Mit jemandem zu schlafen hat für sie keinerlei Reiz, ein Orgasmus dient eher dem Stressabbau: Hunderttausende Menschen in Deutschland sind asexuell. Eine Therapeutin erklärt, was das Phänomen von Lustlosigkeit unterscheidet – und wie Betroffene trotzdem ein erfülltes Liebesleben haben können.
Bis zu fünfmal pro Monat sollen Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren Sex haben. Das hat eine Studie des Hamburger Universitätsklinikums von 2020 ergeben. Allerdings gibt es auch Menschen, die nie mit anderen schlafen – weil sie weder erotische Anziehung noch ein Verlangen nach Sex verspüren: Sie sind asexuell. Je nach Studie trifft das auf 0,5 bis 5 Prozent der deutschen Bevölkerung zu; da das Thema bislang wenig erforscht ist, könnte die Dunkelziffer aber noch höher liegen. Die psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und Paar- und Sexualtherapeutin Vivian Jückstock behandelt in ihrer Hamburger Praxis viele Betroffene.
Die psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und Paar- und Sexualtherapeutin Vivian Jückstock ist in eigener Praxis niedergelassen; sie arbeitet zudem als Dozentin, Lehrtherapeutin und Supervisorin in der Aus- und Weiterbildung. Von 2008 bis 2020 war sie am Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) tätig. Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der Psychodynamischen Psychotherapie sowie der therapeutischen Behandlung sexual-forensischer Fragestellungen im Hell- und Dunkelfeld.
WELT: Um Asexualität ranken sich viele Mythen. Worum genau handelt es sich dabei?
Vivian Jückstock: Asexualität ist eine individuelle und ganz natürliche Ausprägung von sexueller Vielfalt. Das heißt: Es handelt sich weder um eine Krankheit noch um eine Entscheidung, die jemand bewusst getroffen hat, sondern um eine von vielen möglichen Ausprägungen von Sexualität.
WELT: Also so, wie es beispielsweise auch Homo-, Hetero- und Bisexualität gibt?
Jückstock: Es gibt Überlegungen, die Ausprägung in diese Kategorien einzureihen. Wobei sich die sexuelle Orientierung wiederum aus drei Unterkategorien zusammensetzt: die sexuelle Identität, also wie man sich selbst identifiziert; die sexuelle Attraktion, also von wem man sich sexuell angezogen fühlt; und schließlich das sexuelle Verhalten, also mit wem man sexuellen Kontakt hat. Bei der Asexualität spielt vor allem der Teilbereich der sexuellen Identität eine große Rolle: Die Betroffenen identifizieren sich selbst als asexuell.
WELT: Wie konkret äußert sich Asexualität im zwischenmenschlichen Miteinander? Meiden asexuelle Menschen jegliche körperliche Nähe und Intimität?
Jückstock: Man sollte das nicht falsch verstehen: Asexualität bedeutet nicht, keinen Körperkontakt zuzulassen. Es kann durchaus sein, dass jemand asexuell ist und trotzdem kuscheln, küssen oder in den Arm genommen werden will. Die eine Asexualität gibt es überdies nicht wirklich; man spricht eher von einem asexuellen Spektrum.
Ein Werk asexueller Kunst.
WELT: Und wie sieht dieses Spektrum konkret aus?
Jückstock: Es gibt viele verschiedene Bereiche im asexuellen Spektrum. Das reicht von gar keinem sexuellen Interesse über demi-sexuell – da gibt es sexuelles Interesse erst, wenn eine bedeutsame Beziehung aufgebaut wurde –, bis hin zu allo-sexuell, das sind diejenigen, die sich sexuell von anderen angezogen fühlen. Ähnlich ist es beim romantischen Spektrum. Auch da gibt es aromantisch, also Menschen, die gar kein Interesse an romantischen Beziehungen habe, demi-romantisch und allo-romantisch. Es gibt jedoch bei allem feinste Abstufungen.
