammenhang von »Clandenken«, bei dem angeblich Böses ausschließlich von Menschen außerhalb der eigenen Gruppe kommt. So sind in sozialdarwinistischen Gesellschaften Überlebenskampf und Eliminierung von vermeintlich Schwachen legitim und normal. Wer angepasst ist, hinterfragt das nicht, und wer das kritisiert, gefährdet das System.
Der Untertitel des Buchs verweist auf totalitäre politische Systeme, erscheint jedoch zu plakativ. Denn der Autor beschreibt auch bedenkliche moralische Werte in liberalen Gesellschaften. So gehört es zum westlichen Weltbild, dass sozialer Erfolg Ansehen schafft und daher als erstrebenswert und legitim gilt. Wer das jedoch kritisch hinterfragt, öffnet seinen Blick für die Verlierer, denen der Erfolg versagt blieb. Auch hier geht es darum, ob man mitmacht, erlernte Strukturen und Werte unkritisch übernimmt oder sich bewusst anders entscheidet.
Als Psychiater kennt Cyrulnik noch die Lobotomie, bei der psychische Krankheiten mittels Durchschneidung von Nervenbahnen im Gehirn »geheilt« werden sollten. Die Methode hatte glühende Befürworter, war aber aufgrund ihrer Risiken äußerst umstritten. Und als der Autor während seiner Ausbildung Skrupel hatte, ein lebendes Meerschweinchen aufzuschneiden, argumentierte die freundliche Biologiedozentin: Ein Fahrrad quietsche ja auch nicht vor Schmerzen, sondern aus rein mechanischen Gründen. Zu ihrem Weltbild gehörte die unverhandelbare Gewissheit, dass Tiere mechanisch funktionierenden Maschinen gleichzusetzen sind.
Cyrulniks Gedanken sind hochaktuell. Der Autor verdeutlicht, dass nur eigenständiges Denken und kritisches Hinterfragen helfen können, Resilienz gegen autoritäre Strukturen zu entwickeln. Sein Buch sei Leserinnen und Leser empfohlen, die an ethischen Fragen interessiert sind, und daran, die Gefahren populistischen und extremistischen Gedankenguts besser einordnen zu können.