Nickerchen

Nichts ist schöner als ein Nickerchen bei offenem Nenster, sagte der Mann mit dem Sprachfehler. - Edward Hopper, Exkursion in die Philosophie, 1959.

Kurze Nickerchen sind eine ideale Ergänzung zum tiefen Schlaf: In der Grauzone zwischen Wachen und Schlafen haben Forscher ein schöpferisches Potential entdeckt. Sie nennen es die N1-Phase.

Wenn sich nach dem Mittagessen bleierne Müdigkeit einstellt und die Buchstaben vor den Augen verschwimmen, kann ein „Powernap“ Wunder bewirken. Meist reichen schon wenige Minuten oder auch nur Augenblicke, um mit frischem Elan an die Arbeit zurückkehren zu können. Man muss offenbar nur die Einschlafphase durchleben, die Schlafexperten „N1“ nennen.

Noch ist diese Phase nur wenig erforscht. Forscher um Célia Lacaux vom Paris Brain Institute der Sorbonne-Universität in Paris halten dieses Desinteresse für wenig gerechtfertigt – und versuchen, dies zu ändern. „Im Graubereich zwischen Wachen und Schlafen laufen etliche dynamische Prozesse ab“, stellen sie im Fachblatt „Trends in Neurosciences“ fest. So nehme die Hirnaktivität ab, die Muskeln entspannten sich, der Herzschlag werde langsamer, das Bewusstsein fluktuiere, und es komme zu reichhaltigen Sinneserlebnissen.

Wie die Erkenntnisse der französischen Forscher nahelegen, vertreibt ein kurzes Nickerchen nicht nur die Müdigkeit, sondern fördert darüber hinaus kreatives Denken. Indizien hierfür erhielten die Wissenschaftler in einer Studie, an der rund 100 junge Männer und Frauen beteiligt waren. Im ersten Teil des Experiments legten die Wissenschaftler den Probanden ein kniffliges Zahlenrätsel mit der Anweisung vor, eine Regel zu finden, mit der sich dieses rasch lösen ließ. Wie sich zeigte, gelang es 16 Testpersonen schon beim ersten Anlauf, die gestellte Aufgabe zu erfüllen. Diese schieden daraufhin aus, während die übrigen 87 Probanden gebeten wurden, zwanzig Minuten lang auf einer Liege auszuruhen und dabei ein Objekt in der Hand zu halten. Der Grund: Im Augenblick des Einnickens erschlaffen die Handmuskeln, was zur Folge hat, dass der Gegenstand zu Boden fällt und der Aufprall den Schlafenden weckt.

Edison hatte recht

Die Idee, das Nickerchen auf diese Weise jäh zu beenden, stammt angeblich von Thomas Edison, dem Erfinder der elektrischen Glühbirne. Der amerikanische Elektroingenieur hat demnach festgestellt, dass kurze Nickerchen seinen Geist beflügelten und ihn auf neue Gedanken brachten. Um nicht zu tief einzuschlafen, habe er daher immer mit Kugeln in der Hand gedöst.

Lacaux und ihre Kollegen wollten sich bei ihren Untersuchungen allerdings nicht allein auf diesen Trick verlassen. Um die Phase des Einnickens genau zu erfassen und von den anderen Schlafphasen abgrenzen zu können, ermittelten sie die Hirnströme der Probanden mittels Enzephalographie, kurz EEG. Das Ergebnis der Studie: Edison hatte recht. Wie sie in Sciences Advances“ berichteten, verhalf das kurze Nickerchen dem Einsichtsvermögen der Probanden merklich auf die Sprünge. So fanden 83 Prozent der 24 Personen, die kurz weggedöst waren, die Regel des Zahlenspiels und konnten die Aufgabe in der Folge schnell lösen. Dasselbe gelang hingegen nur 31 Prozent der wach gebliebenen Männer und Frauen – 15 von 49 – und 14 Prozent der Probanden, die tief eingeschlafen waren, nämlich zwei von 14 Probanden. Der zur Erhellung führende Kurzschlaf habe demnach nicht länger als eine Minute sein müssen.

Inspiriert von den Erkenntnissen des französischen Teams, stellte sich für Wissenschaftler um Adam Haar Horowitz vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) die Frage, ob kurzes Dösen die Kreativität generell steigert oder nur jene, die mit der aktuellen Beschäftigung in Zusammenhang steht – beispielsweise mit einem mathematischen Problem, wie in der französischen Studie, oder mit dem Einfallsreichtum, wenn es darum geht, einen Aufsatz zu schreiben.

