Wir stellen in diesem Buch Bilder vor, die auf Video aufgenommene Interaktionen von Müttern mit ihren vier Monate alten Babys illustrieren.
Das Videomaterial stammt aus einer Studie, in der wir feststellten, dass sich in den Mustern der Mutter-Kind-Interaktion das Bindungsmuster ankündigte, das später beim zwölf Monate alten Kind ermittelt wurde. Das Alter von vier Monaten ist insofern von Bedeutung, als sich zu diesem Zeitpunkt die Muster der Mutter-Kind-Interaktion schon so weit gefestigt haben, dass Zusammenhänge mit dem späteren Entwicklungsverlauf erkennbar werden. Wir präsentieren zehn aussagekräftige Sequenzen dieser Art, die
sich mit einem sicheren oder unsicheren Bindungsstatus des Kindes mit zwölf Monaten in Verbindung bringen ließen. Wir setzen in unserer Forschungsarbeit das Verfahren der Mikroanalyse ein, um jeden einzelnen Moment einer Interaktionssequenz genau erfassen zu können. Die Mikroanalyse ist eine Art soziales Mikroskop, das uns feine Details einer Interaktion erschließt, die in Echtzeit zu schnell ablaufen und zu komplex sind, als dass wir sie sozusagen mit bloßem Auge erfassen könnten. Die in kleine Schritte aufgegliederten Sequenzen öffnen den Blick dafür, wie Säugling
und Mutter wechselseitig aufeinander einwirken. Wir sehen, dass viermonatige Babys bereits über höchst bemerkenswerte kommunikative Fähigkeiten verfügen und aufmerksam auf Bewegungen und Emotionsäußerungen des Gegenübers reagieren.
Die Rolle der Face-to-Face-Kommunikation von Mutter und Baby
in der Entwicklung sicherer und unsicherer Bindungsmuster
Wenn ein Baby und seine Mutter spielerisch miteinander interagieren, schauen wir alle gern zu. Doch was sehen wir da eigentlich? Die Zeichnungen in diesem Buch lassen verschiedene Muster der Kommunikation zwischen Müttern und ihren vier Monate alten Kindern hervortreten. Die Kommunikationsmuster kamen zum Vorschein, als wir der Frage nachgingen, wie das Bindungsmuster eines Kindes entsteht, das sich im Alter von einem Jahr erfassen
lässt. Wir werden Ihnen Muster der Kommunikation zwischen Mutter und viermonatigem Kind aufzeigen, in denen sich entweder eine sichere oder eine unsichere spätere Bindungseinstellung des einjährigen Kindes ankündigte.

Macht das Kind allerdings nicht was es soll, wird es halt gezüchtigt. Ob das dann zu einer sicheren oder unsicheren Bindung an die Mutter führt, ist nicht so ganz klar.
Unser Forschungsmaterial sind Videoaufzeichnungen der Interaktionen von Müttern und ihren Babys. Wir unterziehen die Videos einer Mikroanalyse, das heißt, wir gehen sie Moment für Moment durch. Dadurch kommen wir Details in den Mustern der Eltern-Kind-Kommunikation auf die Spur, die zu schnell ablaufen und zu komplex sind, als dass sie sich bei Betrachtung im Normaltempo erkennen ließen. Die Mikroanalyse ist wie ein soziales Mikroskop. Sie macht augenfällig, wie Baby und Eltern Moment für Moment aufeinander einwirken.
In der aktuellen Forschung finden sich zahlreiche Beschreibungen von Eltern-Kind-Interaktionen, doch wir möchten in unserem Buch mit einem besonders hohen Grad an Detailliertheit aufzeigen, wie Kind und Eltern aufeinander reagieren. Wenn wir in Teil II dieses Buchs dann auf die Zeichnungen von Interaktionssequenzen eingehen, die oft nur wenige Sekunden umfassen, werden Sie sehen, was wir mit dieser Detailliertheit meinen.
In den Zeichnungen sehen Sie, wie sich die Gesichter von Babys und
Müttern öffnen und zu einem prächtigen Lächeln weiten. Sie werden aber auch Gesichter sehen, die ernüchtert, traurig, bekümmert, abgewandt oder verschlossen wirken. Sie sehen heftigen körperlichen Widerwillen, Gesichter, die sich plötzlich zum Weinen verzerren, oder ein Erschlaffen des Körpers. Sie sehen, wie Kind und Mutter Moment für Moment fortwährend aufeinander einwirken. Unser Buch nimmt Sie mit auf eine Reise, auf der Sie über das, was Sie zu sehen bekommen, staunen werden.
Ein großer Teil unserer Kommunikation spielt sich außerhalb des Bewusstseins ab. Sich das eigene nonverbale Kommunikationsverhalten bewusst zu machen, fällt uns allen schwer; sobald wir es aber beispielsweise mithilfe einer Videoaufzeichnung genauer betrachten, können wir Details erkennen, die uns sonst entgehen. Solche Feinheiten der Kommunikation fallen uns auch auf, wenn wir die Videoaufzeichnung der Face-to-Face-Interaktion eines Babys und seiner Mutter Moment für Moment durchgehen. Dabei treten die einzelnen Interaktionsschritte hervor, die sich innerhalb
von Sekundenbruchteilen abspielen. Ein Großteil davon würde uns, wenn wir das Geschehen in realer Geschwindigkeit verfolgen, gar nicht auffallen.
