Wir überfrachten unsere Sexualität mit Ansprüchen. Dabei sind unterschiedliche Wünsche in der Beziehung normal. Und Leidenschaft ist kein Beweis für Liebe. Trotzdem sagt eine Paartherapeutin: Unser Begehren ist auch ein Auftrag.
Wie viel Sex muss sein, Frau Bellabarba?
Nichts muss. Es gibt liebevolle Paare mit einer guten Bindung, die gar keinen Sex für sich wunderbar finden. Und es gibt Paare, die finden, Sex muss täglich sein. Die Varianz ist groß. Kaum Varianz gibt es allerdings in dem, was Paare für normal halten.
Nämlich?
Paare denken, einmal die Woche wäre normal. Wenn sie mehr oder weniger oft miteinander schlafen, notieren sie mental die Differenz. Und aus dem Gefühl, im Minus zu sein, entsteht Druck. Ich finde das erstaunlich. Selbst wenn beide ein erfülltes Leben haben und einmal im Monat den Sex, der ihnen gefällt, stellen sie sich die Frage: Ist das normal? Müssten wir mehr haben?
Julia Bellabarba ist Diplompsychologin, Paar- und Sexualtherapeutin mit eigener Praxis in Berlin.
Was wissen Sie über die tatsächliche Häufigkeit?
Die liegt aktuellen Studien zufolge bei durchschnittlich zwei-, dreimal im Monat. Die Frequenz ist in den vergangenen 20 Jahren gesunken.
Woran liegt das?
Da gibt es viele Theorien. Wollen Sie wissen, was ich denke?
Unbedingt.
Die Leute fragen immer: Warum haben wir keinen Sex mehr? Als hätten sie den irgendwo hingelegt und fänden ihn nicht wieder. Dabei könnte man auch fragen: Warum haben wir überhaupt noch Sex? Wir glauben, dass Sex erstens etwas Natürliches und zweitens ein Zeichen von Liebe ist. Ja, der Beweis für Liebe schlechthin. Dabei ist das einzig Natürliche daran die Fortpflanzung. Alles andere ist eine Frage der kulturellen Rahmung. Und da hat sich etwas verändert in unserer Gesellschaft. Lange Zeit war ein Konzept von Trieb weit verbreitet, vor allem von männlichem Trieb. Heute begreifen wir Sexualität und Begehren eher als commodity – als etwas, das man hat, das uns zusteht. Mein Begehren steht mir zu. Und in einer Liebesbeziehung steht mir im Grunde auch dein Begehren zu: deine Erektion, deine Lust. Aber so funktioniert das nicht. Das Begehren entzieht sich diesem Anspruchsdenken. Zum Glück.
Und das trägt dazu bei, dass wir weniger Sex haben?
Ja. Die Lust auf Sex ist alles andere als verfügbar.
Wenn Menschen sich verlieben, ist es einfach: Man fällt förmlich übereinander her und kann die Finger nicht voneinander lassen. Das macht die Chemie, oder?
Genau. Für diese stürmische, leidenschaftlich positiv erlebte Lust sind vor allem Hormone verantwortlich. In diesem Zustand können wir sehr viel geben und bekommen sehr viel. Wir halten das für Liebe und denken, das sei der Normalfall. Dabei entsteht diese extreme Anziehungskraft vermutlich aus einem Bedürfnis nach Bindung in einer Situation, in der es keinerlei Sicherheit gibt. Man hat eben noch keinen Bausparvertrag und noch keine Kinder. Das erzeugt eine Spannung, die sich erotisch nutzen lässt.
Und längerfristig? Was passiert dann?