Kurzschlaf führt zu einem merklichen Schub an Kreativität

Die Teilnehmer ihres Projekts, gesunde junge Männer und Frauen, mussten hierzu mehrere Kreativitätstests bewältigen – die eine Hälfte nach einer Entspannungsphase im Wachzustand, die andere nach einem kurzen Schläfchen. Ein eigens für Schafstudien entwickeltes Gerät namens Dormio sorgte dafür, dass die betreffenden Probanden nicht zu lange schliefen. Es erkennt den Schlafeintritt an charakteristischen biologischen Parametern, wie etwa der Verlangsamung des Herzschlags und dem Rückgang der Muskelspannung, und kann ihn nach einem vorgegebenen Zeitraum mit einem Weckton beenden.

In beiden Gruppen wurde zudem die Hälfe der Versuchspersonen angewiesen, sich während der Ruhephase intensiv mit einem bestimmten Thema – die Forscher wählten dabei den Begriff „Baum“ – zu befassen. In den anschließenden Kreativitätstests dreht sich dann alles um den Baum. Eine Aufgabe drehte sich darum, einen kreativen Aufsatz zu schreiben, in dem das Wort Baum vorkommt. Bei einer anderen Aufgabe sollten die Probanden innerhalb von drei Minuten möglichst viele, kreative Nutzungsmöglichkeiten eines Baumes auflisten.

Bei einem weiteren Experiment erhielten die Studienteilnehmer eine lange Liste von Substantiven, die direkt oder indirekt mit dem vorgegebenen Thema zusammenhingen. Sie mussten dann aufschreiben, welches Verb ihnen zu jedem Einzelnen spontan in den Sinn kam. Wie in „Scientific Reports“ nachzulesen ist, können die US-Forscher die Erkenntnisse ihrer französischen Kollegen bestätigen. So führte der Kurzschlaf auch in ihrer Studie offenbar zu einem merklichen Schub an Kreativität.

Erhöht „rosa Rauschen“ den Rätselerfolg?

Mit Abstand am besten schnitten jene Versuchspersonen ab, die sich während des Nickerchens gedanklich mit dem Thema, das in den Tests zur Sprache kam, auseinandergesetzt hatten. Die beim Schlummern auftretenden Gedanken und Sinneseindrücke – die Autoren sprechen von Hypnagogie – standen dabei in einer engen Beziehung zum Ausmaß an Kreativität: Je häufiger darin Worte und Bilder rund um das Thema Baum auftauchten, desto mehr Ideenreichtum legten die Versuchspersonen an den Tag.

Was die ideale Dauer einer Schlafpause angeht, scheint nicht nur zu viel des Guten nachteilig zu sein. Auch wenn sie zu kurz währt, bleibt das Einfallsvermögen offenbar auf der Strecke. Eine solche Interpretation erlauben zumindest die Beobachtungen von Psychologen der Universität von Texas in San Antonio. Diese hatten ursprünglich zeigen wollen, dass ein „rosa Rauschen“ während des Nachtschlafs den Rätselerfolg erhöht. Dabei handelt es sich um Tonfrequenzen, die wie ein Wasserfall oder Regen klingen und von vielen Menschen als beruhigend empfunden werden. Verschiedenen Beobachtungen zufolge stärken solche nächtlichen Hintergrundgeräusche das Gedächtnis und könnten daher, so die Überlegung der Autoren, auch anderen kognitiven Eigenschaften auf die Sprünge helfen.

Um ihre Hypothese zu testen, hatten sie 72 Studenten der University of Texas dazu gewinnen können, zur Hälfte mit und zur anderen Hälfte ohne rosa Rauschen im Hintergrund zu schlafen. Am Tag darauf wurden die Probanden aufgefordert, die Regel des Zahlenspiels zu finden. Wie die Autoren in „Frontiers in Human Neuroscience“ berichten, erwies sich das nächtliche Rauschen nicht als nutzbringend, eher im Gegenteil. Die Schlafqualität habe es zwar nicht beeinträchtigt, doch sei der Aha-Effekt bei den Probanden dieser Gruppe seltener eingetreten als bei jenen, die ohne Hintergrundrauschen geschlafen hatten. Ursächlich für das schlechtere Ergebnis könnte eine Veränderung der Schlafarchitektur gewesen sein, mutmaßen die Forscher. So habe die Auswertung der EEG-Daten ergeben, dass die Probanden, die in der Nacht dem Rauschen ausgesetzt waren, eine kürzere Einschlafphase hatten und rascher in den Tiefschlaf fielen als die anderen Teilnehmer. Je kürzer das Schlummerstadium N1, desto seltener gelang es den betreffenden Personen, das Rätsel zu lösen.