WELT: Entstehen diese Abstufungen dem Partner, der Partnerin zuliebe?
Jückstock: Das ist sehr unterschiedlich. Manchmal wird in einer Beziehung ein Arrangement getroffen. Wenn es zwar kein Interesse, aber eben auch keine totale Ablehnung gibt, dann kann es sein, dass sich ein Paar darauf einigt, Sex zu haben, obwohl einer der beiden Partner asexuell ist. Es kann aber auch sein, dass sexueller Kontakt von Betroffenen eher wie Sport gesehen wird: als körperliche Aktivität, die sich gut anfühlt, wenn man einen Orgasmus bekommt. Miteinander zu schlafen dient dann eher dem Stressabbau, als dass es für solche Menschen eine emotionale Bedeutung hat.
WELT: Wann merken Betroffene, dass sie asexuell sind?
Jückstock: Meistens in der Pubertät, wenn sie sich fragen, warum alle um sie herum plötzlich nur noch über Sex sprechen. Intellektuell verstehen sie natürlich, was Sexualität ist, aber gefühlsmäßig können sie damit nicht richtig etwas anfangen. Die Faszination oder Begeisterung für Erotik, das Geheimnisvolle daran löst bei asexuellen Menschen meist keine Gefühle aus, auch keine Neugier. Das Thema hat für sie schlicht keine Relevanz.
Asexualität in den Sozialen Medien.
WELT: Setzt es nicht gerade Teenager unter Druck, bei so etwas Allgegenwärtigem nicht mitreden zu können?
Jückstock: Natürlich können daraus auch negative Gedanken entstehen, im Sinne von: Was stimmt mit mir nicht? Jugendliche merken schnell, dass sie irgendwie anders sind als andere, wenn sie sich nicht für Sex interessieren – oder nicht wahnsinnig aufgeregt sind, weil sie geknutscht haben. Aber das machen sie vor allem mit sich aus. Denn Menschen, die keinerlei sexuelle Anziehungskraft verspüren, bleiben damit für andere häufig unsichtbar.
WELT: Inwiefern?
Jückstock: Wenn Sie auf Darstellungen in den Medien achten, werden Sie feststellen, dass Asexuelle darin kaum vorkommen. Und wenn, waren sie bislang eher die seltsamen, komischen Charaktere, die Nerds – damit gab es niemanden, der als Identifikationsfigur zur Verfügung gestanden hätte. Zum Glück ändert sich das momentan; in neueren Serien, etwa in „Sex Education“ oder „Heartstoppers“, tauchen auch asexuelle Charaktere auf, die positiv dargestellt werden. Aber in der breiten Gesellschaft ist Asexualität aus meiner Sicht immer noch unterrepräsentiert.
WELT: Sind Menschen dauerhaft asexuell, oder kann sich das im Laufe der Zeit ändern?
Jückstock: Grundsätzlich gilt, dass Sexualität nichts Starres ist. Sie unterliegt immer wieder Veränderungen, die mal mehr und mal weniger deutlich ausgeprägt sein können. Die Sexualität, die man im pubertären Alter zeigt, ist nicht unbedingt die gleiche Sexualität, die man mit 50 Jahren erlebt.
WELT: Wodurch wird das beeinflusst?
Jückstock: Durch das Leben. In der Pubertät sortiert sich die Sexualität neu. So wie wir uns entwickeln, kann sich auch die Sexualität ändern.
WELT: Heißt das, dass asexuelle Menschen durchaus irgendwann auch noch mal sexuelles Begehren empfinden können, wenn auch womöglich erst nach Jahrzehnten? Und umgekehrt? Können auch sexuell aktive Menschen asexuell werden?
Jückstock: Eine gewisse Variation ist möglich – mal mehr, mal weniger. Dass ein kompletter Wandel stattfindet, tritt eher selten auf. Es mag aber sein, dass Menschen in höherem Alter über Asexualität stolpern und dann denken: „Ah, jetzt weiß ich, was ich die ganzen Jahre über bei mir gespürt, aber nicht verstanden habe.“
Eine Verschwendung, dass sie asexuell ist. Aber lila heißt, es geht nichts.
