Von einem, der auszieht, aber keine mehr auszieht. Und sich auch nicht: Die Geschichte eines Mannes, der auf der Suche nach der Liebe ist.
Ich bin jetzt 60. Und auf Suche nach einer neuen Frau. 60. Also ein alter Mann, zumindest ziemlich. Ganz früher war man mit 60 schon tot. Später ein Greis. Ich bin schlank, sportaktiv und fit, alle Ärzte heben die Daumen. Meine Macken müssten sozialkompatibel ein. Verglichen mit meiner Vitalität sind die anderen um die 60 doch Opas. Pah! Ich habe viel von meinem jugendlichen Charme behalten und sehe jünger aus, trotz fortschreitender Ergrauung und dieser Falten.
Zumindest glaube ich das. Wie viele andere von sich wohl auch.
Mit der Post kommt die Senioren-Bahncard. Empfinde das als Beleidigung. Biedere Rentnerbildchen auf dem begleitenden Werbeflyer. Gastronomisch bin ich jetzt seniorentellerberechtigt. Der Seniorenrat meiner Heimatstadt Essen sucht gerade neue Mitglieder. Tatsächlich: ab 60 steht da.
Ich sehe mich um, kontakte, flirte. Ja, darf auch ein Abenteuer sein. Aber eigentlich will ich was Festes; wieder Liebe erfühlen, gern die ganz große.
Die Erfahrungen seitdem sind grotesk, desaströs, manchmal tief frustrierend. Was ich gelernt habe über einsame Zweisamkeiten mancher Paare hinter ihren Fassaden hat mich mitunter erschüttert.
Dabei begann es nach der gemeinschaftlich beschlossenen Trennung mit der langjährigen Partnerin vor gut zwei Jahren wie eine Befreiung. Ein paar Wochen danach eine schöne Affäre mit Physiotherapeutin Nora, 52, einige Monate lang, auch sie aus Essen. Überaus wohltuend nach Jahren des Beziehungsstresses, beider Versagen. Nora und ich wollten beide nicht mehr als ab und an etwas Kino, Theater, erzählen, uns bespaßen in den Nächten. Drei Jahre ist sie von ihrem Ex getrennt, die letzten drei Jahre hatten sie sich nicht mehr angefasst. Macht sechs Jahre ohne Hautkontakt, sage ich. „Ja, stimmt, hatte ich gar nicht nachgerechnet. Ist schon lange …“
Später Anwältin Silke, auch sie Anfang 50. Wir kennen uns schon lange und tun uns plötzlich gut, alle paar Wochen kommt sie für ein paar Stunden: zum Essen, zum Rotwein, zum Schmusen, zum Sex. Der ist für beide immer etwas bemüht, aber wir wollen es. So geht das ein paar Monate. Silke lebt fest liiert, seit 30 Jahren, verheiratet, Sohn und Tochter. Ich bin also der klassische Ehebrecher, keine schöne Rolle. Spätestens Mitternacht muss sie immer weg.
Sie sei daheim auf dem Absprung, erzählt sie. Für uns beide eine wichtige Rechtfertigung unserer Abende. Ihr Ehealltag wäre, finde ich, einer Hausgemeinschaft unwürdig: getrenntes alles, kaum mal mehr gemeinsames Essen, getrennte Schlafzimmer sowieso. „Er ist beruflich ständig unterwegs. Der Job ist sein ein und alles. Aber er redet nicht. Manchmal weiß ich nicht, ist er die ganze Woche wieder in Amerika oder nur bis morgen in Stuttgart? Er ist wie ein Fremder. Er geht einfach, ist irgendwann wieder da.“ Was für ein trauriges, ausgelutschtes Leben. Dann lieber stolzer Single.
Habt Glück!
Nach ein paar Treffen will sie es doch noch mal mit ihrem Mann probieren – er habe ihr neulich, erzählt sie, tatsächlich im Gehen ohne Blickkontakt nach Jahren mal wieder flüchtig durchs Haar gestrichen. Habt Glück!
Freund Tobi, 52, sagt, viele Frauen nähmen Männer Ü50 gar nicht mehr wahr. „Die gucken einfach durch uns durch.“ 50? Ich bin 59, also sehr Ü schon und demnach sehr unsichtbar. Wir testen in der Kneipe. Flirtversuche, Blicksuche, nichts. Er hat recht.