In langjährigen Beziehungen wollen wir beides gleichzeitig: maximale Sicherheit und maximale Leidenschaft. Das ist ein Anspruch, der sich nicht automatisch erfüllt. Wir erwarten das aber. Das meine ich mit Verfügbarkeit. Ich sage den Paaren: „Ich verstehe zwar Ihren Wunsch. Und auch Ihre Kränkung. Aber Sie werden das nicht bekommen, wenn Sie sich nicht aktiv dafür einsetzen.“
Sagt die sexuelle Frequenz etwas über die Qualität der Partnerschaft aus?
Nein, da gibt es keinen Zusammenhang.
Ist sie ein Indikator für die Qualität des Sex?
Ich spreche mit meinen Paaren grundsätzlich über „sex worth wanting“, um eine Formulierung der kanadischen Psychologin Peggy Kleinplatz zu verwenden: Sex, der es wert ist, gewollt zu werden. Und wenn der Sex, den wir haben, es wert ist, gewollt zu werden – dann werden wir „es“ häufiger haben wollen.
In vielen Beziehungen wird Sex mit der Zeit ein schwieriges Thema, weil sich ein Ungleichgewicht einstellt.
Eine Divergenz im Hinblick auf sexuelle Bedürfnisse ist völlig normal, alles andere wäre ein Sechser im Lotto. Die meisten Paare kriegen das gut hin, auch wenn nicht immer beide hundertprozentig zufrieden sind. Aber diese Paare kommen nicht zu mir. Paare, die zu mir kommen, definieren teilweise normale Differenzen als Problem, weil das Nichtwollen als Ablehnung erlebt wird. Das Nein gilt entweder als Zurückweisung oder als pathologisch. Daraus ergibt sich allerdings nie ein konstruktives Gespräch. Entweder heißt es: „Du liebst mich nicht mehr.“ Oder: „Du bist sexsüchtig.“
Wer hat mehr Lust? Männer oder Frauen?
In meiner Praxis hält sich das die Waage. Wir denken ja typischerweise, dass es vor allem die Frauen wären, die keine Lust haben. Das stimmt so nicht. Vielleicht hat sich das verändert.
Ist das auch ein Generationending? Haben jüngere Paare andere Probleme als ältere, weil sie besser über Sex reden können und Frauen selbstbewusster mit ihrem Begehren umgehen?
Die Tatsache, dass Frauen heute Gott sei Dank mit einem besseren Verständnis für die eigenen erotischen Belange unterwegs sind, macht es nicht einfacher. Die Komplexität erhöht sich, und verstehen Sie mich nicht falsch: Das ist gut so. Früher war es nicht besser. Aber es macht Abstimmungsprozesse nötig. Solange wir weiter der Idee anhängen, Sexualität wäre etwas ganz Natürliches, funktioniert das nur bedingt, denn: Es ist nicht natürlich, dass zwei erwachsene Menschen, die in einer längeren Liebesbeziehung sind, immer synchron und kompatibel begehren.
Und was ist nun das „Geheimnis des Begehrens“, wie Esther Perel es nennt?
Unser Konstrukt von Ehe oder langjähriger Partnerschaft geht davon aus, dass das Begehren begehrenswert bleibt. Wir könnten ja auch fragen: Wozu brauchen wir das noch? Die Kinder sind schließlich auf der Welt, andere Kulturen lagern Leidenschaft und Sexualität anschließend aus. Wir aber wollen Lust und Begehren in der Beziehung erhalten.
Und wie entsteht dann Lust?
Indem wir sie wollen. Die Britin Karen Gurney beschreibt das Begehren nicht als Trieb, sondern als Motivation. Wir müssen uns auf den Weg machen und Aktivisten unserer Lust werden. Gerade für Frauen in langjährigen Beziehungen ist das nicht selbstverständlich. Sie sagen: „Ich muss doch Lust auf meinen Mann haben. Ich liebe ihn, ich finde ihn auch noch attraktiv. Trotzdem habe ich nie Lust auf Sex.“ Da ist die Lust auf Sex die Conditio sine qua non, damit Sex stattfindet. Dabei müssen wir unterscheiden zwischen Lust auf Sex und Lust am Sex.
