Am Anfang unseres Lebens liegt uns nichts ferner als der Gedanke, für alles, was wir tun, eine Erlaubnis einholen zu müssen. Wir machen einfach, was wir wollen: Sieht der Teppich verlockend aus, lecken wir daran. Nervt uns die Katze, ziehen wir sie am Schwanz. Fasziniert uns die Steckdose, stecken wir unsere Finger hinein. Fragen wir uns, welches Geräusch eine Vase macht, die auf den Boden fällt, schubsen wir sie runter. Was wir wollen, wollen wir sofort. Bekommen wir es nicht, schreien wir los.
Sehr bald konfrontiert man uns allerdings mit einer völlig anderen Sicht der Dinge. Wir lernen, dass es nicht reicht, etwas zu mögen, um es zu bekommen: man muss grundsätzlich fragen, bevor man sich etwas nimmt. Was wir haben wollen, heißt es, gehört wahrscheinlich einem anderem, dessen Einverständnis wir brauchen. Vieles, worauf wir Lust haben, könnte anderen Menschen weh tun. Wir sollten ein bisschen weniger handeln und mehr nachdenken! Das Allermeiste, was uns vorschwebt, ist ohnehin keine gute Idee!
Unglücklicherweise scheinen ausgerechnet die interessantesten Einfälle unablässig gegen ganz existenzielle Regeln zu verstoßen: Offenbar sollte man dem Hamster einfach nichts auf den Rücken kleben; man isst etwas Anständiges zu Mittag, nicht nur Kuchen; man buddelt seinen Bruder nicht im Sand ein und bohrt auch kein Loch in den Kopf einer anderen Person, um ihr beim Denken zuzuhören. Wir lernen darüber hinaus einige ziemlich ernüchternde Dinge über gutes Timing: Erst nach den Hausaufgaben! Nächstes Jahr vielleicht! Wenn du erwachsen bist!
Und immer muss man unendlich viel länger warten, als man will.
So wachsen wir mit ziemlich festen Vorstellungen davon auf, was wir tun dürfen, was von unseren Sehnsüchten zu halten ist und wie man ein freundlicher, guter Mensch wird. Wir lernen, uns die Erlaubnis unserer Eltern einzuholen, wenn wir mit dem Rad losziehen wollen. Wir heben die Hand, bevor wir in der Klasse etwas sagen, und müssen fragen, bevor wir bei Freunden übernachten. An der Universität muss dem Thema unserer Seminararbeit erst zugestimmt werden. Bei der Arbeit klären wir mit dem Human Resources-Team, wann es ok ist, Homeoffice zu machen und wann nicht. Sogar unser Privatleben strotzt nur so vor Verboten. Wir können eine Beziehung doch nicht einfach beenden, schon gar nicht, wenn der geplante Urlaub vor der Tür steht! Ein Umzug in ein anderes Land? Das wäre nicht nur teuer, sondern auch exzentrisch. Wir sind zwar mit vielem nicht so zufrieden, aber was können wir Dummköpfe schon daran ändern?
WIR HABEN DIE MILLIONEN NEINS UNSERER KINDHEIT VERINNERLICHT UND FÜHREN KRIEG GEGEN UNSERE EIGENEN WÜNSCHE.