Lerne Kathrin aus Bonn, 53, bei einem beruflichen Termin kennen. Wir gehen ein paar Tage später frühstücken. Es dauert sechs Stunden. Wir erzählen uns unsere halben Leben, Privates, Trennungen, Verletzungen, Jobprojekte, Kuriositäten des Daseins. Eine dicke Umarmung zum Abschied. Nette Frau. Fahre beschwingt heim. Sie mailt, war doch schön, mal vertrauensvoll unter Kollegen über Berufliches zu plaudern. Ich antworte, ich fand auch den „Austausch von nettem Mann zu netter Frau“ schön. Ihre Antwort: „Dazu äußere ich mich mal nicht, hoffe, du verstehst.“ Ich antworte, nein, das verstünde ich nicht. Sie antwortete nie mehr. Seltsam.
Marina, Anfang 50. Inhaberin eines kleinen Geschenkladens. Verabredung auf ein Bier findet sie sofort gut. Sie kommt etwas zu spät. „Sollen wir nicht lieber zu mir fahren?“, fragt sie. „Heute ist doch Champions League. Mein Mann hat mir mal Sky geschenkt.“ Es gibt wohl wenig Überraschenderes als eine Frau, die einen Mann, selbst Fußballfreund, zum Spiel einlädt. Wir landen in einer Art Palast, beste Wohnlage gleich über dem Baldeneysee, voll mit Designermöbeln, 350 Quadratmeter, Putzfrau vier Stunden drei Mal wöchentlich.
Das Spiel ist mäßig. Und Marina unglücklich bis ins Mark. Ihr Mann arbeite 14 Stunden am Tag, verdiene sich krank. Ab 4 in der Früh sitze er am Rechner, jeden Tag: „Ist ja alles sehr, sehr wichtig“, spottet sie. Wenn sie aufstehe, sei er längst in seiner Firma. Und wenn abends mal Gäste da seien, schlafe er um halb 9 schnarchend auf dem Sofa ein. „Er ist ein richtiges soziales Monster.“ Selten jemanden gehört, der so verächtlich über die eigene andere Hälfte spricht.
Willst du so weiterleben? Ach, sagt Marina. „Ich hab ihn quasi rausgeworfen. Der hat jetzt eine eigene Wohnung in der Stadt, da kann man auch gut um 4 aufstehen.“ Betrogen habe er sie auch, sie erzählt seine billigen Lügengeschichten, so absurd, dass mir der Mund offen stehen bleibt vor Unglauben. Aber trennen…? Sie ist verbittert. Noch ein Glas Schampus? Wir sind angetrunken. Ich bahne mir den Weg aus den 350 Quadratmetern.
Die Kontaktanbahnungsversuche über ein Netzportal enden alle schräg. Eine handvoll Treffen gab es: Mal sind wir uns gleich einig: passt nicht; mal denke ich: Och nö. Heike findet mich wohl toll. „Sollen wir das kleine Feuerchen nicht weiterschüren?“, schreibt sie danach angetan. Welches Feuerchen? Haben zwei wohl aneinander vorbeigefühlt.
Freundin Carmen will mich mit ihrer Nachbarin Paula verkuppeln, 49, Sportlehrerin. „Die ist nett, hübsch, frech. Könnte passen mit Euch.“ Beim Wein ist Paula eher zurückhaltend, höflich, aber sie hat diesen Schalk in den Augen, verkuppeln lassen ist ganz schön lustig, finden wir. Sie macht neugierig. Wiedersehen? Sehr gern, sagt sie. Rufe sie ein paar Tage später an. Sie sei gerade im Vollstress und werde sich melden. Kein Anruf mehr.
Helga im Cafe muss ich selbst ansprechen. Sie hatte durch mich durchgeguckt, obwohl wir uns ein paar Tage vorher gegenüber saßen. Wir verabreden uns. Schönes Gespräch. Selbstbewusste, klare Frau, 58, witzig, nachdenklich. Ihr Partner, erzählt sie, sei kürzlich abgehauen. „Seit der 50 ist, hat er Panik. Will wohl lieber noch ein paar hundert andere vögeln im Leben. Statt die beste Frau der Welt zu lieben.“ Zum Abschied hauche ich ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Also das lass mal sein.“ Der Blick giftig. „Wenn, dann müsste ich das doch wohl machen.“ Wieso? Gut ist, Helga.