Wie meinen Sie das?
Wenn die Lust auf Sex nachlässt, ist das nichts Schlimmes. Die Betroffenen sagen zwar: „Ich habe keine Lust auf Sex.“ Aber wenn sie Sex haben, erleben sie Lust bei dem, was sie tun. Diese Klienten und Klientinnen könnte man dazu einladen, sich hinzugeben. Ihnen steht das Skript im Weg, sie müssten zuerst Lust haben.
Und der ewige Mythos, guter Sex wäre spontan.
Wer den Quatsch erfunden hat, hat uns alle reingeritten.
Diesen Paaren könnte es vermutlich helfen, sich zum Sex zu verabreden, nach dem Motto: Der Appetit kommt beim Essen.
Gurney spricht von der Motivation, sich auf etwas einzulassen. Es muss nicht jedes Mal ein absolutes Feuerwerk sein. Ich weiß aber, dass es dir und mir Spaß macht und uns guttut.
Es gibt viele gute Gründe, den Kopf nicht frei zu haben für Sex: Stress im Job, kleine Kinder, der allgemeine Perfektionsdruck . . .
Ich mache in meiner Praxis die Erfahrung: Je höher der Anspruch von Frauen an ihre Mutterrolle, desto eher geben sie den Sex auf. Wie will man sich als erotisches Subjekt wiederfinden, wenn man ständig den Nuckel, den Hasen und die Brotbüchse suchen muss? Dann heißt es abends im Bett: „Sorry, lass mich in Ruhe.“ Und wenn Menschen einen hohen Anspruch an sich und ihren Partner haben und der Sex immer überdurchschnittlich sein muss, gehört auch der entsprechende Körper dazu – Stichwort Vaginalplastiken. Der Pornokonsum hat einschlägige Erwartungen geschaffen. Von den jungen Frauen, die ich an der Uni unterrichte, denken viele tatsächlich, ihre Vulva sehe komisch aus.
Weniger hohe Ansprüche täten uns allen gut?
Stress ist – mit Angst – der größte Antagonist der Lust. Wobei ich Paaren in der berühmten Rushhour auch sage: Sex kann zwar eine Ressource sein, wenn alles aus dem Ruder läuft. Es kann aber auch entlasten, das Thema eine Weile zu parken.
Wenn es um Sex geht, ist heutzutage alles erlaubt. Nur wenn man keinen Sex will, wird einem schnell vermittelt, mit einem stimmt etwas nicht.
Das finde ich schade. Denn wenn man sich für etwas entscheiden darf – und das ist der Anspruch, den wir seit den Sechziger-, Siebzigerjahren vor uns her tragen –, darf man sich auch dagegen entscheiden. Das ist ein guter Gedanke des Sexualtherapeuten Ulrich Clement: Ein Ja zur Sexualität ist nur dann ein richtiges Ja, wenn ein Nein möglich ist. Insofern ist dieses Nein eine Leistung. Es ist vielleicht keine Lösung, aber es darf nicht pathologisiert werden, weil es zum Ausdruck bringt, was für diese Person in diesem Moment angemessen ist. Lustlosigkeit kann eine Kompetenz sein.
Wie gehen Sie in Ihrer Praxis damit um?
Weil wir alle so sozialisiert sind, dass Sexualität etwas ist, das dazugehört, empfindet sich die Person, die weniger Lust hat, typischerweise als ungenügend. Also normalisiere ich ganz viel und arbeite mit Wertschätzung. Danach können wir erarbeiten, wozu konkret Nein gesagt wird. Ist es Sex mit diesem Partner? In dieser Beziehung, in diesem Bett, in diesem Pyjama? Oder welche Art von Sex wird nicht gewollt? Das ist ja auch ein mutiger Schritt, nach 20 Jahren zu sagen, ich hätte jetzt mal andere Bedürfnisse. Und irgendwann frage ich: Wozu würden Sie denn Ja sagen? Manchmal sind das ganz kleine Schritte. Aber darüber kann man erst sprechen, wenn die Verknüpfung der Lustlosigkeit mit der Kränkung gelöst ist. Gerade Frauen sagen: „Ich glaube, du liebst nicht mehr. Weil du keinen hochkriegst.“ Als wäre seine Erektion der Beweis für seine Liebe. Mir tut der arme Penis leid.