Kinder sind von Beginn ihres Lebens an soziale Wesen. Im Alter von vier Monaten sind sie, wie in diesem Buch deutlich wird, bereits höchst kommunikativ. Sie nehmen jede kleine Verschiebung im mimischen und stimmlichen Emotionsausdruck der Eltern, in der Art ihrer Berührungen und in ihrer räumlichen Ausrichtung wahr und reagieren darauf. Den Eltern ist das intuitiv klar, und sie reagieren ihrerseits auf das Verhalten des Kindes, ohne dass ihnen das im Einzelnen bewusst wäre. Im Verlauf der letzten 50 Jahre hat die Forschung zeigen können, dass die Muster der Kommunikation zwischen Baby und Eltern von einer ungeheuren Differenziertheit und Komplexität sind.
Außerdem deutet sich in der Kommunikation zwischen einem viermonatigen Baby und seinen Eltern bereits an, wie im Alter von einem Jahr das Bindungsmuster des Kindes beschaffen sein wird, das für seine künftige Entwicklung von wesentlicher Bedeutung ist. Wenn Mütter und ihre vier Monate alten Babys zum ersten Mal zu uns ins Labor kommen, nehmen wir sie bei der spielerischen Interaktion von Angesicht zu Angesicht auf Video auf. Sobald das Kind dann ein Jahr alt ist, nimmt es mit seiner Mutter an dem von Mary Ainsworth entwickelten Testverfahren »Fremde Situation« teil (Ainsworth et al., 1978). Diese Überprüfung des kindlichen Bindungsmusters umfasst Phasen des freien Spiels, der Trennung des Kindes von der Mutter und der »Wiedervereinigung« mit ihr. Die Einschätzung des Kindes als »sicher gebunden« oder »unsicher gebunden« richtet sich danach, inwieweit das Kind die Mutter oder den Vater als eine
sichere Basis nutzt, von der aus es die Umgebung erkunden und auf die es sich bei Kummer zurückziehen kann. Aus dem Bindungsmuster eines einjährigen Kindes lassen sich Prognosen zu vielen Aspekten seiner weiteren Entwicklung ableiten, etwa zu schulischen Leistungen, zur Beziehungsfähigkeit und zum emotionalen Wohlbefinden (Sroufe et al., 2005a). Zu betonen ist, dass der Bindungsstatus mit einem Jahr statistisch gesehen auch mit dem Bindungsstatus im frühen Erwachsenenalter zusammenhängt
(Lyons-Ruth & Jacobvitz, 2008; Main et al., 2005; Sroufe et al., 2005b).
Warum vier Monate alte Kinder?
In unserer Studie untersuchen wir die Kommunikation zwischen Müttern und ihren vier Monate alten Kindern. Mit drei bis vier Monaten kommen die sozialen Fähigkeiten des Babys zur Entfaltung. Sein Mienenspiel hat schon vor der Geburt begonnen, doch seine ganze mimische Ausdrucksfähigkeit entwickelt sich erst nach und nach im Alter von zwei bis vier Monaten. Wir laden Mütter dazu ein, mit ihrem vier Monate alten Baby in unser Labor zu kommen und dort mit ihm zu spielen. Wir filmen Mutter und Baby, während sie von Angesicht zu Angesicht interagieren. Das Kind liegt in einer Babyschale, und die Mutter sitzt ihm gegenüber. Sie soll mit dem
Kind so spielen, wie sie das auch zu Hause tut, aber ohne dabei Spielsachen zu verwenden. Eine Kamera ist auf Gesicht und Hände der Mutter fokussiert, eine zweite auf Gesicht und Hände des Kindes. Die beiden Aufnahmen werden zu einem Splitscreen-Bild kombiniert, auf dem Mutter und Kind gleichzeitig zu sehen sind. Sie werden in der Filmkabine fünf bis zehn Minuten lang sich selbst überlassen.
Warum Face-to-Face-Kommunikation?
Warum ist die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht so wichtig? In ihr zeichnet sich in den ersten Lebensmonaten des Kindes eine Richtung ab, in der sich im Lauf des Lebens seine Muster der Beziehungsgestaltung und Intimität entwickeln werden. Die Face-to-Face-Kommunikation bringt zum Vorschein, wie weit die Kommunikationsfähigkeiten des Kindes bereits entfaltet sind. Ihre wesentliche Bedeutung für die soziale und kognitive Entwicklung ist immer wieder hervorgehoben worden (Beebe & Lachmann, 2002, 2013; Cohn et al., 1990; Feldman, 2007; Field, 1995; Fogel, 1992; Jaffe et al., 2001; Lester et al., 1985; Lewis & Feiring, 1989; Leyendecker et al., 1997; Malatesta et al., 1989; Martin, 1981; Messinger, 2002; Stern, 1985, 1995; Tronick, 1989, 2007).
Die Schlüsselrolle der Face-to-Face-Kommunikation
Im Labor von einer von uns dreien (Beatrice Beebe) werden in einem fortlaufenden Forschungsprogramm mit einer großen Stichprobe ortsansässiger Familien folgende Aspekte untersucht: von den Müttern berichtete Depressions- und Angstsymptome, wenn ihr Baby sechs Wochen und dann vier Monate alt ist, die Face-to-Face Interaktion von Mutter und viermonatigem Baby und das Bindungsmuster des Kindes mit einem Jahr (Beebe et al., 2008; Beebe et al., 2010; Beebe et al., 2011). Es ergaben sich deutliche
Zusammenhänge zwischen Depressionen und Ängsten der Mütter mit den Mustern von Selbstregulation und interaktiver Regulation der Mütter und ihrer vier Monate alten Babys. Doch war zwischen den Depressionen von Müttern, wenn ihr Baby sechs Wochen oder vier Monate alt war, und dem späteren Bindungsmuster des Kindes mit einem Jahr keine Verbindung erkennbar. Allerdings ließ sich zeigen, dass die Art der Face-to-Face-Interaktion zwischen Mutter und viermonatigem Kind durchaus eine Prognose des Bindungsstatus mit einem Jahr erlaubte (Beebe et al., 2010).