WELT: Gerade in langjährigen Beziehungen kommt es vor, dass der Spaß an und das Verlangen nach Sex abnehmen. Ist das Lustlosigkeit oder eine beginnende Asexualität?
Jückstock: Das ist eine ganz wichtige Unterscheidung. Wenn es sich um eine Lustlosigkeit handelt, dann kann man therapeutisch etwas tun. Verlust oder Mangel an sexuellem Verlangen geht einher mit einem Leidensdruck und dem Wunsch, es möge wieder so sein wie vorher. Asexualität ist etwas anderes – da gibt es keinen Leidensdruck.
WELT: Als Therapeutin haben Sie häufig mit asexuellen Menschen zu tun. Wie wirkt sich diese Ausprägung auf ihr Leben aus?
Jückstock: Das ist sehr unterschiedlich. Aber wenn das Thema in der Therapie auftaucht, dann meist deshalb, weil sich meine Patienten fragen, was es bedeutet, ihre Asexualität in der Gesellschaft auszuleben. Einige von ihnen haben damit negative oder stigmatisierende Erfahrungen gemacht. Es kommt vor, dass ihr Umfeld richtig übergriffig wird und Dinge sagt wie: „Da hast du den Richtigen noch nicht getroffen.“ Oder: „Dann war es noch nicht die richtige sexuelle Technik, versuch’s doch mal mit einem Vibrator.“ Die Betroffenen haben dann einen großen Rechtfertigungsdruck. Asexualität wird nicht so leicht akzeptiert wie Homosexualität oder Bisexualität. Die Menschen gehen automatisch davon aus, dass den Betroffenen etwas fehlt.
WELT: Empfinden Ihre Patienten ihre sexuelle Ausprägung als eher negativ oder positiv?
Jückstock: Ich habe noch nie erlebt, dass ein Patient zu mir gekommen ist und gesagt hat: „Ich bin asexuell, und das ist ein Problem.“ Schwierigkeiten bereitet ihnen eher die Unsicherheit, nicht zu wissen, ob sie wirklich asexuell sind. Manche Patienten grübeln viel darüber, wie sie empfinden oder sich einordnen sollen. Wenn sie dann die Asexualität klar benennen können, dann ist das für viele einfach eine große Erleichterung, weil sie endlich einen Begriff für das eigene Verhalten und Gefühlsleben haben.
WELT: Wie können asexuelle Menschen eine gute Beziehung führen – auch mit Menschen, die Spaß an Sex haben?
Jückstock: Wie in jeder Partnerschaft lautet der Schlüssel auch hier: mit gegenseitigem Respekt und Kommunikation. Wenn sich jemand als asexuell bezeichnet, heißt das nicht automatisch, dass der- oder diejenige keine Beziehung haben möchte. Aber die funktioniert in der Regel leichter, wenn über Intimität oder auch über erotische Bedürfnisse gesprochen wird.
WELT: Reden allein dürfte kaum reichen, wenn einer ständig auf Sex verzichten muss.
Jückstock: Es gibt ein Modell, das sich „Split-Attraction Modell“ nennt. Dabei wird zwischen Sexualität und Romantik unterschieden. Nur weil jemand keine Sexualität mag, heißt das nicht, dass der- oder diejenige gerne allein lebt. Der Wunsch nach Sexualität ist nicht automatisch verknüpft mit dem Wunsch nach Bindung.
WELT: Und das kann auf Dauer funktionieren?
Jückstock: Durchaus. Ich glaube, es gibt so viele funktionierende Beziehungsmodelle, wie es Menschen gibt, die Partnerschaften eingehen. Wichtig ist, dass man abspricht, wie und mit wem man Sexualität leben möchte. Und dass sich die Lösung für beide gut anfühlt – und nicht in Konflikt mit den Interessen des Partners oder der Partnerin gerät.