Robert Crumb

Und ich kenne auch den Robert Crumb, und er kennt mich.

In den 1960er-Jahren erkundete Robert Crumb die erotischen Obsessionen der Hippie-Ära. Heute lebt der legendäre Comic-Zeichner, achtzig Jahre alt, in einem Dorf in Südfrankreich – menschenscheu und ohne Internet. Doch sein Blick auf die Gegenwart und „diese ganze verdammte Existenz“ ist scharf.

Die Landstraße schlängelt sich durch den sonnendurchfluteten Karst Südfrankreichs, aber die Stimme am Telefon klingt wie die eines grimmigen amerikanischen Farmers: „Yeah“, so Robert Crumbs knappe Antwort auf die Frage, wann und wo wir uns treffen, „rufen Sie einfach an, wenn Sie da sind!“

Im Rausch der Hippie-Jahre erfand Robert Crumb 1967 in San Francisco den Underground-Comic, doch seit den Neunzigerjahren lebt er zurückgezogen und menschenscheu in Sauve, einem idyllischen Dorf am Fuß der Cevennen. Vor seiner Eingangstür wachsen Blätter aus großen Töpfen, in den Fenstern hängen verblichene Comicplakate. Das Haus des Zeichners ist kein topsaniertes Landhaus aus dem Immobilienprospekt, sondern ein altes Stadthaus, das eine morbide Schönheit ausstrahlt.

„Komme!“ Jetzt hallt die mürrische Stimme aus den Tiefen des Gemäuers. Dann öffnet ein alter Mann mit Brille und verwehtem Haarschopf. Robert Crumb sieht so hager und schmächtig aus, wie er sich selbst schon als junger Künstler porträtierte: Das Jeanshemd und die Stoffhose hängen eher von seinem Körper herab, als dass er sie trüge, die dürren Beine enden in Sandalen.

Robert Crumb, „Porträt als mürrischer alter Mann“, Dezember 2022

Als Zeichner erschuf Crumb einen Kosmos extremer Körperlichkeit, bevölkert und beherrscht von psychedelischen Amazonen mit übermächtigen Waden, Hintern und Brüsten. Doch der Künstler selbst scheint fast keinen Körper zu besitzen, er wirkt wie ein durchgeistigter Asket. Nur die Augen blinzeln scharf und wach hinter den dicken Brillengläsern und zeigen die Arbeit eines unergründlichen Gehirns an.

Langsam bewegt sich Crumb durch die schattige Kühle, führt den Gast ins Arbeitszimmer. Es gleicht einem Kuriositätenkabinett mit Tausenden von Exponaten, das Auge findet kaum einen Halt. In einer Ecke steht ein stählerner Leuchttisch, in einer anderen ein Kopierer, auf den Plüschsesseln liegen Banjos und Mandolinen, und in wabenartigen Regalfächern verteilt sich eine gigantische Sammlung alter Schellackplatten.

Auf den Ablagen stapeln sich Kisten und Aktenordner, an den Wänden hängen Schwarzweißfotos, Post-its und blecherne Werbeschilder, und auf den Simsen stehen zwischen ledergebundenen Nachschlagwerken alte Hartplastikfiguren von Crumbs berühmtesten Schöpfungen: Fritz The Cat, der zynische Kater mit dem ausschweifendem Lebensstil, Mr. Natural, der erratische Psycho-Guru, der Zivilisationskritik predigt und es vor allem auf weibliche Jünger abgesehen hat, und Mr. Snoid, ein von den eigenen Obsessionen gejagter Angestellter in Hut und Anzug, der als geifernder Gnom mit heraushängender Zunge einer stolzen Hippie-Walküre nachstellt und ihr von hinten den Rock vom ausladenden Gesäß zieht – ein eingefrorener Übergriff, fast so, wie ihn antike Skulpturengruppen mit Faunen und Nymphen darstellen.

Mr. Natural, der erratische Psycho-Guru, der Zivilisationskritik predigt und es vor allem auf weibliche Jünger abgesehen hat.

Crumbs in jeder Hinsicht unkorrekte Gestalten wirken so aus der Zeit gefallen wie die anderen Antiquitäten seines Privatmuseums: Relikte einer Revolution, über die sich der Staub der Geschichte gelegt hat. Das sei normal, sagt Crumb, der streng katholisch erzogen wurde: „Gesellschaften durchlaufen Zyklen: Auf Zeiten strikter Verhaltenskontrolle folgen Ausbrüche des Hedonismus, und dann vermasseln es die Leute.“

Jetzt klingt Crumb, der Chronist der Hippie-Kultur, plötzlich wie ihr schärfster Kritiker: „Die Leute verhalten sich nihilistisch, sie zerstören ihre Gesundheit, und die Gesellschaft beginnt allmählich auseinanderzubrechen, weil niemand mehr Verantwortung übernimmt. Und dann gibt es eine Reaktion, die Zügel werden angezogen, und alles wird wieder enger!“ So sei das um 1930 gewesen, als die zügellose Moral der Zwanzigerjahre zuerst in Depression und dann in Rigorismus umschlug, so hätten die „Reagonomics“ 1981 die wilde Hippie-Ära abgelöst, und vielleicht, so Crumb, erleben wir heute wieder einen ähnlichen Umschwung.

Country, Corona und Hamlet

Der Künstler selbst, so scheint es, hat kein Interesse, an diesem Wechselspiel von Fortschritt und Reaktion teilzunehmen, sein Anarchismus ist konservativ. „Mr. Nostalgia“ heißt ein Buch, in dem er die Geschichte seiner Liebe zur ganz frühen Country-Musik erzählt. „Hier zum Beispiel“, Crumb zieht eine Schellackplatte aus der dünnen Papierhülle, „das ist Duke Ellington. Ich mag ihn nur bis 1931, danach war er nicht mehr gut.“

Die Avantgarde, die Crumb beschäftigt, ist tiefste Vergangenheit. „Ich habe kein Internet, kein Smartphone“, sagt er. Er schaue auch kein Fernsehen, lese keine Zeitung. Und die News? „Wenn etwas passiert, erzählen es mir die Leute.“ Dafür lese er Bücher. Auf einem Stapel liegt „Civilization“, ein Werk des konservativen Historikers Niall Ferguson über den Niedergang des Westens, auf einem anderen „Deception“, eine libertäre Fundamentalkritik der amerikanischen Corona-Politik, verfasst vom republikanischen Senator Rand Paul, selbst Arzt.

Und was ist in dieser Schachtel auf dem Schrank, ein Hut? „Nein“, lacht Crumb – und holt einen echten menschlichen Schädel daraus hervor. „Alas, poor Yorick“, zitiert er den Hamlet-Monolog über die Vergänglichkeit. Den Schädel samt Skelett hat Crumb im Garten gefunden. Er stammt wohl aus der Zeit der Religionskriege, als die französischen Protestanten ihre Toten nicht auf dem Friedhof bestatten durften.

„All das verrückte Sex-Zeug“

Doch auch die Gegenwart hat ihre Glaubenskriege, und selbst an Robert Crumb sind sie nicht vorbeigegangen. „Schätze, ich bin gecancelt worden“, sagt er achselzuckend: „Für viele junge Leute bin ich Persona non grata.“ Eine Freundin, die Comicautorin Phoebe Glockner, habe 2020 an der University of Michigan ein Seminar über „Grafisches Erzählen“ gehalten und darin auch Crumb behandelt, immerhin prägte er die Ästhetik des Comics fast so wie das Disney-Genie Carl Barks. Anonyme Studenten zeigten die Dozentin bei der Universitätsleitung an: Sie habe sie „traumatisierendem“ Material und sexistischen und rassistischen „Mikroaggressionen“ ausgesetzt. Schon 2019 beschimpfte der Karikaturist Ben Passmore Crumb bei einer Preisverleihung als „Widerling“, eine Comic-Messe in Massachusetts verbannte ihn wegen „rassischer Stereotype und sexueller Gewalt“.

Nun kann niemand übersehen, dass Crumbs Werke, die von namhaften Kritikern mit denen von Brueghel und Bosch verglichen wurden, von beidem strotzen. Fast versteckt hängt an einer Wand, als Halbrelief aus dem Holzrahmen quellend, die Comicfigur Angelfood, eine ins Groteske überzeichnete und übersexualisierte schwarze Frau. „Ich habe damals alle Tabus gebrochen und gesagt: Hier ist das verrückte Zeug, das in meinem Hirn ist, ob es euch gefällt oder nicht!“

Crumb singt jetzt fast, klingt wie ein Prophet: „All das verrückte Sex-Zeug, all die Gewalt, all das Psycho-Zeug – es ist in meinem Kopf! Ich empfehle es nicht als Verhaltensmodell, ich zeige es nur.“ Wie bei Kafka, dessen Leben und Werk Crumb in einem kongenialen Comic illustriert hat, ist die Offenlegung dunkelster Vorstellungen von Schuldgefühlen begleitet. Schon in frühen Comic-Strips malte er sich aus, vor einem Revolutionstribunal auftreten zu müssen. „Es gab damals ein Sprichwort: Wenn du nicht Teil der Lösung bist, dann bist du Teil des Problems! Ich war mir da bei mir nie so sicher.“

Klingt der Kampf mit den eigenen Fantasien, von dem seine Comics handeln, im Alter ab? „Yeah, das Alter verringert den Sexualtrieb. Und ich habe meine Fantasien ausgelebt, wenn auch nur mit einer Handvoll von Frauen. Ich hatte genug Sex.“ Das Leiden aber, so Crumb, verschwinde im Alter nicht: „Es verändert sich nur“, erklärt er. „Es fußt nicht mehr auf Frustration wegen fehlender Erfüllung. Sondern es richtet sich auf etwas, das größer ist als das eigene Selbst: diese ganze verdammte Existenz, die so erhaben, aber auch so schrecklich sein kann.“

Wäre das nicht Stoff für einen Comic über den Existenzialismus des Alters? „Ich habe lange keinen Comic mehr gemacht“, stellt Crumb melancholisch fest. Wie lange? „Ich weiß es nicht.“ Dann folgt Schweigen. „Ich hatte 2022 diese Zusammenarbeit mit Aline, kurz bevor sie starb. Das war das letzte Mal.“

Robert Crumb, „Dieses verrückte Cartoonisten-Ehepaar Aline und R. Crumb“, 2021

Seit 1974 lebte Crumb mit der Comiczeichnerin Aline Kominsky zusammen, in einer „offenen“ Ehe, wie er es nennt. „Als sie mir ihre Liebe gestand, sagte ich ihr, dass ich nicht treu sein kann. Ich wollte sie nicht belügen. Sie sagte, dass sie das akzeptierte, aber in der Wirklichkeit war sie oft eifersüchtig.“ Er sei dagegen nie eifersüchtig gewesen. „Aline sagte, das läge daran, dass ich Asperger hätte.“

Wieder macht er eine längere Pause. „Aline sagte auch, ich würde mich mehr um Dinge kümmern als um Menschen. Meine Plattensammlung und so.“ Crumb macht eine flüchtige Handbewegung und lacht wie eine seiner Comicfiguren: „Hi, hi, hi!“ Dann scheint er ernsthaft über den Gedanken nachzusinnen. „Wenn ich meine Plattensammlung verlieren sollte, glaube ich nicht, dass es mir so das Herz brechen würde, wie als Aline starb. Ich habe einen Fluss von Tränen geweint. Es wird nie wieder dasselbe sein.“

„Was danach kommt“

Crumb und Kominsky haben eine Tochter: Sophie Crumb ist ebenfalls Comiczeichnerin, sie lebt mit drei Kindern nur ein paar Häuser weiter. Die Enkel kommen oft ins Haus des Großvaters, dann musizieren drei Generationen zusammen, „altes Zeugs, Volksmusik“.

Auch wenn Robert Crumb nicht vor Lebenskraft strotzt wie seine weiblichen Figuren, wirkt er mit achtzig Jahren kerngesund: „Yeah, ich bin okay!“ Macht es ihm Angst, dass der Tod näher kommt? „Als ich jung war“, sagt Crumb, „sah ich alte Leute und fragte mich: Wie ertragen sie den Gedanken, dass sie bald sterben werden? Jetzt weiß ich es. Man kann sich auf das Ende der eigenen Existenz einstellen. Was auch immer danach kommt, wer weiß.“

Das klingt fast nach einer religiösen Wendung. Hat sich Crumb nicht schon 2009 mit seiner wortgetreuen, weltweit gefeierten Comicfassung der Bibel, „Das Buch Genesis“, dem Katholizismus seiner Kindheit angenähert? „Die Bibel ist das Wort der Menschen, nicht das Wort Gottes“, sagt Crumb. „Aber irgendwo da draußen ist eine höhere Intelligenz, die uns auf irgendeine Weise helfen kann. Ich habe genug psychedelische Substanzen genommen, um zu wissen, dass diese Macht tatsächlich da ist.“

Die deutsche Ausgabe gibt es, aber sie ist nicht leicht zu finden.

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