Das Ende des Romantikdiktats

Andrea Newerla, Jahrgang 1978, forschte zuletzt an der Paris Lodron Universität Salzburg zu ­Intimitäten, Online­dating und Beziehungsmustern. Gerade ist ihr Buch „Das Ende des Romantikdiktats“ erschienen; Kösel-Verlag, 208 Seiten, 20 Euro

Wir machen uns in unseren Liebesbeziehungen etwas vor, sagt die Soziologin Andrea Newerla und fordert einen neuen Umgang mit Intimität. Wie der aussehen soll – und was wir ihrer Meinung nach falsch machen.

Frau Newerla, Sie kritisieren ganz grundsätzlich die Art und Weise, wie wir Liebesbeziehungen führen, und fordern ein „Ende des Romantikdiktats“. Was meinen Sie damit?

Wenn wir groß werden, erfahren wir von der Liebe in romantischen Geschichten. In Märchen und Disneyfilmen, in der Literatur, in Hollywoodfilmen wie „Bridget Jones“ und sogar in Blockbustern. Denken Sie nur an James Bond. Diese Liebesgeschichten haben alle ein ähnliches Skript. Sie erzählen von dieser besonderen Person, die man zufällig trifft, in die man sich verliebt und mit der man dann bis ans Ende seiner Tage glücklich ist. Hat man diese Person gefunden, wird alles andere unwichtig. Dabei entspricht das überhaupt nicht der Realität.

Revolutionieren wir die Welt der Liebe!

»Ein mutiges, kluges Buch über Formen intimen Zusammenlebens, über Nähe, Liebe, Sexualität – und das Ende der Romantiknorm. Ein Nachdenken, das neue Perspektiven öffnet!« Gert Scobel

»Dieses Buch öffnet Scheuklappen auf höchst interessante Weise! So entstehen neue Räume im Kopf. Als Paartherapeutin weiß ich, wie wichtig das ist.« Ann-Marlene Henning

Unsere Beziehungen funktionieren häufig nicht mehr: Die Zahl der Single-Haushalte steigt, die Kleinfamilie zerfällt und während uns Hollywood den Glanz der ganz großen Liebe ins Wohnzimmer strahlt, suchen wir mit Dating-Apps, polyamoren oder offenen Beziehungen den neuen Goldstandard für Nähe und Verbindlichkeit. Doch liegt darin wirklich die Erfüllung unserer intimsten Sehnsüchte? Steckt dahinter nicht ein Prinzip, das sich in Zeiten des ökonomisierten Dating-Marktes selbst überholt hat?

Die Romantik ist also für die Intimitätskrise verantwortlich, in der wir Ihrer Meinung nach alle stecken?

Zum Teil schon. Wir versuchen nämlich, diese Erzählungen in unseren persönlichen Liebesgeschichten niederzuschreiben. Wie fleißige Schüler bei einem Diktat. Doch wir schaffen es nie bis zum Ende. Immer wieder machen wir Fehler. Die Folgen sieht man auch in den Statistiken: Seit Jahrzehnten sinkt die Anzahl an Heiratswilligen, Einpersonenhaushalte nehmen zu, Singles sind überfordert von einem schier unendlichen Angebot auf dem Onlinedatingmarkt. Wir wollen, dass die romantische Erzählung stimmt, aber wir machen auch die Erfahrung, dass sie nur begrenzt funktioniert. Ich möchte anregen, über andere Formen von Intimität nachzudenken. So können wir uns vielleicht aus diesem ewigen Kreislauf der romantischen Liebe retten.

Sie sprechen von dem unserem als einem „Zeitalter der seriellen Romantik“. Was wollen Sie damit sagen?

Die Erfahrung vieler Menschen ist, dass romantische Beziehungen nicht so von Dauer sind, wie es uns erzählt wird. Wir können heute beobachten, dass Leute viel offener über Trennungen nachdenken. Mit der Babyboomergeneration trennen sich zunehmend auch ältere Menschen. Anstatt sich aus der romantischen Erzählung zu lösen, versuchen diese Menschen aber immer wieder aufs Neue, die EINE Person zu finden, mit der ein Happy End möglich ist.

Was spricht gegen diese Serialität?