Ana, 52, Fotografin. Vor 20 Jahren hatten wir mal einen Sommer lang eine Affaire. Pure Lust, ausgelassen, ohne Pause manchmal, zehrend, schenkend. Der beste Sex meines Lebens; ihres auch, sagte sie damals. Verliebt waren wir beide nicht, aber gierig. Unser Kontakt war geblieben, sehr vertrauensvoll. Jetzt besuche ich sie nach Jahren mal wieder. Strahlend liegen wir uns in den Armen. „Nein, du bist grauer geworden“… „nein, du…“
Putzen, Sex haben
Sie lebt mit Günter zusammen. Vor dem Haus ein aufgemotzter, blankpolierter Jaguar E, seiner. Wie viel Geld da wohl drinsteckt, 100.000?, frage ich. Fast 200.000, sagt Ana. Oh, sage ich. Auf der Treppe im Haus ein Zettel: „Einkaufen, Putzen, Sex haben“, steht darauf.
Ich stutze. „Manchmal muss ich ihn erinnern“, lacht sie. Habt Ihr wenigstens guten Sex? Ana zögert einen langen Moment, „ich liebe ihn“. Ihr nachgeseufztes „Ach, Kai“, der tiefe Blick und meine Spontanerektion sind eins. Danach deftiges Abendessen zu dritt. Netter Mann.
Auf dem Rückweg zum Bahnhof tags drauf im maskulin röhrenden Oldtimer erzählt Ana: „Wenn ich mich mit dem Wagen einer Ampel nähere, und es stehen Frauen am Fußgängerüberweg, du, wie die sich aufplustern, recken, Brust raus. Immer wieder, wie ein Reflex. Unglaublich. Ich schäme mich für meine Geschlechtskolleginnen. Aber wenn sie dann sehen, eine Frau am Steuer, sacken sie unmittelbar in sich zusammen.“ Wir lachen uns schlapp. Wie herrlich traurig.
„Komm mich doch mal besuchen in Essen, Ana.“ Sie lacht verlegen, „ach, Kai“. Nein, schreibt sie tags später, kein Besuch, sie wolle ihr Leben mit Günter nicht aufs Spiel setzen. „Ich liebe ihn.“ Ich verstehe sie.
Carla ist die selbstbewussteste 63-Jährige der Welt. In den 80ern haben wir mal in einer WG gewohnt. Wir schließen einen Pakt unter Singles: Verabredung zur Nacht, zum Schmusen, Massieren, Frühstück. Zwei, die kurz das Alleinsein aussetzen wollen. „Aber keine Penetration“ gibt sie vor. Für die Lust brauche sie keinen Mann und weist am Abend auf ihre Nachttischschublade. Als Carla spielerisch an mir herumzufummeln beginnt, kommt mir das wie Vertragsbruch vor. Einschlafen.
Will ich zu viel? Bin ich getrieben? Wahrscheinlich haben wir, Männer wie Frauen, die vielleicht noch mehr, im fortgeschrittenen Alter so viele Macken, so viel schon erlebt, Enttäuschungen vor allem, dass wir immer vorsichtiger werden, Wiederholungen vermeiden wollen, uns schützen. So viele Narben auf der Seele. Und fast alle haben ihr fest eingerichtetes Leben: Engagiert im Beruf, ein großer fester Freundeskreis mit umfänglichen Alltagsritualen und Freizeittreiben sowieso, Familienverflechtungen, Projekte vieler Art, der Hund als Mannersatz. Da ist gar kein Platz für das große Projekt neuer Partner.
Carmen, Germanistikprofessorin in Hamburg. Kongressbekanntschaft. Mailkontakt. Ein Feuerwerk an Sprache, amüsant, betörend. Ich weiß, die schöne und drahtige Frau, ohnehin liiert, ist mit 45 viel zu jung für mich. Als sie grippekrank darniederliegt, maile ich ihr ein Goethe-Fake-Zitat: „Vor die Wahl gestellt, einer kränkelnden Dame die wärmende Decke zu sein oder ihr einen heilenden Tee zu brühen, würde ich immer die Decke sein wollen. Lehnte sie dies jedoch ab, so machte ich ihr mit Hingabe den Tee.“ Sie ist entzückt. Kann flirten schön sein! Diese surrende Leichtigkeit, ohne Ziel.