Wir sind keine Kinder mehr, die sich alles, was interessant ist, einfach fröhlich in den Mund stopfen, sondern sehen uns besorgt um und fragen, ob das, was wir tun wollen, ok ist. Meistens gehen wir stillschweigend davon aus, dass dem nicht so ist. Und selbst wenn etwas nicht direkt verboten ist, halten wir uns zurück. Wir haben die Millionen Neins unserer Kindheit verinnerlicht und führen, wie sich das für gute Erwachsene gehört, Krieg gegen unsere eigenen Wünsche. Es fällt uns nicht mehr schwer, geduldig zu sein. Unsere Sehnsüchte bereiten uns ordentlich Schuldgefühle. Wir sind uns darüber im Klaren, wie sehr unsere Bedürfnisse anderen zur Last fallen können. Wir suchen nach Bestätigung von Lehrern, Chefs, Regierungen – und vielleicht von Gottheiten. Unserer Vorstellung nach bestimmt das, was bereits existiert, darüber, was klug und richtig ist. Wurde etwas noch nicht gemacht, muss es dafür auch sehr gute Gründe geben. Vor allem aber achten wir darauf, uns nicht allzu sehr zu beeilen – auch dann nicht, wenn wir ein konkretes Ziel im Kopf haben. Viel besser ist es ja, ein Jahrzehnt oder zwei abzuwarten, als etwas zu überhasten …
Diese Haltung kann nützlich sein, schützt sie uns doch davor, rücksichtslos zu sein und unsere allzu kontraproduktiven Wünsche in die Tat umzusetzen. Aber die Ironie der Geschichte – und vielleicht letztlich: die stille Tragödie – ist, dass sich unsere Sehnsüchte mit der Zeit verändert haben. Sie sind gar nicht mehr besonders unvernünftig, eitel oder abstoßend. Gut möglich, dass wir inzwischen wirklich kluge und wichtige Dinge herbeisehnen.
WIR WISSEN VIELLEICHT GANZ GENAU, WAS WIR WOLLEN, ABER BEWEGEN UNS KEINEN ZENTIMETER VOM FLECK.
Und doch führen wir den Krieg gegen uns selbst mit eben jener unnachgiebigen Härte und dem unangemessenen Spott, denen wir vor vielen Jahren ausgesetzt waren – damals, als wir am liebsten den ganzen Schokoladenbrunnen im Hotel leergetrunken hätten. Obwohl unsere Wünsche inzwischen durch und durch legitim sind, bestrafen wir uns dafür, so wie man uns bestraft hat, in unserer Kindheit. Darum kann es sein, dass wir eigentlich ein neues Business aufziehen, eine Beziehung oder Stadt verlassen, völlig anders leben oder unser Zuhause, unseren Alltag oder unsere Wochenenden neu strukturieren wollen – und uns trotzdem keinen Zentimeter vom Fleck bewegen.
Es dauert mitunter sehr lange, bis wir begreifen, dass wir mit unseren Wünschen anders umgehen sollten, als wir es gelernt haben. Dabei hilft es, folgende Überlegungen anzustellen:
- Was wir ersehnen, ist vielleicht gar nicht so dumm; unsere Wünsche sind nicht bescheuert. Wie groß unsere Träume auch sein mögen – sie können völlig berechtigt sein.
- Möglich, dass das, was wir ersehen, niemandem gehört. Vielleicht hat es mit Besitz gar nichts zu tun. Darum muss uns auch keiner etwas erlauben. Ob wir uns so oder anders verhalten, ist der Welt womöglich völlig egal! Könnte sein, dass es gar keine Regel gibt, gegen die wir verstoßen und niemanden, der zürnt, wenn wir uns vorwagen.
- Belohnt wird vielleicht, wer nach der Belohnung greift. Eine formelle Übergabe findet nicht statt. Wir müssen nur mutig genug sein, uns vorzustellen, dass wir die Belohnung verdienen.
- Viele guten Ideen wurden nicht umgesetzt. Das liegt aber nicht unbedingt daran, dass sie dumm sind. Sondern eher daran, dass es uns allen an Originalität fehlt. Wir sind sehr traditionell denkende Geschöpfe. Dass etwas nicht existiert, beweist also keineswegs, dass es nicht existieren kann oder sollte. Es zeigt nur, dass auch die anderen, wie wir, auf Erlaubnis warten.
- Und noch etwas: Vielleicht sind wir nicht besonders gut damit bedient, auf den Sankt Nimmerleinstag zu warten, haben wir es doch mit einer endlichen Währung zu tun: der Zeit. Unsere Sehnsüchte durchlaufen keiner wundersame Verwandlung, wenn wir sie aufschieben. Es könnte sehr viel klüger sein, etwas sofort zu wollen und zu tun: zu entscheiden, ein Buch mit 24 zu schreiben, mit 17 eine eigene Firma zu gründen oder mit 52 eine Partnerschaft zu verlassen. Wir haben nicht ewig Zeit. Darum sollten wir versuchen, noch vor Sonnenuntergang in die Gänge zu kommen.