Wir richten in der Regel unser Leben nach dem Partner oder der Partnerin aus. Wenn man sich trennt, zerbricht dann nicht nur eine Liebesbeziehung, sondern oft das ganze Leben. Ich kenne das aus eigener Erfahrung, aber auch von vielen Menschen, die ich für meine Forschungen interviewt habe. Ich glaube, aus dieser Spirale kommen wir nicht raus, wenn wir nicht anfangen, unser Leben auf ein anderes Fundament zu stellen. Ein Fundament, das auf vielen Beziehungen fußt, würde uns stärker machen. Wieso nicht ein Kind mit einer Person bekommen, mit der wir keine Liebesbeziehung haben? Oder ein Haus bauen? Oder regelmäßig in den Urlaub fahren? Es muss nicht eine Person alles bedienen. Die romantische Liebe krankt heute daran, dass sie so viel zu erfüllen hat, was sie niemals schaffen kann.

Deswegen plädieren Sie dafür, Freundschaften einen höheren Wert in der Gesellschaft beizumessen.

Die romantische Liebe ist der Heilige Gral der Zwischenmenschlichkeit. Es ist sehr schwer für all die anderen Beziehungen, da ranzukommen. Dabei können wir alle von sehr bedeutsamen Freundschaften berichten, oder wir haben enge familiäre Bande. Aber keine dieser Beziehungen hat einen solch elementaren Platz wie die romantische Liebesbeziehung. Das liegt auch daran, dass mit ihr ein extrem großes Glücksversprechen einhergeht.

Fritz ruft an. Kapitel 1 aus „Das Ende des Romantikdiktats“.

Üben Geschichten, die von der romantischen Liebe erzählen, deswegen so einen Sog auf uns aus?

Ja. Nirgends sollen wir so glücklich sein können wie im Finden dieser einen anderen Person, die uns liebt, wie wir sind. Glücklich und authentisch sein zu dürfen in einer Gesellschaft, die sonst sehr viel von uns verlangt und sehr rational ist, ist enorm verführerisch.

Wieso ist uns nicht früher aufgefallen, dass das nicht funktioniert?

Meine Großmutter und mein Großvater waren 70 Jahre verheiratet. Sie hätten sich nie im Leben scheiden lassen. Weil die Kirche so eine elementare Rolle gespielt hat, dass dieser Gedanke überhaupt nicht aufkam. Die Institutionen, die uns verboten haben, solche Gedanken zuzulassen, sind weggebrochen. Gleichzeitig ist es uns immer wichtiger geworden, uns selbst verwirklichen zu können. Selbstverwirklichung ist geradezu heilig heutzutage. Und es ist tatsächlich äußerst schwierig, in einer Partnerschaft der Selbstverwirklichung zu folgen.

Das Wort „Diktat“ ist bewusst gewählt. Sie sagen nämlich: Zu einer freien Gesellschaft passen diese strikten Vorgaben in Liebesdingen nicht.

Unsere Gesellschaft bildet die Vielfalt, die an Beziehungen zwischen zwei Menschen existiert, noch gar nicht ab. Stattdessen haben sich scheinbar feste Abläufe etabliert, die immer wieder für Verwirrung sorgen, weil sich Gefühle nicht in feste Skripte pressen lassen. Dann hört man Sachen wie: „Wir lagen doch jeden Abend auf dem Sofa und haben Netflix geguckt.“ Oder: „Ich habe meine Zahnbürste bei der Person gelassen. Das bedeutet doch, dass das eine (romantische) Liebesbeziehung sein muss.“ Nein, das bedeutet es nicht zwangsläufig. Wir müssen darüber sprechen, was wir hier eigentlich machen.

Das klingt kompliziert. Wie sollen wir als Gesellschaft lernen, über Gefühle und Wünsche zu reden, wenn wir das vorher nie gemacht haben?

Zunächst brauchen wir Vorbilder. Geschichten, die zeigen, dass nicht alles von Geisterhand passiert. Sobald ich für jemanden etwas empfinde, sobald ich mehr mit einem Menschen machen möchte, sollte ich anfangen zu reden. Das ist natürlich nicht einfach. Die andere Person könnte ein Beziehungsgespräch so unter Druck setzen, dass sie wegrennt. Das ist im Moment noch äußerst brisant. Deswegen brauchen wir unbedingt einen gesellschaftlichen Diskurs. Der wird es auch im Individuellen erleichtern. Denn Intimität ist nichts, das sich einfach so entwickelt. Es ist Arbeit.

