Menschen haben ihre Gesundheit weit stärker selbst in der Hand, als sie denken: Das sagt Psychiaterin Esther Pauchard. Die erfahrene Ärztin und Autorin erklärt im Interview weitverbreitete Denkfehler, falsche Erwartungen an Ärzte – und wie sie ihren Patienten hilft, ihr Wohlbefinden zu steigern.
Die Erwartungen an Ärzte wachsen beständig, sagt Esther Pauchard. Doch viele Patienten unterschätzen ihre Selbstwirksamkeit. Die 50-jährige Ärztin erlebt in ihrer Praxis seit Jahrzehnten, wie Denkfehler und falsche Entscheidungen in der Lebensführung der Gesundheit ihrer Patienten nicht guttaten.
In ihrem Buch „Jenseits der Sprechstunde“ gibt die Psychiaterin Tipps, wie man mit einfachen Mitteln wieder zu Wohlbefinden finden kann. Ihre Vision sei eine Medizin, die eine Partnerschaft zwischen dem Fachexperten einerseits und dem Patienten als Experten für sein eigenes Leben andererseits sei, sagt die leitende Ärztin in einem psychiatrischen Zentrum in Thun in der Schweiz. Auch damit die Patienten bereit seien für die Zukunft mit einem Gesundheitssystem, das nicht nur bei der Psychotherapie an seine Grenzen kommt.
Während sich die Psychiatrie mit der Behandlung psychisch kranker Menschen auseinandersetzt, zielt das Buch der Psychiaterin Esther Pauchard in eine andere Richtung: Beratung, Selbstregulation und Krankheits-Prävention von psychisch Gesunden. Sie macht sich stark für vermehrte Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit, öffnet ihren Werkzeugkoffer, gibt den Lesern Informationen, konkrete Methoden und gezielte mentale Mittel an die Hand, womit sie ihr Wohlbefinden verbessern können. Ein zentrales Kapitel gilt dem Thema der Erwartungshaltungen; hier baut die Autorin die Brücke zu ihrer persönlichen Krankheitsgeschichte, der die Leser viele Einsichten für ihr eigenes Leben entnehmen können sowie Verhaltensmuster und Denkfallen vermeiden lernen, über die wir immer wieder stolpern. Pauchard wählt dabei einen Ton, der professionell, von medizinischem Fachwissen geprägt und gleichzeitig verständlich, persönlich und unterhaltsam ist. Und sie stellt grundlegende Fragen zur modernen Medizin und unserer Rolle darin.
WELT: Haben Sie heute schon selbst einen der Tipps aus Ihrem Buch berücksichtigt?
Pauchard: Heute hatte ich viel Stress und der wichtigste Tipp, den ich beherzigt habe, ist, dass ich mir dessen bewusst bin. Im Leben kommt es immer mal wieder zu Phasen im gelben oder hochroten Bereich, so wie im Moment bei mir. Das heißt nicht, dass ich mir nichts abverlangen darf, aber ich muss mir bewusst sein, dass ich mit meinem Energiehaushalt im Minus bin. Ich schulde mir ein paar Sporteinheiten, ein paar Kannen Tee, ein paar Stunden wirklich Ruhe, Seele baumeln lassen und ein, zwei Meditationen. Dann bin ich wieder in Balance.
WELT: „Das Rezept sind Sie“ oder auch „Sie sind der wichtigste Faktor für Ihre Gesundheit“, lauten Ihre Botschaften. Wie viel Prozent haben wir denn von unserem Wohlbefinden, von unserer Gesundheit wirklich selbst in der Hand?
Pauchard: Es sind nicht 100 und nicht 0 Prozent, sondern irgendetwas dazwischen. Es hängt auch von der Situation ab: Wenn ich einen Beinbruch erleide, dann ist das ein Fakt, den ich nicht wegdiskutieren kann. Gleichwohl trägt die Art, wie ich mit diesem Beinbruch umgehe – was ich darüber denke, ob ich mich aufrege oder es locker nehme und was ich dazu beitrage, um möglichst schnell wieder gesund zu werden – einen erheblichen Anteil zum Gesundwerden bei. Vielleicht kann ich 30 oder 50 Prozent, in anderen Fällen sogar 70 Prozent beisteuern. Denn bei manchen Beschwerden geht es weniger um harte Fakten: Schlafprobleme, Stimmungsschwankungen, Missempfindungen. Dort würde ich sagen, ist der eigene Anteil höher.
WELT: Gab es einen Schlüsselmoment, der Sie zu dieser Erkenntnis führte?
Pauchard: In meiner Studentenzeit schaute ich einem erfahrenen Arzt zu. Einmal erklärte er mir: „Schau, wir haben jetzt zwei Patienten, ungefähr gleich alt, ungefähr ähnliche körperlich Ausgangslage. Beide haben einen Bandscheibenvorfall, der jetzt operiert werden wird. Ich kann dir sagen, Patient A wird nachher beschwerdefrei aus der Klinik kommen, Patient B wird wieder starke Beschwerden entwickeln.“ Ich weiß noch, wie ich dachte: Was soll das jetzt, hat er eine Kristallkugel? Aber er hatte recht. Dieser Arzt ist heute einer der bekanntesten Professoren für Psychosomatik in der Schweiz. Schon damals hatte er ein Auge dafür, dass beim zweiten Patienten ein motivationales Problem vorlag. Er war unglücklich im Job und die Rückenschmerzen haben ihm einen Ausweg geboten. Unbewusst. Und als ihm dieser Ausweg durch die Operation genommen wurde, suchte sein Geist unbewusst nach einer neuen Methode, diese Schonfrist zu verlängern. Ich fand das damals eindrücklich.
Esther Pauchard hat selbst schon viel mitmachen müssen
WELT: Es geht auch darum, wie Patienten aus der Opferhaltung herauskommen. Da sprechen Sie auch aus persönlicher Erfahrung.
Pauchard: Von Geburt an habe ich eine körperliche Behinderung. Ein Bein ist elf Zentimeter kürzer als das andere und auch das Hüftgelenk ist betroffen. Mit 18 Jahren konnte ich nach zahlreichen Operationen zwar gehen, wusste aber, dass Sport schwierig werden würde. Aber ich wollte Selbstverteidigung lernen und hatte einen tollen Krav-Maga-Trainer. Dem waren meine Versuche, ihm zu erklären, was ich alles nicht konnte, egal. Er hat nur gelächelt, genickt und mich aufgefordert mitzumachen. Ohne es zu merken, habe ich mich so in eine sportliche Richtung bewegt und erlebt, dass mein Körper viel mehr kann, als ich ihm zugetraut hätte. Natürlich bleibe ich weiter gehbehindert, aber ich besitze mehr Kraft, als ich früher dachte. Mittlerweile kann ich gut zwei, drei Stunden wandern, was für meine Verhältnisse unglaublich ist. Auch durch diese Erfahrung habe ich gemerkt, wie man durch Selbstwirksamkeit wieder in seine Kraft kommt.
WELT: Das erinnert an Ihre Beschreibung, wie Menschen zum Arzt kommen. Und zwar mit der Haltung: Jetzt reparieren Sie das bitte. Man ist in so einer starken Erwartungshaltung an den Mediziner und fühlt sich auch als Opfer.
Pauchard: Dafür sind wir Ärzte aber auch selbst verantwortlich. Wir haben jahrzehntelang ein Bild vermittelt, dass Medizin alles kann. Ich würde mich selbst da gar nicht ausnehmen, auch ich habe Ängste geschürt. Im Sinne von: „Oh, kommen Sie sofort, warten Sie nicht zu lange.“ Medizin wurde dadurch zu einer Art Dienstleistungsbetrieb. Nur leider funktioniert diese Hochleistungsmaschinerie durch Fachkräftemangel und Kostendruck nicht mehr. Deshalb ist jetzt der Moment gekommen, wo wir merken müssen: So geht es nicht mehr. Der Vorwurf, dass nur die Patienten anspruchsvoll geworden sind, greift deshalb zu kurz.
WELT: Wenn Ärzte also nicht mehr alles ständig leisten können, müssen sich die Patienten wieder mehr um sich selbst kümmern? Wichtig ist sicher auch der Lebensstil und Schlaf, Bewegung und gesunde Ernährung?
Pauchard: Ja. Wenn ich den Eindruck habe, die Medizin kann ohnehin alles reparieren und sie schuldet mir das, dann achte ich natürlich weniger auf mich. Es gibt Länder, wo das medizinische Angebot weniger ausgeprägt ist und ältere Menschen deshalb stark in ihre Gesunderhaltung investieren. Einfach aus dem pragmatischen Gedanken: Wenn ich nicht schaue, dass ich auf den Beinen bleibe, kann niemand helfen.
WELT: Was genau kann man also tun?
Pauchard: Es geht darum, die Verantwortung für uns selbst zu übernehmen, auch wenn wir natürlich noch in vielen Bereichen Fachexperten brauchen. Ich hatte zum Beispiel auch eine Krebserkrankung. Auf die Idee, auf Chemotherapie, Operation und Radiotherapie zu verzichten, bin ich nie gekommen. Ich hätte mir auch nicht selbst irgendetwas zurecht gemischt. Aber ich konnte mich aktiv bemühen, etwas zu meiner Genesung beizutragen: Ich habe mich etwa um mein Innenleben gekümmert, Sport getrieben und aufgepasst, nicht in eine depressive, ängstliche Stimmung zu verfallen. So habe ich bei meiner Behandlung Hand in Hand mit den Ärzten gearbeitet.
WELT: Zum ersten Schritt, wieder selbst Verantwortung zu übernehmen, gehöre, in sich hineinzuhören und wahrzunehmen, was in einem vorgeht, schreiben Sie in Ihrem Buch.
Pauchard: Viele Menschen haben zu wenig Kontakt zu sich selbst, den eigenen Gedanken und Gefühlen. Sie hören ihre innere Stimme nicht und nehmen ihren Körper erst wahr, wenn etwas nicht funktioniert. Es gibt aber auch das Gegenteil: Menschen, die nur um sich selbst kreisen, ihren Körper ängstlich bis misstrauisch beobachten. Die interpretieren jede Wolke am Himmel als Vorboten eines Hurrikans. Auch das ist gefährlich. So wie ein Chef, der seinem Mitarbeiter stets panisch misstrauisch in den Nacken schnauft und ihn überwacht. Das ist ungesund für Psyche und Körper. Es geht immer um den gesunden Mittelweg.
WELT: Als weitere Methode, sein Wohlbefinden zu verbessern, nennen Sie die Gedankendisziplin.
Pauchard: Das, was wir denken, ist kein Abbild der objektiven Realität oder der Wahrheit. Unsere Gedanken werden in unserem Gehirn gefiltert und sind immer subjektiv. Wir erzählen uns zu allem, was wir wahrnehmen, denken, überlegen, unsere eigene Geschichte. Wenn ich erst akzeptieren kann, dass jeder meiner Gedanken ohnehin subjektiv ist, dann kann ich mir auch überlegen, ob ich eine neue Wahl treffen will, ob andere Gedanken mir dienlicher wären. Dazu muss ich meine Gedanken aber erst einmal aus dem dunklen Keller des Unbewussten herausholen. Ich muss mir genau zuhören: Was denke ich da? Dann kann ich prüfen: Nützt mir dieser Gedanke oder nicht? Und wenn mir der Gedanke nicht guttut, dann kann ich ihn ändern. Aber die Entscheidung allein reicht nicht, weil Gedanken und Überzeugungen immer auch Gewohnheiten sind. Diese zu ändern, artet ernsthaft in Arbeit aus, es ist aber machbar und kann viel bewirken.
WELT: Eine der häufigsten Denkfallen sei das Schwarz-Weiß-Denken, sagen Sie.
Pauchard: Ja, das Katastrophisieren insbesondere. Das ist ein beliebter Denkfehler, der in unserem Hirn schon quasi als Werkseinstellung verdrahtet ist, denn in Bezug auf die persönliche Sicherheit macht es Sinn, Gefahren und Bedrohungen mehr Gewicht zuzuschreiben als erfreulichen Dingen. Aber in der modernen Welt, in der akute Bedrohungen selten sind, lohnt es sich, diese Werkseinstellung zu überschreiben und sich ganz bewusst auf das Positive zu konzentrieren. Das dient unserer Stimmung sehr.