Ist Sexlosigkeit nicht eine Gefahr für die Beziehung?
Das ist ein Missverständnis. Viele Menschen haben Affären aus Beziehungen heraus, in denen eine erfüllte Sexualität stattfindet und die Beziehung insgesamt als zufriedenstellend empfunden wird. Und bei vielen Paaren, bei denen gar kein Sex oder schlechter Sex stattfindet, geht keiner fremd.
Muss sich Sexualität immer neu erfinden, damit es nicht langweilig wird? Der Sexualwissenschaftler Peer Briken hat mal zu mir gesagt: „Sex muss nicht spektakulär sein, um gut zu sein.“
Das kann ich hundertprozentig unterschreiben. Das sind Paare, denen es gut miteinander geht. Was aber, wenn jemand sagt: Den guten Standardsex, den wir immer hatten, den möchte ich nicht mehr? Begehren kann dynamisch sein, und wenn wir viele Jahre mit demselben Partner zusammen sind, dürfen wir davon ausgehen, dass wir uns erotisch und sexuell verändern. Wir verändern uns ja auch körperlich. Weil aber das Thema so aufgeladen ist, besteht die Gefahr, dass wir alle neuen Bedürfnisse und Phantasien ausklammern – sie werden als Angriff auf den Hausfrieden erlebt.
Als Therapeutin sagen Sie: Wenn die Lust weg ist, ist Sex erst mal verboten. Warum?
Die Verordnung „Sie dürfen jetzt nicht“ schafft einen druckfreien Raum und unterbricht den ewigen Teufelskreis aus Vorwurf und Zurückweisung.
Und dann? Empfehlen Sie Selbstbefriedigung?
Das ist möglicherweise eine sehr gute Idee. Aber auch bei diesem Thema gibt es den Mechanismus, dass der Partner alles auf sich bezieht. Männer sagen vorwurfsvoll: „Siehste, du mit deinem Vibrator, da machste rum.“ Und Frauen beschweren sich: „Auf mich hast du keine Lust, aber beim Pornogucken holst du dir einen runter, weil die Frauen da immer so gut aussehen.“ Sie merken: Nichts ist einfach nur das, was es vordergründig ist. Beim Thema Sexualität wird alles mit zusätzlichen Bedeutungen überfrachtet. Und ich will das hier auch nicht zu rosig darstellen. Es gibt Paare, die sexuell auf keinen grünen Zweig mehr miteinander kommen.
Was können Paare tun, damit ihnen die Lust gar nicht erst abhandenkommt?
Sie ernst nehmen. Wer denkt, er habe seine Lust zur Verfügung als etwas, das zu ihm gehört und bei ihm bleibt, für immer, ohne etwas dafür zu tun, der nimmt sich und sein Begehren nicht ernst. Unser Begehren ist nicht nur eine Motivation, sondern will auch als Auftrag verstanden werden. Es ist normal, dass es Schwankungen gibt, das gilt es zu akzeptieren. Aber man sollte sich immer wieder daran erinnern: Die Lust ist ein Schatz, eine riesige Ressource, die man hoffentlich nicht aufgeben will.
Und dann ist es eine Entscheidung, sie lebendig halten zu wollen?
Es ist immer eine Entscheidung. Wenn wir Entscheidungen treffen, kommen wir in die Verantwortung. Ich glaube, dass Liebe auch eine Entscheidung ist. Ein anderes Thema, aber auch schön.