Erhoffen Sie sich in diesem Zusammenhang etwas von der „Verantwortungsgemeinschaft“, die die Ampelkoalition einführen will? So sollen zwei oder mehr Erwachsene rechtlich füreinander Verantwortung übernehmen können, ganz ohne Heirat.

Das ist ein sehr spannender Vorschlag, weil es solch ein Modell in dieser sehr freien Form, ohne Fokus auf Zweisamkeit, noch nirgendwo anders gibt. Ich würde mir wünschen, dass die politischen Entscheidungsträger Strukturen schaffen, die eine Vielfalt von intimen Beziehungen ermöglichen. Im Moment ist es zum Beispiel schwierig, wenn ich mit einer Freundin oder einem Freund ein Kind großziehen will, ich aber kein biologischer Elternteil bin; dann habe ich keine Rechte. Es geht auch um unsere Zukunft als alternde Gesellschaft. Wir haben jetzt schon enorme Versorgungsprobleme, die ein romantischer Liebesdienst nicht lösen kann. Wir brauchen ein neues Miteinander, das nicht nur auf einem sehr besonderen, aber auch sehr zerbrechlichen Gefühl wie der romantischen Liebe fußt.

Erkenntnis führt zur Befreiung; sei es von der Diktatur der Romantik, sei es von der Unterdrückung durch unser Unbewusstes – Escaping from the deadly waters of subconscious, art by Max Ernst, 1934

Aber es gibt ja trotzdem Paare, die – wie Ihre Großeltern – 70 Jahre zusammen sind und dabei das romantische Ideal erfüllen, weil es die für sie beste Beziehungsform ist.

Es gibt sicher Menschen, die an die romantische Liebe so sehr glauben, dass sie Probleme gut händeln können und auf Dauer miteinander funktionieren. Aber das ist eben nicht für alle was. Ich möchte dafür plädieren, dass wir den Begriff „Beziehung“ nicht zwangsläufig mit ei­ner romantischen Liebesbeziehung verbinden. Dass wir auch hier von diesen Selbstverständlichkeiten weggehen, um Menschen, die nicht in einer romantischen Liebesbeziehung sind, nicht auszugrenzen und als unfähig zu markieren. Auch freundschaftliche Beziehungen können ein wichtiger Teil des Lebens sein.

Auch Safi Nidiaye hat einen erweiterten Begriff von Intimität. Und – da hat sie recht!

Weißt du eigentlich, dass jeder deiner Blicke das, worauf er sich richtet, berührt und von ihm berührt wird? Weißt du, dass dein Atem Berührung und Begegnung ist? Das zu erleben bedeutet Intimität.

Safi Nidiaye, aus: Der Zauber der Intimität (ursprünglicher Titel: „Intimität. Das Geheimnis des Glücks“)

Sie wollen auch von der Priorisierung einer bestimmten Beziehung weg?

Wir können von Menschen in polyamourösen Beziehungen lernen, dass es auch ohne Priorisierung funktionieren kann. Es kann natürlich sein, dass es Phasen gibt, in denen ein Mensch besonders wichtig wird. Aber in uns steckt genug Zuneigung für mehrere Personen. Das knappe Gut ist nicht Liebe, das knappe Gut ist Zeit. In der Zweisamkeit wird die Zeit sehr viel der einen Person gewidmet. Hier sollten wir Freundschaften nicht aus dem Blick verlieren. Und uns immer bewusst sein: Es geht auch anders.

Es gibt eine Gruppe, auf die das Romantikideal nie ganz gepasst hat: die queere Community. Kann die heteronormative Gesellschaft hier lernen?

Weil sie von der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert wurden, sahen sich queere Menschen regelrecht dazu gezwungen, ihre Begehrensstrukturen und intimen Beziehungen zu reflektieren. Damit tun sie, was wir aus einer heteronormativen Perspektive gerade nicht tun. Von den vielen Kämpfen, die da geführt worden sind, können wir lernen, dass Sexualität, Nähe und Liebe gesellschaftlich geprägt sind. Was wir in unseren Schlafzimmern treiben, ist politisch. Darüber müssen wir reden!