Auf welche Weise der Graubereich zwischen Wachen und Schlafen die Kreativität beflügelt, ist noch offen. Horowitz und seine Kollegen halten es für denkbar, dass unser Gehirn beim Dösen freier assoziieren kann als im Wachzustand und daher eher in der Lage ist, Verbindungen zwischen weiter entfernten Hirnarealen herzustellen. Die beim Einnicken auftretenden, traumartigen Sinneseindrücke könnten dabei eine wichtige Rolle spielen, vermuten die Wissenschaftler.

„Das Träumen erledigt viele Aufgaben im Hintergrund“

Vergleichsweise gut belegt ist, dass reguläres Träumen zu neuen Einsichten führen kann. „Schon C.G. Jung ging davon aus, dass Träume dem Bewusstsein schöpferische Impulse geben und so die Kreativität fördern“, sagt der Traumforscher Christian Roesler, der an der Katholischen Hochschule in Freiburg klinische Psychologie und Psychoanalyse lehrt. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien, aber auch Berichte von Künstlern und Erfindern, würden Jungs Hypothese stützen. Als ein Beispiel nannte er die Komposition des berühmten Beatles-Songs „Yesterday“. Wie Paul McCartney in einem Podcast berichtet, hat er das Lied im Traum gehört, zuerst aber gedacht, es müsse bereits bekannt sein. Denn er konnte sich nicht vorstellen, dass ihm die Melodie über Nacht eingefallen war.

Intensiv befasst hat sich mit der Fähigkeit, im Traum auf schöpferische Gedanken zu kommen, die amerikanische Psychologin Deirdre Barrett von der Harvard-Universität in Boston. Ein Indiz für die Macht des Traums sei, dass ein wichtiges Kontrollzentrum des Gehirns während des REM-Schlafs, einer besonders traumintensiven Schlafphase, gedämpft ist. Die Rede ist vom präfrontalen Kortex. Jenes Hirnareal, das bewusste Handlungen steuert, Emotionen reguliert und dafür sorgt, dass wir neue Situationen einordnen können. Im REM-Schlaf, wenn der präfrontale Kortex in den Hintergrund tritt, würden wir daher nicht so schnell urteilen und alternative Ansätze verwerfen, so Barrett.

Laut Roesler sind beim Träumen andere neuronale Botenstoffe aktiv als im Tiefschlaf und im Wachzustand. „Das Gehirn wechselt dabei in einen biochemischen Modus, der größere Bereiche des Gehirns koordiniert und so eine assoziationsreichere Denkweise ermöglicht“, sagt der Psychoanalytiker. Die nächtlichen Traumphasen seien allerdings nicht alle gleich. „Wenn uns im Alltag etwas emotional beschäftigt, kommt das Problem in der ersten Traumphase hoch. In der zweiten werden verschiedene Lösungen getestet und in der dritten eine davon angewandt“, erklärt Roesler, der sich auch als Therapeut intensiv mit der Analyse von Träumen befasst. „Das Träumen erledigt viele Aufgaben im Hintergrund, ohne dass wir uns darüber bewusst sind.“

An manche Inhalte erinnern wir uns nur, wenn die darin erprobten Lösungsversuche gescheitert sind. Traumata seien gute Beispiele, so Roesler. „Zunächst tauchen die erschütternden Ereignisse eins zu eins in den Träumen auf. Mit der Zeit erscheinen sie dann zunehmend in Form von Symbolen. In dem Maße, wie sie in den Träumen symbolisiert werden, geht die Belastung des Traumas zurück.“ Helfen könne dabei die Psychotherapie. Wie wichtig Träume für das seelische Gleichgewicht sind, zeigten viele wissenschaftliche Studien. So seien Personen, die am Träumen gehindert werden, ansonsten aber genug schlafen können, extrem gestresst. Der Ratschlag, so Roesler, über etwas zu schlafen, komme nicht von ungefähr.

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Blog

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert