Rainer Krause: Seinsformen des Menschen V

Begehren....
5.3. Das Ekel-Begehrens-Drehbuch


Richard, der mehrere Jahre in einer dreistündigen Analyse war, die er wegen seiner Depression und seiner Beziehungsunfähigkeit aufgenommen hatte, konnte nach einem Jahr Behandlung ein Kind zeugen. Durch die Analyse war er in der Lage, die Viskosität seiner Samenflüssigkeit medikamentös behandeln zu lassen. Er freute sich irgendwie über das neue Menschlein, konnte aber keine wie auch immer geartete innere Beziehung zu ihm aufbauen. Eigentlich war das Kind für ihn ein Haufen anorganischer oder halborganischer
Masse, schmutzig und schleimig. Wenn er dieser denn so etwas wie Leben zugestand, dann als »Kröte«. Das änderte sich später, als das Kind sich zu bewegen begann, aber für die Frühphase der Beziehung, wo es um Hautkontakt und Geruchsverbindungen ging, war keine Änderung dieser Wahrnehmungswelt zu erkennen. Der Patient selbst, ein Einzelkind, hatte eine seelisch sehr kranke Mutter, die sich – wenn auch gut getarnt – immer wieder am Rande einer Psychose bewegte.

….und Ekel.

Das Leinwandbild zeigt das fesselnde Selbstporträt „Selbstbildnis einer Grimasse schneidend“ von Egon Schiele, einem der prägendsten Maler der Moderne und des Wiener Expressionismus. Auf dem Bild ist der Künstler zu sehen, wie er eine Grimasse schneidet – sein Gesicht ist in einer übertriebenen, fast verstörenden Weise verzerrt. Schieles Stil ist unmittelbar erkennbar: kühne, dynamische Linien und die intensive Verwendung von Farben, die Emotionen und innere Zustände direkt auf die Leinwand projizieren.

Sie führte ein Lebensmittelgeschäft und war von der Idee besessen, Richard hätte etwas an sich, das die Kundschaft vertreibe. Diese Vorstellung hatte durchaus den Charakter des Wahnhaften, eine Art
von Geruchswahn, den sie selbst förderte. Sie hatte eine Geruchsperversion, die sich unter anderem darin äußerte, dass sie Urin- und Kotrückstände in der Wäsche und in den Bettlaken ebenso beschnüffelte wie die Bettvorleger, die der adoleszente Sohn benutzte, weil er sich nicht auf die Toilette neben dem elterlichen Schlafzimmer traute.

Begehren?

Zwei halb -nackte Frauen von hinten im Bordell der Rue des Moulins gesehen- Henri De Toulouse-Lautrec

Sie sammelte alles auf, beschnüffelte und wusch es. Gesprochen wurde darüber nie. Als Kind saß Richard stundenlang mit nacktem Unterleib in einem Lagerraum neben dem Geschäft der Mutter auf dem Topf. Ab und an schaute die Mutter herein und unter ganz besonderen Umständen wurde auch einmal ein Kunde oder das Kind eines Kunden hereingelassen, um ihn zu »begrüßen«.

Begehren?

Egon Schiele – Sitzende Frau mit hochgeschobenem Kleid

Die Mutter erlebte ihr Kind als ekelerregend und toxisch, aber sie war gleichzeitig durch ebendiesen Geruch angezogen. Richard entwickelte eine Reihe von pervers erscheinenden Lösungen, die um die Handhabung von Ekel zentriert waren, die ihn aber vor der psychotischen Dekompensation einerseits und einer schweren Depression andererseits retteten (Krause 2006). In den Behandlungen, die er vor der Analyse bei mir gemacht hatte, waren die perversen Lösungen zu keinem Zeitpunkt Gegenstand des Diskurses geworden. Auch bei mir dauerte es 1 1⁄2 Jahre, ehe er sie über eine Szene offenbarte. Es handelt sich um ein Ekel-Begehrens-Drehbuch. Nur Personen, die den Ekel überwinden konnten, durfte er begehren. Gleichzeitig verachtete er sie aber eben deshalb. Wie kann man nur eine solche Kröte wie ihn begehren?

Begehren?

Toulouse-Lautrec: Die tätowierte Frau

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