Bin ich ein schlechter Mensch?

Bin ich ein schlechter Mensch? Ich hoffe, ja.

Wir verwenden viel mentale Energie darauf, einen Gedanken abzuwehren, der uns schrecklich und absolut unzulässig vorkommt: die Möglichkeit, kein guter Mensch zu sein. Die Erkenntnis, dass Neid und Faulheit, Aggression und Dummheit, Narzissmus und Egoismus Teil von uns sind, ist nicht leicht zu ertragen. Darum tun wir alles ab, was darauf hinweisen könnte – unsere eigenen Beobachtungen und die Bemerkungen anderer. Es gibt eine Menge schlechter Menschen auf der Welt – wir gehören nicht dazu.

Bin ich ein schlechter Mensch? Ich bin ein schlechter Mensch. Es ist sehr befriedigend, ein schlechter Mensch zu sein.

Wir wachsen und reifen allerdings nur, wenn wir uns auch unseren dunklen Wahrheiten stellen. Denn dann ist es möglich, sie zu erforschen, auszubalancieren und ihre Rolle für die menschliche Natur besser zu verstehen. Wirklich reife Menschen sind nicht einfach von Geburt an gut und nett. Sie haben ihre unerfreulichen, unrühmlichen und abstoßenden Seiten vielmehr mit Mut und Gelassenheit akzeptiert und Wege gefunden, sich davon zu entfernen.

Wir sollten den Mut aufbringen, uns in einigen beunruhigenden Gedanken wiederzufinden.

Knöpfen wir uns also ein paar besonders beunruhigende Gedanken vor, die uns manchmal durch den Kopf gehen. Und bringen wir den Mut auf, uns darin wiederzufinden. Nicht um in zynischer Verzweiflung zusammenzubrechen, sondern um zu erfahren, worüber wir weiter nachdenken und was wir lernen könnten:

– In der Liebe bevorzuge ich schwache Menschen, die ich schikanieren kann.

– Das Schicksal der Menschheit interessiert mich nicht.

– Ich hasse die meisten Menschen.

– Ich werfe anderen vor, mich anzubaggern, dabei bin ich es, der*die sie verführt.

– Ich bin neidisch auf meine eigenen Kinder.

– Ich höre anderen Menschen nicht zu, weil ich meinen eigenen Standpunkt durchsetzen will.

– Ich bin innerlich kalt und kann keine Gefühle zulassen.

– Schwierige Entscheidungen lasse ich andere Menschen treffen.

– Ich interessiere mich nur für Leute, die meine Karriere voranbringen.

– Ich tue so, als sei ich nett, bin es aber gar nicht.

Bin ich ein schlechter Mensch? Ich bin ein schlechter Mensch. Es ist sehr befriedigend, ein schlechter Mensch zu sein.

Reife Menschen behaupten nicht, altruistisch und makellos zu sein. Sie erkunden lieber, warum sie geworden sind, wie sie sind.

Gedanken wie diese können so verunsichernd sein, dass wir sie nicht zulassen. Damit entfernen wir uns allerdings naiver weise von etwas, das zum Menschsein dazugehört. Wir lachen dann vielleicht seltener über uns selbst; jenes Lachen, in dem sich die Spannung entlädt, die entsteht, wenn Hoffnung und Wirklichkeit aufeinander prallen.

Auch ein netter Mensch hat schlechte Seiten; aber er*sie hat den eigenen Charakter geprüft, die Fähigkeit zum Bösen, die Tendenz zu Kleinlichkeit und Neid, Gemeinheit und Unreife erkannt – und sich vorgenommen, all dem wann immer möglich entgegenzuwirken. Niemand ist jemals einfach nur gut. Man wird gut, weil man den Mut hat, seine negativen Seiten zu ergründen und einen anderen, besseren Weg einzuschlagen. Zu echter Gutmütigkeit gelangt man, indem man sich seine Launen und Eitelkeiten offen eingesteht.

Reife Menschen behaupten nicht, altruistisch und makellos zu sein. Sie erkunden lieber neugierig, warum sie geworden sind, wie sie sind. Sie wissen, dass wir alle uns in der Kindheit an ein Umfeld anpassen mussten, das in irgendeiner Hinsicht problematisch war. Unsere „schlechten” Seiten sind eher ein Erbe von Angst, Schmerz und Sorge aus dieser Zeit als eine angeborene Neigung zur „Sünde”. Reife Menschen verzichten darauf, sich ein Leben voller Widrigkeiten durch eine unnötige Abwehrhaltung nur noch schwerer zu machen. Einem hässlichen Gedanken zu begegnen – oder zehn – muss schließlich keine Katastrophe sein. Wirklich heldenhaft ist es, die Wahrheit über sich selbst in Erfahrung zu bringen, allen Stolz hinter sich zu lassen, in Demut zu lachen – und zu lernen.

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