Wochen später treffen wir uns bei einer Tagung in Hannover, ich extra hin, 250 Kilometer für zwei Stunden, sie soll staunen, ich will mal was Verrücktes machen. Mittagspause im Café. Fast so nett wie das Flirten im Netz. Nach der Abreise simse ich: Ach Carmen, wie viel lieber als im stickigen Zug zu sitzen, würde ich mich in der Executive Suite deines Hotelzimmers mit dir durch die Deckenberge wühlen … Jetzt grätscht sie doch dazwischen. „Das wird es niemals geben.“ Weiß ich doch. Es trifft mich trotzdem. Ablehnungen sind wie Peitschenhiebe. Ach, schnöde Wirklichkeit.
Kaum bin ich 60 geworden, kontaktet mich in meinem Onlineportal die erste Polin, 48, sie sucht einen Mann bis 75. Sehr flexibel in der Liebe, die Dame. Aber zum baldigen Pflegefall reicht’s bei mir noch lange nicht. Will ich jedenfalls hoffen.
Im Januar noch mal ein Onlinedate: Babs aus Bielefeld, 52, Sozialarbeiterin. Wir finden uns beide unmittelbar sympathisch, wie wir uns später versichern. Scheues Lächeln, offensives Lächeln. Immer leichter. Herzliche Umarmung zum Abschied. Bin überaus angetan.
Wir simsen uns durch zum zweiten Treffen. „Bin ganz aufgeregt“, schreibe ich. „Ich auch, wie ein Schulmädchen.“ Fantasie klinkt sich ein. Zwei Tage darauf wieder nach Bielefeld, sie hat mich zu sich nach Hause eingeladen. Und ist sehr reserviert. Ja, äh, gestern sei eine Freundin da gewesen, habe mit Blick auf ihr Bett kokett gefragt: „Na, und hier wirste mit deiner neuen Bekanntschaft aus Essen morgen Sex haben …?“ Da habe sie gedacht: Hmmm. Nee, vielleicht doch nicht. Irgendwie … Und das mit Holger sei ja nicht mal ein Jahr her. Täte ihr leid. Ich gehe dann mal lieber irgendwie.
5. März. Stichtag. Ein Jahr seit Silke, ein Jahr kein Sex. Ich erinnere mich an Thomas, wie er uns Freunden beim Bier vor Jahren mal offenbarte, er und seine orgasmusgehemmte Hanna, die er über alles liebe, würden maximal dreimal im Jahr zusammen schlafen. Wie wir Thomas bemitleideten damals. Dreimal! Wie neidisch ich jetzt bin.
Die Liebe verlernt?
Ich bin einer, der auszieht, aber keine mehr auszieht. Und sich auch nicht. Wie ging eigentlich Liebe machen? Kann man das verlernen oder ist es wie Ski fahren, schwimmen? Mein Extherapeut mailt: „Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass gerade die netten und klugen Leute so oft Single sind.“ Dieses ungewollte Alleinbleiben erlebe er oft bei seinen Klienten, die ihn deshalb buchen. Er lebt davon, ich lebe damit.
Auch mein Freund Harry, selbst Psychoanalytiker, Mitte 60, nimmt Anteil. „Hast du schon mal überlegt“, fragt er mit sanfter Stimme, „ob du dich vielleicht zurückziehst aus dem selbstquälerischen Kampf? Und andere Dinge genießt.“ Was, soll ich Golf spielen? Trost im Gebet suchen? Nur noch chic essen gehen, der Sex des Alters? Freiwilliger säkularer Zölibat? Lächerlich. „Nein, du weiser Mann. Ich will Hauthauthaut, Nähe, knutschen, diesen Rausch des Verliebens. Die Lust, die Hingabe. Eine neue Partnerin. Das gebe ich doch nicht auf.“ Im Radio dudelt der Schlager mit den 80 Millionen und der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Petra, 55, ist Cellistin. Sehe sie auf der Bühne und denke: Oh. Nachher im Theaterkaffee wird auch sie zur Durchguckerin – diagonal durch den ganzen Raum, um mich anzustrahlen. Oh. Wir finden uns ziemlich klasse, quatschen halbe Nächte durch, machen lange Spaziergänge, sehr zugewandt alles. Ich kriege Gänsehautfieber. Ich will mehr. Sie sagt nein, so sei sie nicht. Very old school: nicht probieren und dann mal weitersehen, wie das andere machen. Nein, erst müsse sie mich noch näher kennenlernen, um sicher zu sein. Das geht einige Wochen so. Ich genieße es durchaus. Kenne längst auch ihr Gästebett. Dann: „Ich würde mich so gern auf dich einlassen. Aber ich krieg die Kurve nicht, Kai. Ich glaube gar nicht mehr. Ich könnte losheulen, ehrlich.“ Ihre Augen sind feucht.
