Rainer Krause: Seinsformen des Menschen IV

Maria Lassnig: Froschkoenigin/Frog Princess, 2000
5.2. Das Verachtungs-Vernichtungs-Drehbuch

Im Rahmen einer mehrjährigen dreistündigen psychoanalytischen Therapie beschreibt Frau B. eine Mutter, die zu der heute erwachsenen und bildhübschen Tochter als Kind immer wieder Dinge sagt wie »Du hast Entenfüße«. Wenn das Kind die Stirn runzelt – ein Ausdruck von Ärger (depressor glabellae) –, fährt sie ihm über das Gesicht und sagt: »Kind, du bekommst Falten!« Das Kind ahnt damals schon, dass es um die Beseitigung seines Ärgers geht. Dies sind bewusste Erinnerungen. Sie sind eingebettet in einen affektiven Interaktionsstil, der vom absoluten Herrschaftswillen der Mutter gekennzeichnet ist. Verachtung und Ekel sind die Alltagsaffekte, die den Hochmut der Mutter ebenso transportieren wie die Nichtswürdigkeit des Kindes. Im Traum taucht die Mutter als KZ-Wärterin auf, die den Opfern die Augen herausoperiert, was lebensgeschichtlich nicht ganz unrichtig war, der Patientin aber damals noch nicht bewusst und nicht bekannt war.

Maria Lassnig: Mit einem Tiger schlafen, 1975

Man könnte annehmen, dass der Raub der Augen im Traum die Blindheit der Mutter zu bebildern versucht, die keinen Blick für das Kind als eigenes Wesen hatte. Vor diesem Hintergrund ist das nichtswürdige, ungesehene Kind das wahre Selbst, der nicht existierende Fluchtpunkt einer blinden Mutter.

Die Patientin ist sehr freundlich, liebenswert und hilfsbereit, wirkt aber wie durchsichtig und nicht wirklich gegenwärtig. Unter Distress, den sie vergeblich zu vermeiden sucht, ist die Patientin nicht in der Lage, ein eigenes Selbstmodell aufrechtzuerhalten. So sieht sie im Spiegel anstatt sich selbst die Mutter. Sie pflegt die Mutter, nachdem diese ein Karzinom entwickelt hat, hingebungsvoll und folgt
ihr mit einer eigenen Autoimmunkrankheit in den Tod (Krause 1985).

Maria Lassnig: Self Portrait with Stick (1971)

Meines Erachtens handelt es sich hier um ein Verachtungs-Vernichtungs-Script und um eine Angst, die nicht objektal, sondern im Winnicottschen Sinne psychotisch ist, eine Angst vor der Nichtexistenz und dem Zerfall. Die einzig erkennbare emotionale Beziehung in ihrer frühen Kinderzeit hatte sie zu einem Baum, vor allem zu dessen Rinde. Nach der objektiven Feststellung des Karzinoms bei ihr selbst ging es ihr subjektiv bedeutend besser. Nun hatte sie die Täterin und bemühte sich eifrig, dieselbe aus sich selbst mit Hilfe von sehr sadistischen Behandlern herauszuschneiden, was sie mir meist verheimlichte, denn es führte zu anderen Formen der Zerstörung.

Veröffentlicht am
Kategorisiert als Blog

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert