„Ob wir zehn oder 25 Mal pro Minute atmen, hat erhebliche Auswirkungen auf unsere Lebensqualität.“
Atmung ist so selbstverständlich für uns, dass wir ihr meistens wenig Beachtung schenken. Ein großer Fehler, sagt der Experte. Dabei liegt in ihr ein riesiges Potenzial für viele unterschiedliche Bereiche. Warum das so ist, wie wir sie beeinflussen können.
Wohlbefinden, Gesundheit, Leistung – der Mensch tut viel, um dies zu optimieren. Ein wichtiges Tool liegt in uns selbst: die Atmung. Längst dienen verschiedene Atemtechniken auch im Spitzensport als Werkzeug in Training und Wettkampf. Relevant und wirksam aber sind sie für jeden. Durch Atemtechniken können spezifische Bereiche im Gehirn aktiviert werden – und das kann einen direkten Effekt auf physische, aber auch emotionale Zustände haben. Es ist aber auch schon viel getan, der Atmung an sich etwas Aufmerksamkeit zu schenken und um ihre Relevanz zu wissen.
Dirk Schauenberg (55) beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema. Der frühere Karate-World-Cup-Sieger ist ausgebildeter Meditationstrainer und Atemexperte, lernte auch von Mönchen in Sri Lanka. Nach seiner aktiven Karriere wechselte er auf die Trainerseite im Karate und dann in den Fußball, wo er als Athletikcoach unter anderem Fortuna Düsseldorf betreute. Heute leitet er sein Kensho Sport- und Gesundheitszentrum und ist somit auch im Bereich Prävention tätig.
WELT: Herr Schauenberg, Atmung ist so selbstverständlich, dass sie als Tool oft unterschätzt wird. Kann man das noch so sagen?
Dirk Schauenberg: Vor zehn bis fünfzehn Jahren war die Reaktion oft: „Ach Dirk, das mit der Atmung ist nicht so mein Thema.“ Doch diese Einstellung hat sich gewandelt. Wir atmen täglich etwa 17.000 bis 22.000 Mal. Das bietet uns eine Möglichkeit, aktiv Einfluss zu nehmen und dadurch ein besseres, gesünderes Leben zu führen sowie unsere Leistungsfähigkeit zu steigern. Die Atmung spielt eine zentrale Rolle in unserem Leben und verbindet Körper und Geist auf eine einzigartige Weise.
WELT: Das Thema Atmung spielt bei Ihren Trainertätigkeiten im Spitzensport eine große Rolle. Inwieweit lässt sich das auf Hobbyathleten, ob nun ambitioniert oder nicht, übertragen?
Schauenberg: Meiner Meinung nach ist die Atmung für alle Menschen, ob im Sport oder im Alltag, von großer Bedeutung. Speziell im Sport ermöglicht eine korrekte Atmung zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle eine gesteigerte Leistungsfähigkeit. Im Profisport liegt der Fokus stark auf der Leistung, aber auch viele Hobbysportler streben nach Verbesserung oder möchten sich einfach wohler fühlen.
WELT: Ein Beispiel?
Schauenberg: Die Atmung lässt sich hervorragend ins Krafttraining integrieren. Schauen wir uns an, wie wir dabei atmen, können wir je nach Atemtechnik unterschiedliche Muskelgruppen aktivieren – sei es durch blockiertes Einatmen, langsames und langes Ausatmen oder Atemanhalten. Dies ermöglicht eine präzisere Steuerung des Krafteinsatzes. Es lohnt sich definitiv für jeden, sich intensiv mit der eigenen Atmung zu beschäftigen. Dafür benötigen wir keine zusätzlichen Hilfsmittel, nur etwas Achtsamkeit und Wissen.
WELT: Haben Sie ein paar Zahlen für mich?
