Lieblosigkeit macht krank

Lieblosigkeit macht krank: Unsere unterdrückten Grundbedürfnisse und die Krisen unserer Zeit

Lieblosigkeit macht krank: Unsere unterdrückten Grundbedürfnisse und die Krisen unserer Zeit

Wir leben in einer Zeitenwende. Ein ganzes Bündel von Krisen hämmert auf unsere Köpfe ein. Denn so geht es nicht weiter. Nicht für uns. Nicht für unsere Kinder. Nicht für diesen kostbaren Planeten. Doch die Probleme stecken nicht in Börsenberichten oder den unaufhörlichen Pandemiemeldungen. Sie stecken in unserem Kopf. Niemand weiß das besser als Gerald Hüther.

Der Neurobiologe hat sich längst einen Namen gemacht als Mahner und Ermutiger, eigentlich als Aufklärer, auch wenn er mit der „Aufklärung“ so seine Schwierigkeiten hat. Jedenfalls dem, was die meisten Leute unter Aufklärung verstehen, denn mit den Ursprüngen des sich befreienden Denkens beschäftigen sich die Allerwenigsten. Und die Allerwenigsten haben Kant, Leibniz, Voltaire und ihre streitbaren Zeitgenossen überhaupt gelesen.Voltaire muss man nennen, weil dieser bissige Satiriker genau die Frage gestellt hat, die Hüther in seiner Forschung heute beschäftigt: Reicht das rationale Erkennen der Wirklichkeit, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen – oder führt die falsche „Vernunft“ eher dazu, dass alles noch viel schlimmer wird, weil es für jedes Böse am Ende auch eine rationale Begründung geben kann? Wieder ein kleiner Lektüre-Tipp für diese seltsame Zeit, die uns zum Stillsitzen verdammt: „Candide oder der Optimismus“.

Gerald Hüther ist nicht der Einzige, der die Aufklärung derart reduziert auf den Gebrauch der Vernunft, Rationalität und letztlich auf die Fokussierung auf technische Lösungen für alle Probleme. Denn das ist schon längst die Pervertierung auch der Aufklärung. Von der Vernunft ganz zu schweigen, die ausgerechnet der Eigenbrötler Immanuel Kant versuchte, mit rein rationalen Konstruktionen zu dekonstruieren.

Dass heute selbst kluge Leute die Aufklärung derart reduziert betrachten, hat viel mit Julien Offray de La Mettrie und seinem 1748 veröffentlichten Buch „L’Homme-Machine“ zu tun.

Wofür der Philosoph und Arzt schon von seinen Zeitgenossen heftige Kritik einstecken musste. Aber Gerald Hüther hat recht, dass gerade diese von La Mettrie vorgebrachte Sichtweise auf den menschlichen Körper als eine Maschine (die man reparieren kann) bis heute die Medizin beherrscht. So denken unsere Gesundheitspolitiker und es musste nicht erst eine weltumspannende Pandemie kommen, um die Fatalität dieses Reparatur-Denkens sichtbar zu machen.

Neurobiologen wie Hüther beschäftigen sich nun schon seit Jahrzehnten mit der völlig anders gelagerten Frage: Was ist eigentlich bei Krankheit? Wann wird der Mensch überhaupt krank? Und welche Rolle spielen dabei die komplexen Vorgänge in unserem Gehirn? Wie geht eigentlich Heilung vor sich? Und warum werden die Menschen ausgerechnet im reichen Westen immer kränker, leiden unter immer mehr sogenannten Zivilisationskrankheiten?

Denn mittlerweile hat ja die Erforschung des Gehirns ziemlich viel herausbekommen darüber, wie unser Gehirn lernt, wie es sich in der Welt orientiert und Strategien entwickelt, mit sich ständig ändernden Herausforderungen umzugehen. Denn im Unterschied zu sämtlichen anderen Lebewesen gestaltet der Mensch nicht nur seine Umgebung, er verändert sie auch ständig.

Die Welt des Menschen ist so komplex, dass unser Gehirn gar nicht anders kann, als frühzeitig Strategien zu entwickeln, mit den Veränderungen zurechtzukommen und Inkohärenzen auszugleichen. Das sind Situationen, in denen der Mensch nicht im Einklang steht mit seiner Mitwelt, in der er Konflikte bewältigen muss oder gar drastische Veränderungen in seinem Leben, die ihn selbst infrage stellen.