Kurz gesagt: Wir brauchen eine neue Philosophie des Wünschens. Für die sensiblen elfjährigen Jungen und Mädchen in uns, deren impulsives Selbst rigide und ohne viel Phantasie in seine Schranken gewiesen wird, ist die Botschaft noch immer äußerst überraschend: Dass die Zeit für Erlaubnisse vorbei ist.
Die mentale Struktur, von der wir uns so befreien, ist Produkt von Religion, Politik und Psychologie. In der längsten Zeit der menschlichen Geschichte glaubte man, Opfer bringen und Rituale und Gebete einsetzen zu müssen, um sich von den überlegenen Wesen und Kräften, die den Kosmos regieren, Erlaubnis für sein Handeln einzuholen.
Im Gründungsmythos von Rom können sich die Bürger zunächst nicht entscheiden, wo sie ihre Weltstadt errichten wollen. Sie weigern sich, den Aufbau zu beginnen, bevor sie ein Zeichen der Götter empfangen haben. Die göttliche Zustimmung erhalten sie schließlich in Form von zwölf Vögeln, die sich über einem der sieben Hügel zeigen. Belohnt werden sie viele Generationen später mit der Herrschaft über die damals bekannte Welt. Die Geschichte impliziert, dass die Stadt ohne die Erlaubnis der Götter niemals aufgeblüht wäre.
WIR WISSEN ZWAR NICHT GENAU, WEN WIR UM ZUSTIMMUNG BITTEN KÖNNTEN UND WIE DIESE AUSSEHEN SOLLTE, WARTEN ABER UNTERBEWUSST NOCH IMMER AUF BESTÄTIGUNG FÜR UNSERE PLÄNE.
Natürlich glauben wir, weniger eingeschüchtert und primitiv auf die Welt zu blicken. Aber unsere Haltung legt nahe, dass wir heimlich doch auf Erlaubnis warten. Wir wissen zwar nicht genau, wen wir um Zustimmung bitten könnten und wie diese aussehen sollte, suchen aber in den archaischen Teilen unserer Seele noch immer Bestätigung für die Pläne, die wir hegen. Wir möchten aus zwar unbekanntem, aber berufenem Mund hören, dass gut und erlaubt ist, was wir tun wollen, dass wir dafür nicht bestraft werden; dass wir weder den Ärger noch die Vergeltung des Universums heraufbeschwören.
Aber die Wahrheit ist, dass uns niemand eine Erlaubnis erteilen wird. Es gibt keine kosmische Autorität, die etwas erlaubt, die Stirn runzelt, zornig wird oder uns bestraft. Wir sind allein. Niemand kann uns sagen, ob es ok ist, endlich loszulegen oder besser, weitere fünf Jahre zu warten.
Das Universum hat keinen Plan für uns. Ihm ist egal, was wir tun oder warum. Weder straft es unsere Überschreitungen, noch belohnt es unsere Tugenden. Wir sind allein und völlig frei in unseren Entscheidungen.
Aufschlussreich ist auch die Faszination unserer Kultur für Erfinder und Künstler, die aufbrechen, gegen den Strom der herrschenden Meinung schwimmen und häufig erst nach ihrem Tod rehabilitiert werden. Ihre Lebensgeschichten begeistern uns, weil wir unbewusst etwas in in ihnen finden, das uns selbst fehlt: den kühnen Gleichmut, mit dem sie sich über Erlaubtes und Unerlaubtes hinwegsetzen. Ihr Vorbild ist ein Korrektiv unserer Angst.
Berührenderweise stammt eine der Textzeilen, die am häufigsten auf Beerdigungen gespielt wird, aus Frank Sinatras reifer, weltliche Hymne an die Unabhängigkeit: „I did it my way“.
Auch bei meiner Beerdigung wird gespielt werden: „I did it my way“
Nicht, weil so viele von uns geschafft hätten, ohne auf Erlaubnis zu warten unser Leben so zu führen, wie wir es für richtig hielten, sondern weil wir uns im Nachhinein so sehr wünschen, wir hätten uns das getraut. Und uns klar wird:
Wir hätten es tun sollen.