Schauenberg: Wir Menschen suchen oft nach Lösungen im Außen, dabei tragen wir einen riesigen Kosmos in uns. Gerade bei der Atmung ist es wichtig, zu verstehen, was unser Körper leisten kann. Unser Gehirn besteht aus etwa 90 Milliarden Zellen, von denen jede sich bis zu 30.000 Mal in verschiedene Richtungen vernetzen kann. Wir haben etwa 36 Billionen Zellen im Körper, mit leichten Unterschieden zwischen Mann und Frau. Diese Zellen regenerieren und verändern sich ständig – und können durch einen einzigen Atemzug beeinflusst werden. Besonders in Momenten von Angst, schlechter Laune oder Traurigkeit sollten wir uns daran erinnern: Unser Potenzial ist tatsächlich größer als die Anzahl der Sterne in der Milchstraße.
WELT: Ganz allgemein hängen Atmung und Energielevel eng zusammen. Können Sie das etwas aufschlüsseln?
Schauenberg: Wenn wir richtig atmen, haben wir eine Energiequelle zur Verfügung, die unsichtbar ist, aber entscheidend für unsere Lebensqualität. Obwohl die Zeit, die uns zur Verfügung steht, für alle gleich ist, unterscheidet sich unsere Wahrnehmung dieser Zeit je nach unserem Energielevel. Dieses Level lässt sich durch die richtige Atmung beeinflussen, je nach Situation. Manchmal erfordert es schnelle Atmung, manchmal eine entspannte. Heutzutage atmen viele Menschen ständig schnell oder flach, was ineffektiv ist. Idealerweise sollten wir etwa zehn bis zwölf Atemzüge pro Minute machen.
WELT: Und wo liegen die meisten Menschen?
Schauenberg: Die meisten Menschen atmen etwa 15- bis 18-mal pro Minute, und in manchen Regionen sogar 20- bis 25-mal, wie eine Studie aus den USA zeigt – vor allem in Gegenden mit niedrigem Einkommen und hohem Fast-Food-Konsum. Wenn wir gestresst sind oder uns schlecht ernähren, neigen wir dazu, schneller zu atmen, weil unser Körper versucht, überschüssiges CO₂ loszuwerden. CO₂ ist jedoch der Taktgeber für unsere Atmung. Je toleranter wir gegenüber CO₂ sind, desto ruhiger atmen wir. Ob wir zehn oder 25 Mal pro Minute atmen, hat erhebliche Auswirkungen auf unsere Lebensqualität. Langsamere und effektivere Atmung führt zu einem effektiveren Gasaustausch, was unsere Gesundheit verbessert, Schmerzen und Ängste reduziert und unsere Leistungsfähigkeit steigert.
WELT: Stress und Ernährung sind also zwei Faktoren, die die Atmung stark beeinflussen. Wie merken Sie das an sich selbst?
Schauenberg: Ernährung spielt eine große Rolle. Ich bemerke es deutlich an meiner Atmung am Morgen, abhängig davon, wie ich mich am Abend zuvor ernährt habe. Wenn meine Ernährung ungesund war, ist meine Atmung am nächsten Morgen nicht optimal. Habe ich hingegen natürliche und unverarbeitete Lebensmittel gegessen, ist meine Atmung gefühlt perfekt. Ebenso wichtig ist guter Schlaf. Nach einer erholsamen Nacht ist meine Atmung ruhig und gleichmäßig, während schlechter Schlaf sie unregelmäßig und flach machen kann. Sowohl eine gesunde Ernährung als auch ausreichender Schlaf sind entscheidend für eine optimale Atmung.
WELT: Wenn sie hingegen nicht rund läuft …
Schauenberg: … dann merke ich, wie unkonzentriert ich bin und muss mich sehr stark auf die Atmung fokussieren, was viel Energie kostet. Wenn ich jedoch ausgewogen esse und gut schlafe, läuft die Atmung von selbst und ich gewinne dadurch Energie, statt sie zu verlieren.
WELT: Bleiben wir kurz beim Schlaf als einer der Faktoren.