Und die vor allem an seine Grundbedürfnisse rühren – wobei es ja die berühmte Pyramide der Grundbedürfnisse nach Maslov gibt, die die Meisten sogar kennen. Aber trotzdem leben die meisten nicht danach und wissen auch gar nicht, wie sehr das jeden selbst betrifft – und dass hier die meisten Ursachen für unsere heutigen Krankheiten liegen.

Die „Grundbedürfnisse nach Maslow“ sind ein weithin bekanntes Modell, das jedoch etwas grob strukturiert, holzschnittartig und mechanisch erscheint.

Grundbedürfnisse finden sich in diesem Modell in den unteren Stufen:

Eine Abgrenzung oder Definition, die erklärt, was Grundbedürfnisse sind, trifft das Modell nicht. Die unterste Stufe des Modells beschreibt körperliche Grundbedürfnisse.

Denn Krankheiten entstehen dann, wenn das Gehirn die Inkohärenzen nicht mehr ausgleichen kann, wenn wir die erlebten Störungen unseres seelischen Gleichgewichts nicht mehr austarieren können, die Warnsignale unseres Körpers ignorieren und unser Körper gezwungen ist, regelrecht Notprogramme aufzulegen, um den Laden irgendwie noch am Laufen zu halten.

Unsere Konsumwelt ist voller Surrogate, die genau an dieser Stelle zum Einsatz kommen: Alkohol, Süßigkeiten, Spiele, Nikotin, Drogen, Betäubungsmittel, Schlafmittel, Aufputscher usw. Alles Triebmittel für eine völlig außer sich geratene Gesellschaft, die so etwas wie den Neodarwinismus mit seinem rücksichtslosen Wettbewerb und dem Konkurrenzdenken verinnerlicht hat. Es gibt kaum noch Lebensbereiche, in denen nicht das Vergleichen und Abwerten, das Niederringen, Kriegführen und Sich-Durchsetzen die Regel sind.

Und alle erleben das – und zwar schon früh, meist in der frühesten Kindheit, wenn Eltern beginnen, ihre Kinder so zu erziehen, dass sie in dieser enthemmten Wettbewerbswelt funktionieren können. Deswegen liegen die meisten Traumata in der Kindheit und die Erwachsenen wissen oft gar nicht mehr, woher das kommt und warum sie aus ihren zerstörerischen Schleifen nicht mehr herauskommen.

Wie sie also selbst wieder gesunden können, was ja eigentlich nichts anderes ist, als seinen Körper wieder so zu behandeln, wie er es verdient. Und vor allem die eigenen Grundbedürfnisse wieder zu erfüllen.

Und die Psychologie weiß schon lange, welche hier wichtig sind. Denn Kinder zeigen noch unverkrampft und ungebremst, was sie (neben Essen, Trinken, Wärme usw.) brauchen. Dringend brauchen, weil die Nicht-Erfüllung dieser Bedürfnisse genauso schmerzhaft ist wie eine richtige Verletzung. Hüther nennt es die seelischen Grundbedürfnisse. Im Grunde sind es zwei: „Dieses schmerzhafte Gefühl entsteht im Gehirn immer dann, wenn wir mit Geschehnissen konfrontiert werden, die unsere beiden psychischen Grundbedürfnisse verletzen. Das ist zum einen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Verbundenheit und zum anderen das nach Autonomie und Freiheit.“

Beide konstituieren unser Gefühl, ein akzeptierter Mensch zu sein, der in seiner Persönlichkeit nicht beschnitten, gegängelt und unterdrückt wird.

Doch wahrscheinlich haben alle schon in frühester Kindheit erfahren, wie schmerzhaft es ist, wenn man als genau dieser nach Akzeptanz bedürftige Mensch nicht akzeptiert wird. Die Fehler machen meist schon die Eltern, die ja selbst oft eine Vor-Geschichte der Beschränkungen, Einengungen und Unterordnungen hinter sich haben. Oder mittendrin sind in so einem Leben, in dem ihnen die Möglichkeiten beschnitten sind, ein Leben zu leben, in dem sie ihre Bedürfnisse erfüllen können.

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