Welchen Platz hätte Sex in einer Welt, in der der romantischen Liebesbeziehung weniger Bedeutung beigemessen wird?

Es gibt genug Menschen, die Sex nicht in einer romantischen Liebesbeziehung praktizieren und trotzdem Intimität wahrnehmen. Die trotzdem nicht nur auf die eigene Befriedigung aus sind. Sex im Kontext der romantischen Liebe gilt als besonders wahr und authentisch. Davon müssen wir uns lösen. In unserer Gesellschaft wird zu viel anhand sexueller Beziehungen verhandelt, Sex ist viel zu aufgeladen. Er kann auch einfach nur eine Genusserfahrung sein. Und es gibt Situationen, die sehr viel intimer sein können als Sex – weinend bei einer Freundin im Arm zu liegen zum Beispiel. Sex ist ein Teil von Intimität, aber bei Weitem nicht der einzige.

Gibt es überhaupt noch gute Gründe zu heiraten – abgesehen von etwaigen steuerlichen Vorteilen?

Ich kann verstehen, dass sich Menschen das Jawort geben wollen, weil diese uralte Tradition anscheinend DER Liebesbeweis ist. Aber die Frage ist, ob die Ehe noch die Sicherheit im Leben bietet, die wir uns eigentlich wünschen. Wenn wir uns aus freien Stücken für einen Menschen entscheiden können, bedeutet das auch, dass die Partner die Möglichkeit haben, sich jederzeit aus dieser Zweisamkeit zu lösen. Diese Ungewissheit ist der Preis der Freiheit.

Wann haben Sie selbst gemerkt, dass das romantische Ideal eigentlich unerreichbar ist?

Auch ich war serielle Romantikerin. Das heißt: Seit ich 15 Jahre alt war, bin ich immer in romantischen Liebesbeziehungen gewesen – mal länger, mal kürzer. Das hat sich erst mit dem Ende meiner letzten romantischen Beziehung geändert. Ich war acht Jahre lang mit Fritz zusammen gewesen und hatte meine komplette Zukunft auf ihn ausgerichtet. Als er sich trennte, schien meine gesamte Liebes- und damit auch Lebensgeschichte auserzählt. Erst später merkte ich: Das Ende unserer Liebesbeziehung bedeutet nicht das Ende unserer Verbundenheit. Fritz gehört nach wie vor zu den wichtigen Menschen in meinem Leben, er ist Familie für mich. Dadurch wurde mir bewusst: Intime Beziehungen können sich in ihrer Form ändern, ohne dass der Mensch an Bedeutung verlieren muss.

Daniel Schreiber

Allein

Zu keiner Zeit haben so viele Menschen allein gelebt, und nie war elementarer zu spüren, wie schnell das selbstbestimmte Leben in Einsamkeit umschlagen kann. Aber kann man allein überhaupt glücklich sein? Und warum wird in einer Gesellschaft von Individualisten das Alleinleben als schambehaftetes Scheitern wahrgenommen?

Die wahrscheinlich letzte große Erzählung, die diesen Zeitenwandel überlebt hat, ist die der romantischen Liebe. Zumindest in Ansätzen. Natürlich lassen wir jene »göttliche« oder »natürliche« Ordnung der Geschlechter, deren Teil diese große Erzählung lange war, immer mehr hinter uns. Natürlich hat sich auch das, was wir unter Liebe verstehen, fundamental gewandelt. Soziologinnen wie Eva Illouz haben überzeugend beschrieben, welche Auswirkungen die Kommerzialisierung unserer Gefühle auf sie hat, die Kapitalisierung unserer Körper, die ganze emotionale Aufmerksamkeitsökonomie, die immer nach mehr und Besserem sucht. Dennoch hat die Idee der Liebe nur wenig von ihrer Sogkraft verloren. Immer noch steht sie im Fokus unserer kollektiven Fantasien und hat einen festen Platz in unserem persönlichen Erwartungshorizont. Immer noch ist sie das, was sich die meisten Menschen wünschen, das, worauf sie hoffen, ist der vielleicht wesentlichste Bestandteil dessen, was sie unter Glück verstehen. Für die meisten von uns fühlt sich ein Leben ohne die Intimität der Liebe nicht vollständig, nicht erfüllt an, wie ein Leben, dem etwas fehlt.