Dirk Schauenberg: Die Schlafqualität spielt eine äußerst wichtige Rolle für die Atmung. Während des Schlafs erholt sich unser Körper, und eine gute Schlafqualität fördert eine ruhige und gleichmäßige Atmung. Schlechter oder unregelmäßiger Schlaf kann zu flacher und schneller Atmung führen, was den Körper zusätzlich belastet. Guter Schlaf unterstützt die Regeneration des Nervensystems und kann die Stressresistenz erhöhen, was wiederum zu einer ruhigeren Atmung im Alltag beiträgt. Zusammengefasst ist die Schlafqualität ein entscheidender Faktor, der die Atmung ebenso stark beeinflusst wie Stress, Ernährung und Bewegung.
WELT: Sündigen wird dennoch erlaubt sein – aber das dürfte auch mit dem Grad an Bewegung zusammenhängen. Es geht wie immer um die Dosis?
Dirk Schauenberg: Absolut, Sündigen ist erlaubt und hängt auch stark vom Maß an Bewegung und Sport ab. Es kommt auf die richtige Balance an. Wenn ich mich regelmäßig bewege und Sport treibe, kann ich mir gelegentliches Sündigen erlauben, ohne dass es meine Atmung oder mein Wohlbefinden stark beeinträchtigt. Wie bei allem ist die Dosis entscheidend – ein moderates Maß an Genuss in Kombination mit einem aktiven Lebensstil ist der Schlüssel. Wichtig ist auch ein Bewusstsein für die Atmung in diesem Zusammenhang. Dadurch kann man das Ausmaß der Sünde besser erkennen, daraus lernen und entsprechende Schlüsse ziehen.
WELT: Wie beeinflusst mein Level an Bewegung die durchschnittliche Atmung pro Minute im Alltag?
Dirk Schauenberg: Das Level an Bewegung hat einen signifikanten Einfluss auf die durchschnittliche Atmung pro Minute im Alltag. Regelmäßige körperliche Aktivität verbessert die Effizienz der Lungen und des Herz-Kreislauf-Systems, was oft zu einer ruhigeren und tieferen Atmung führt. Aktive Menschen haben tendenziell eine niedrigere Atemfrequenz, da ihr Körper besser darin ist, Sauerstoff zu nutzen und Kohlendioxid abzuführen. Zudem fördert Bewegung die Stressreduktion, was ebenfalls zu einer ruhigeren Atmung beiträgt. Insgesamt kann regelmäßige Bewegung die Atemfrequenz stabilisieren und die Atemqualität verbessern.
WELT: Bei einem tiefen Atemzug sieht man, wie sich das Zwerchfell bewegt, was bedeutet das?
Dirk Schauenberg: Wenn wir bedenken, dass das Zwerchfell einer der größten Muskeln in unserem Körper ist, ist es wichtig, dass es sich ab und zu im Maximalumfang bewegt. Diese Bewegung sendet wichtige Information an unser Gehirn und unterstützt die optimale Funktion anderer Systeme in unserem Körper.
WELT: Wo wir bei der Frage nach der Bauch- oder Brustatmung sind. Welche Atmung ist besser?
Dirk Schauenberg: Man kann nicht pauschal sagen, welche Atmung besser ist – es hängt von der jeweiligen Situation ab. Bei einem 100-Meter-Sprint werde ich keine tiefe Bauchatmung verwenden. Doch es ist wichtig, ab und zu tief durchzuatmen und den Bauch dabei herauszustrecken. Wenn der Bauch sich beim Atmen wenig bewegt, könnte das auf Stress hinweisen. Daher ist es hilfreich, tief durchzuatmen und so Bewegung und Entspannung in den Körper zu bringen.
WELT: Ganz konkret: Was bringt das?
Dirk Schauenberg: Tiefes Durchatmen und die Bewegung des Bauchs hat viele Vorteile. Es fördert die Durchblutung und sorgt für eine bessere Sauerstoffversorgung des Körpers. Es hilft, Stress abzubauen und den Parasympathikus zu aktivieren, der für Entspannung und Erholung zuständig ist. Dadurch kann es auch die Verdauung unterstützen und das allgemeine Wohlbefinden verbessern. Zudem sorgt es für eine bewusste Pause im Alltag, was geistige Klarheit und Konzentration fördern kann.