Wenn wir uns umschauen, sind wir im Paradies. Nur niemand sieht es. Es schärft den Blick für heute, einmal 200 Jahre zurückzublicken.
Vor 200 Jahren lebten die allermeisten Menschen in extremer Armut, das Leben war von Krankheit und Notstand geprägt. Erst eine Energierevolution brachte der Menschheit ihre beste Zeit – Grafiken dokumentieren eine sensationelle Entwicklung.
Eines Abends im Jahr 1800 irgendwo in Westeuropa oder im Osten Nordamerikas versammelt sich eine Familie um den Kamin ihres einfachen Fachwerkhauses. Der Vater liest laut aus der Bibel vor, während die Mutter einen Eintopf aus Rindfleisch und Zwiebeln zubereitet.
Der kleinere Sohn wird von einer seiner Schwestern getröstet, und der älteste Junge gießt aus einem Krug Wasser in die Tonbecher auf dem Tisch. Die ältere Schwester füttert das Pferd im Stall. Draußen gibt es keinen Verkehrslärm, es gibt keine Drogendealer, und in der Kuhmilch wurden weder Dioxine noch radioaktiver Niederschlag gefunden. Alles ist ruhig, ein Vogel singt vor dem Fenster.
Mit dieser Szene beschreibt der britische Wissenschaftsautor Matt Ridley in seinem 2010 veröffentlichten Buch „The Rational Optimist“ die Vergangenheitssehnsucht moderner Menschen. Im Folgenden wird Ridley deutlich: Obwohl es sich um eine der wohlhabenderen Familien im Dorf handelt, wird des Vaters Lesung durch einen bronchitischen Husten unterbrochen, der eine Lungenentzündung ankündigt, die ihn im Alter von 53 Jahren töten wird.
Jedes zweite Kind starb
Das Baby wird an den Pocken sterben, die es jetzt zum Weinen bringen; eine Schwester wird bald das Hab und Gut eines betrunkenen Ehemanns sein. Das Wasser, das der Sohn einschenkt, schmeckt nach den Kühen, die aus dem Bach trinken. Zahnschmerzen quälen die Mutter.
Auch andere Umstände des Lebens waren anders, als der nostalgische Blick es wahrhaben will, schreibt Ridley in seinem Buch: Der Eintopf ist grau, das Fleisch eine seltene Abwechslung zum Brei. Es wird mit einem Holzlöffel aus einer Holzschüssel gegessen.
In dieser Saison gibt es weder Obst noch Salat. Da Kerzen zu teuer sind, muss der Schein des Feuers ausreichen. Niemand in der Familie hat jemals ein Theaterstück gesehen, ein Bild gemalt oder ein Klavier gehört.
Ausbildung und sonstige Ausstattung ließen ebenfalls zu wünschen übrig: Die Schule besteht aus ein paar Jahren langweiligem Latein, das von einem bigotten Geistlichen im Pfarrhaus unterrichtet wird.
Der Vater besuchte die nächstgelegene Stadt einmal, aber die Reise kostete ihn einen Wochenlohn, und die anderen Familienmitglieder reisten nie weiter als fünfzehn Meilen von zu Hause weg.
Jede Tochter besitzt zwei Wollkleider, zwei Leinenhemden und ein Paar Schuhe. Seine Jacke hat den Vater einen Monatslohn gekostet, ist aber jetzt von Läusen befallen. Die Kinder schlafen zu zweit in einem Bett auf Strohmatratzen auf dem Boden. Was den Vogel vor dem Fenster betrifft, morgen wird er von dem Jungen gefangen und gegessen.
Menschen, die glaubten, das Leben sei früher besser gewesen, schreibt Ridley, glaubten an „Einfachheit, Ruhe, Geselligkeit und Spiritualität“. Ein Irrglaube: „Es ist einfacher, sich für das Leben eines Bauern zu begeistern, wenn man nicht auf eine Toilette mit langem Abfluss angewiesen ist“, stellt der Autor klar.
Das Leben der meisten Vorfahren war von Krankheiten und Armut geprägt. 1820 lebten Schätzungen aus dem Jahr 2002 im „American Economic Review“ zufolge 84 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut. Das bedeutet, dass sie sich „einen winzigen Platz zum Leben, nur minimale Heizkapazität und nur Nahrung leisten konnten, die Unterernährung hervorrufen würde“.
Extreme Armut war der Normalzustand, in dem die Mehrheit der Menschheit gelebt hat; in der geschichtlich längsten Zeit starb jedes zweite Kind. Nicht Armut bedarf Erklärung, sondern Wohlstand.
Erst Wirtschaftswachstum ermöglichte es den Menschen, Armut hinter sich zu lassen. Es brachte mehr Güter und Dienstleistungen und bessere Qualität. Der Schlüssel war Entwicklung von Technologien, welche halfen, die Produktivität zu steigern.
Den Aufbruch brachte die Industrialisierung, getrieben von Energie aus Kohle und Erdöl. Der Anteil extrem armer Menschen sank global bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf zwei Drittel und 1950 auf gut die Hälfte. Extreme Armut wird von den Vereinten Nationen heutzutage definiert als ein Leben mit weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag bei aktueller Kaufkraft.
Nachdem fortschrittliche Medizin und Technologie aus den westlichen Staaten in die verbleibenden Entwicklungsländer gekommen waren, reduzierte sich in den vergangenen 50 Jahren auch dort der Anteil extrem armer Menschen.
Es hatte 160 Jahre gedauert, damit sich die Zahl bis 1980 halbieren konnte, danach ging es deutlich schneller: Mittlerweile liegt der Anteil unter neun Prozent, die entsprechen rund 700 Millionen Menschen. Diese leben fast alle in Ländern, die kaum Wirtschaftswachstum geschafft haben – in manchen sinkt das Durchschnittseinkommen sogar, Armut nimmt dort zu:
Aber auch für diese Länder gibt es Hoffnung, das beweist der Rückblick: Obwohl sich die Weltbevölkerung in den vergangenen 50 Jahren verdoppelte, lebt heute nur noch ein Drittel der Menschen in extremer Armut wie damals.
Dieser Text ist Teil der Kolumnen-Reihe „Lichtblicke“, die im wöchentlichen Rhythmus erscheint. Weitere Folgen finden Sie zum Beispiel zu den Themen Rohstoffmangel, Hungersnöte und Artenvielfalt.