Ob wir in Beziehungen leben oder nicht, wir alle haben ein Bedürfnis nach Nähe, das wir stillen müssen. Ohne dass ich es in Worte fassen konnte, fühlte ich mich, wenn ich bei Sylvia und ihrer Familie am Liepnitzsee war, nicht so sehr auf mich und mein Leben allein zurückgeworfen.

Sylvia gehörte zu den wenigen Menschen, die nicht nur wussten, wer ich bin, sondern auch, wer ich vor zwei Jahren oder vor zwei Jahrzehnten war. Wir verändern uns, verändern uns die ganze Zeit. Und wir vergessen, vergessen, auch wenn wir es nicht wollen, wer wir einmal waren. Wir brauchen Menschen, die uns genau davor bewahren.

Wenn man allein lebt, sind es oft Freundschaften, solche wie die zu Sylvia, die das Zentrum des Lebens bilden. Es sind Freundschaften, die mein Leben strukturieren. Es sind Freundinnen und Freunde, mit denen ich es teile. Es wird so viel über die große Erzählung der romantischen Liebe geschrieben, es werden so viele Filme über sie gedreht und so viele theoretische Erklärungsgebäude für sie errichtet, dass wir andere Erzählungen von Nähe und Intimität häufig außer Acht lassen oder ihnen nicht jene Bedeutung beimessen, die ihnen zusteht. Selbst wenn sich keine dauerhafte Liebesbeziehung einstellt, selbst wenn wir keine Familien gründen, selbst wenn wir allein durchs Leben gehen: Fast immer führen wir Freundschaften. Und für viele von uns gehören sie, wie die Philosophin Marilyn Friedman unterstreicht, zu den unumstrittensten, beständigsten und befriedigendsten aller engen persönlichen Bindungen.

Freundschaften sind die einzigen Beziehungen, die gänzlich auf Freiwilligkeit beruhen, auf dem gegenseitigen Einverständnis zweier Menschen, sich zu unterschiedlichen Graden auszutauschen, Zeit miteinander zu verbringen und füreinander da zu sein. Man wird nicht in sie hineingeboren wie in familiäre Beziehungen mit ihren Ritualen und Pflichten. Für gewöhnlich sind sie auch nicht mit den auf Exklusivität ausgelegten Regeln von Liebesbeziehungen verbunden, nicht mit ihrer Agenda des Begehrens. Wir wählen unsere Freunde und Freundinnen danach aus, wer sie sind, und werden umgekehrt auch genau danach von ihnen ausgewählt. Oft kommt heutigen freundschaftlichen Beziehungen sogar eine andere Dringlichkeit als Liebesbeziehungen zu. Darauf ist die Soziologin Sasha Roseneil in ihren Forschungen gestoßen. Freundschaften, schreibt sie, gehören dieser Tage zu unseren »Praktiken der Selbstreparatur«. Sie können dabei helfen, »die Wunden des Selbst zu heilen« und »seelischen Nöten, Enttäuschungen, psychischem Leid und Verlusten« zu begegnen. Sie können dafür sorgen, dass seelische Einbrüche und gescheiterte Beziehungen nicht unser ganzes Gefühlsleben bestimmen. Dennoch ist das, worüber wir reden, wenn wir über Freundschaft reden, für jeden und jede von uns etwas anderes. Tatsächlich ist es immer wieder überraschend, wie vielfältig die Beziehungsformen sind, die wir als Freundschaften bezeichnen. Neueren soziologischen Forschungen zufolge sind sie nicht als eine Beziehungsart, sondern als eine »Familie abstrakter Beziehungsformen« zu verstehen, als ein »Geflecht graduell miteinander verwandter Sozialformen«. Ihr Spektrum kann von kurzlebigen Bekanntschaften bis zu langjährigen intimen Beziehungen reichen. Es gibt Menschen mit großen und solche mit kleinen Freundeskreisen.

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