Je älter man ist, desto souveräner geht man mit der Liebe um? Im Gegenteil: Je mehr Leben wir verlebt haben, desto schwerer wird der Rucksack, egal was drin ist. Ich habe Sätze gehört wie: „Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch mal einen Mann will. Man fliegt ja doch nur auf die Fresse.“
April, lerne auf einer Party in Dortmund Marie kennen. Ihre Augen, ihre Stimme, ihre Art, ihr überhaupt. Wow! 44 ist sie. So jung. Kai, spinnst du? Zwei Wochen später kommt sie mich einfach besuchen. Es wird ein himmlisches Wochenende, wie von selbst. Innigkeit, Zärtlichkeit, Hautexpeditionen, kleine Lustexplosionen, vor allem diese ewig langen Blicke miteinander bis ins Seelenirgendwo. Ein Rausch. Next to Glückseligkeit. Selbst die Frühstückseier gelingen a point. Ein Hausmann hat das eben im Gefühl. Ich bin verhext. 80 Millionen. Eine. Die?
Ist sie auch hin und weg? Sie schreibt, sie sei nicht verliebt, aber fühle sich so hingezogen zu mir. Mein Freund Franz, 70, schreibt mit all seiner Lebenserfahrung, keine Sorge, solche Frauen verlieben sich vielleicht nicht auf den ersten Blick, sondern auf den letzten. Ich klebe an seinen Worten. Im nahen Kloster habe er eine Kerze angezündet, „für Kai und Marie“. Ich bin tief gerührt. Ob ich ein Foto hätte? Habe ich. Er mailt zurück: „Wunderbar. Sofort heiraten.“ Ich buche ihn vorsorglich als Trauzeugen. Er sagt zu.
In Hollywood wäre der Film jetzt mit reichlich Geigenmusik zu Ende. Das richtige Leben neigt dazu weiterzugehen. Beim nächsten Treffen sagt Marie sogleich: Stopp. Vollbremsung. Ich falle aus allen siebten Himmeln. Ohne tiefes Liebesempfinden gehe es nicht, sagt sie, und: „Ich wünschte so sehr, es wäre anders.“ Ich bin wie abgeschossen. Sie tröstet mich, das tut gut. Vor allem, sagt sie, sei durch unsere Intimität auch ihr Ex und die sehr schmerzhafte Trennung (ihre!), obwohl gut ein Jahr vorbei, wieder in ihr Unterbewusstsein gerutscht. Das lähme sie. Zwei Tage lang fühle ich mich wie amputiert.
Freund Udo sagt, vielleicht hat sie dich nur als joy toy benutzt, mal so für zwischendurch. Bitte? Marie? Niemals! Du hast ja keine Ahnung. Später denke ich, was wäre gewesen im umgekehrten Fall? Ich als Mann hätte nach solch einem durchvögelten Wochenende und all der Seelenraserei gesagt, nein, war schön, aber es reicht nicht für mehr. Ich wäre doch das Chauvischwein, das nur das eine wollte, Schiss hat vor Bindung und danach sich verpisst. An den Pranger mit ihm! Einer Frau sieht man die komplexe Seelenmelange nach und versucht sich einzufühlen.
Ja, sie war hin und – ist weg. Sie hat gegen ihren tristen Alltag geputscht, sich offensiv was getraut – und dabei verhoben. Sie hat leichtherzig ihre Grenzen überschritten und war erschrocken, wie weit es ging. Für ein Abenteuer war es zu viel, für mehr zu wenig. Aus Hingabe wurde Panik.
Ich habe erleben dürfen, wie viel Herzenskapriolen auch mit 60 möglich sind. Kriegt lange nicht mehr jeder hin, sagt Freund Paul. Wie viel fiebern. Und sei es nur für ein zauberhaftes Wochenende. Ich schreibe Marie, was für ein wundervolles Gefühl es sei, jemanden so zu begehren und welch Glück es war, sie kennenzulernen.
Und jetzt? Wird wohl weitergehen mit dem Kontakten. Was sonst!
Der Autor des Textes, Kai Lippens, wurde 1957 geboren und heißt eigentlich anders. Seit 35 Jahren arbeitet er als Journalist und hat mehrere Bücher geschrieben. „Das Herz kriegt keine Falten – Über die abenteuerliche Partnersuche in der zweiten Lebenshälfte“ basiert auf Erlebnissen und Gesprächen.
Was Lippens im Buch beschreibt, ist mal amüsant und macht mal nachdenklich. Denn mit 50 plus, das schreibt er und bekräftigt es auch beim Telefoninterview, wird das Flirten deutlich komplizierter. Ganz abgesehen davon, dass die 50- bis 60-Jährigen ohnehin einer „Zwischengeneration“ angehören, wie er es nennt: Kaum jemand interessiere sich dafür, ob sie ein Liebesleben haben. Auch deshalb wollte er seine eigenen Erfahrungen und die von vielen Gesprächspartnerinnen und -partnern aufschreiben: „Wir sind die Unbeachteten – und das ändert sich jetzt.“
ICONIST: Mit 57 haben Sie sich von Ihrer Partnerin getrennt, mit der Sie sieben Jahre lang zusammen waren und ein gemeinsames Kind haben. Manch einer wird sich fragen, warum man in diesem Alter eine Beziehung aufgibt.
Kai Lippens: Echt, das denken Menschen? (lacht) Es ging nicht mehr, wir haben lange gekämpft, auch unseres Sohnes wegen. Aber wir haben festgestellt, wir tun uns nicht gut, sind kein Liebespaar mehr, sondern nur noch zwei gute Eltern. Die sind wir bis heute geblieben.
ICONIST: Inzwischen sind Sie 63 Jahre alt und haben ein Buch über „die abenteuerliche Partnersuche in der zweiten Lebenshälfte“ geschrieben. Hatten Sie zum Zeitpunkt der Trennung schon die Befürchtung, dass es schwierig werden könnte mit dem Verlieben?
Lippens: Im Gegenteil. Ich dachte, jetzt wird es leichter als noch zu Studienzeiten oder mit Mitte 30. Das waren zwei Phasen in meinem Leben, in denen ich für ein oder zwei Jahre allein war und jemanden gesucht habe. Da hatte ich Affären, Geschichtchen. Mit 57 dachte ich: Jetzt sind wir doch in einem Alter, in dem wir wissen, wie es geht! Wir haben vieles erlebt, jetzt wird alles leichter. Aber die Partnersuche hat sich als schwieriger und nerviger entpuppt, als sie es je zuvor war.
ICONIST: Wieso nerviger und schwieriger?
Lippens: Das hat viele Gründe. Einer davon ist, dass wir in unserem Alter im Alltag festgefahren sind. Wir haben den Beruf, Freunde, unzählige Hobbys. Wo soll da Platz für die Liebe herkommen? Manche alleinstehenden Frauen haben mit Mitte 50 noch 18 oder 19 Jahre alte Kinder zu Hause. Selbst wenn sie sich wirklich danach sehnen, einen Partner zu finden, haben sie keine Zeit dafür und oft keine Fantasie, wie man überhaupt noch einen Mann in das eigene Leben integrieren könnte. Ich habe oft erlebt, dass Anfänge zustande kommen, dann aber die Reißleine gezogen wird.
ICONIST: Im Buch schreiben Sie zu Beginn: „Ich hatte Lust, mich noch einmal zu verlieben (ein letztes Mal?).“ Steigt mit Mitte, Ende 50 der Druck, den perfekten Partner zu finden, denn es könnte ja der letzte sein?
Lippens: Bei vielen ist das so, man denkt: „Ich vertrödele meine Restzeit nicht mit einem oder einer Falschen.“ Es wird schwerer, unlocker. Es gehört ja zum Verlieben dazu, sich ohne Ablaufdatum auf jemandem einzulassen. Mit Mitte 30 lernt man jemanden kennen und lässt das erst mal laufen, man kontrolliert nichts. Aber mit Ende 50 ist das eigene Ende viel näher als mit Mitte 30. Das macht vorsichtig.
ICONIST: Was ist mit Ex-Beziehungen und den Erfahrungen daraus – nehmen Sie die Leichtigkeit?
Lippens: Die schlechten Erfahrungen, die man in Beziehungen oder mit Trennungen gemacht hat, bleiben eher in Erinnerung als die guten Zeiten. Da kommt leicht der Gedanke auf: „Das will ich nicht noch einmal erleben. Ich muss mir ganz sicher sein, nicht noch einmal enttäuscht zu werden, sonst lasse ich mich lieber nicht darauf ein.“ Wobei ich glaube, dass das häufiger ein Problem von Frauen ist, Männer probieren es eher noch einmal.
ICONIST: Welchen Einfluss haben die manchmal schon erwachsenen Kinder?
Lippens: Kinder sind Ballast für die Liebe, das klingt gemein, aber es ist so. Muss man sich um den Alltag von einem oder mehreren Kindern kümmern, steht das der Partnersuche total im Weg. Einem 12- oder 15-jährigen Kind zu erzählen, dass man sich verliebt hat, ist schon nicht leicht. Manchmal ist es auch kompliziert, überhaupt die Zeit für Treffen zu finden, man hat ja so viel um die Ohren.
ICONIST: Sie haben einen 18-jährigen Sohn.
Lippens: Der überwiegend bei der Mutter lebt. Er hat kein Problem damit, nach vier Wochen die Freundin zu wechseln – und er wundert sich darüber, dass bei uns Älteren vieles so kompliziert ist. (lacht)
ICONIST: Spielt es Ihrer Erfahrung nach fürs Verlieben eine Rolle, ob jemand aus Ost- oder Westdeutschland kommt?
Lippens: Meine Gesprächspartnerin Katharina, die im Osten von Berlin aufgewachsen ist, hat mir erzählt, dass sie von Kindheit an ein lockeres Verhältnis zum Nacktsein und zu Körperlichkeit hat. Bei der Familie war immer die Tür zum Bad auf, die Eltern sind nackt durch die Wohnung gelaufen und haben sich auch vor den Kindern ganz normal über Sex unterhalten. Katharina sagt heute: „Ich glaube, dass ich deshalb auch mit Mitte 50 noch ein relaxtes Verhältnis zu meinem Körper habe – dass mir Sex deshalb immer Spaß gemacht hat.“ Da hat der Westen den Gong nicht so gut gehört.
ICONIST: Im Buch schildern Sie, dass viele Ihrer Gesprächspartnerinnen ihren Körper nicht mehr mögen und sich dafür schämen.
Lippens: Ich weiß nicht, ob das mit Ost und West zu tun hat. Der Körper war im Westen schon immer mehr Ware, das Modediktat war hier auch stärker als im Osten, wo es vieles schlicht nicht gab. Aber ja, das Thema Scham hat mich vielfach erschüttert, das habe ich von fast allen Gesprächspartnerinnen gehört. Ich habe die Angst davor, sich auszuziehen, auch selbst bei Frauen erlebt. Offenbar entwickeln Frauen das spätestens mit Mitte 50, weil sie ihre Ansprüche an sich nicht mehr erfüllen – „ich war mal knackiger“. Die Freundinnen einer Frau, mit der ich Sex hatte, sagten zu ihr: „Du hast den drei Mal getroffen und hast dich vor ihm ausgezogen? Das könnte ich nicht nach so kurzer Zeit.“ Sie hat schlagfertig geantwortet: „Ohne Ausziehen ist Sex eben schwierig.“
ICONIST: Kennen Sie als Mann die Scham für den älteren Körper ebenfalls?
Lippens: Ich war schon mal sportlicher, die Waden waren schon mal strammer, ich weiß das. Die Falten hängen, das ist halt so mit 60 plus. Nein, Angst, mich auszuziehen, habe ich nicht. Da bin ich erfreulich schamlos.
ICONIST: Von Ü-50-Frauen, die sich auf dem Single-Markt umsehen, hört man oft, sie hätten es dort schwer, weil es keine adäquaten Partner für sie gebe.
Lippens: Mehrere Frauen haben mir berichtet, wie sie Männer über Internetportale kennengelernt haben. Da waren die Fotos zehn Jahre alt, und zum Date erschien ein Wrack. Ich hab mich auch mal unter den Männern in einem solchen Portal umgesehen. Erschütternd, was sich da für Figuren rumtreiben. Sie schreiben ganz wenig über sich, sodass man denkt, der wird den Mund beim Treffen nicht aufkriegen. Sie posen im Muskelshirt, ob sie Muskeln haben oder nicht. Den Rest soll ein Sportwagen oder Motorrad erledigen, die ebenfalls auf dem Foto zu sehen sind. Da würde ich als Frau auch wegrennen.
ICONIST: Wie ist umgekehrt Ihr Eindruck von den Single-Frauen?
Lippens: Für Frauen gibt es viele Hemmnisse. Sie leiden noch mehr unter Zeitmangel, weil sie häufiger alleinerziehend sind als Männer. Viele fürchten, mit Mitte 50 einen vielleicht noch knackigen 60-Jährigen kennenzulernen, der sich aber schon bald zum Pflegefall entwickelt. Mir ist aufgefallen, dass Frauen, die in Pflegeberufen arbeiten, als Ärztin oder als Krankenschwester, ihren Beruf in Internetportalen häufig nicht dazuschreiben – aus Sorge, dass ein Mann denken könnte: „Die sieht ganz nett aus, und mit einer Krankenschwester hätte ich für alle Fälle vorgesorgt.“
ICONIST: Also ist das Alter auch im Alter ein großes Thema?
Lippens: Ja, weil wir alle falsch suchen. Frauen werden im Schnitt fünf Jahre älter, suchen aber fünf Jahre ältere Partner. Das gleicht sich zwar an, aber nur langsam. Wenige Frauen suchen Gleichaltrige oder Männer, die ein paar Jahre jünger sind als sie. Männer suchen so oder so deutlich jüngere Frauen. Das macht die Schnittmenge klein, die Parteien suchen aneinander vorbei.
ICONIST: Haben Sie ein Treffen erlebt, bei dem das Alter zum Problem wurde?
Lippens: Nein, aber die Gesundheit. Im Buch heißt die Frau Florence, wir haben uns im Internet kennengelernt und an einem Abend vier oder fünf Stunden lang telefoniert. Am Ende haben wir uns für den darauffolgenden Samstag zu Kaffee und Kuchen verabredet. Quasi beim Auflegen sagte sie: „Vielleicht sollte ich dir noch sagen, dass ich Multiple Sklerose habe.“ Wir haben uns getroffen, und bei ihr war die Krankheit schon sehr weit fortgeschritten, sie konnte sich kaum noch allein bewegen. Florence war eine nette Frau, aber ich war froh, dass ich mich nicht sofort in sie verliebt habe. Und das auch nicht getan hätte, wenn sie gesund gewesen wäre. Trotzdem hatte ich das Gefühl: „Kai, du bist ein Arsch. Du lässt dich nicht darauf ein, weil sie krank ist.“ Damit musste ich erst mal klarkommen. Wir haben uns danach noch einige Male geschrieben, aber uns schließlich aus den Augen verloren.
ICONIST: Wir haben bisher vor allem über Tod, Krankheit, Scham und Zeitnot gesprochen – wird denn auch irgendetwas besser beim Dating über 50?
Lippens: Wenn man die Hürden des Kennenlernens überwunden hat und sich schon etwas kennt, kann man leichter über alles Mögliche reden. Da ist man souveräner als noch mit 20 oder 30. Im jungen Alter redet das soziale Umfeld bei der Partnerwahl oft mit, das fällt auch weg.
ICONIST: Welches Treffen hat Sie in den vergangenen Jahren positiv überrascht?
Lippens: Ein zufälliges. Ich habe Leonie auf einem Konzert gesehen und bin ihr hinterhergerannt, als sie gerade ging. Ich fragte sie, ob wir noch einen Kaffee trinken wollen und sie sagte: „Nee, lieber ein Bier.“ Leonie ist die Frau, über die ich im Kapitel „Happy End?“ schreibe, aus der Begegnung beim Konzert ist eine besonders schöne Freundschaft mit Sex geworden. Nicht die große Liebe. Ich weiß nicht, ob es für die Ewigkeit anhält, aber wir haben etwas gefunden, was für eine Zeit das Richtige ist.