WELT: Sie empfehlen, sich diese neuen positiven Gedanken immer wieder zu sagen.
Pauchard: Man darf man sich selbst quasi spammen mit neuen, erwünschten Gedanken, denn die alten, negativen sind ganz tief verwurzelt. Und je häufiger ich die neuen Gedanken denke, desto größer ist meine Chance, dass sie bleiben.
WELT: Heutzutage wird viel über Stress geredet. Hilft es, Stress zu vermeiden?
Pauchard: Bitte nicht. Es ist ein Irrglaube, generell zu denken: je weniger Stress, desto besser geht es mir. Ich sehe diesen Effekt bei vielen älteren Menschen, dass sie sofort denken, wenn sie Missempfindungen haben: Ich habe zu viel Aufregung, ich habe zu viel Stress, ich muss mich noch mehr schonen, dann geht’s mir besser. Doch es wird nicht besser. Denn unser Körper und unser Geist brauchen eine gewisse Reibung mit der Außenwelt, Belastung, um fit und aktiv zu bleiben. So wie ein Muskel bewegt werden muss, sonst verkümmert er. Das sieht man, wenn man längere Zeit einen Gips hatte, anschließend ist das Bein dünn und schlapp. Und das gilt auch für unsere psychischen Muskeln. Chronischer Dauerstress ohne Pausen und noch kombiniert mit belastenden Gedanken und Ängsten ist tatsächlich schädlich – aber nur noch Schonung, nur noch Vermeidung ist genauso schädlich.
WELT: Eine andere Methode, die Sie erwähnen, war das Finden der motivierenden Schnittmenge.
Pauchard: Wir haben es im Leben mit Realitäten zu tun und es wäre lächerlich, wenn wir glauben würden, wir könnten das einfach mit Positivität wegdenken. Wir sind mit Umständen konfrontiert, die manchmal einfach nicht gut sind oder uns nicht gefallen. Als Ärztin zum Beispiel muss ich finanziell kostendeckend arbeiten. Auf die Finanzen schauen zu müssen, ist mir zuwider. Aber ich will so arbeiten, dass es dem Patienten etwas bringt. Also versuche ich, es so zu machen, dass es dem Patienten hilft und gleichzeitig Ressourcen geschont werden. Beispiel gesunde Ernährung: Ich will keine zerkochten Karotten essen, aber mich doch gesund ernähren. Also schaue ich: Was ist gesund und schmeckt mir? Ich suche nach der Schnittmenge, die mich motiviert.
WELT: Dauerstress und ängstliche Gedanken sind schädlich, sagen Sie. Was ist denn eine gute Art, mit Ängsten umzugehen?
Pauchard: Wir müssen unterscheiden zwischen normalen, gesunden Ängsten einerseits und krankhaften Ängsten oder Angststörungen andererseits. Viele Menschen haben das Gefühl: Ich bin nur gesund, wenn ich keine Angst habe. Aber nie Angst zu haben, wäre fatal. Die Angst ist wichtig, sie dient der Existenzsicherung. Allerdings nicht nur. Angst muss nicht immer ein Alarmzeichen sein. Wann immer wir Veränderung wagen und uns aus unserer Komfortzone herausbewegen, spüren wir Angst. Das ist normal – Angst wird auch als Geburtshelferin der Veränderung bezeichnet. In solchen Fällen ist sie keine Fehlermeldung, sondern ein Qualitätszeichen.
WELT: Und dann gilt es, die Angst zu akzeptieren, wie sie ist, und die Veränderung zuzulassen?
Pauchard: Ja. Ich mag die Metapher der Autorin Elizabeth Gilbert: Wann immer du dich in dein Auto setzt und dich aufmachst in Richtung Veränderung, wird die Angst mit im Auto sitzen. Aber lass sie weder ans Steuer noch ans Navigationsgerät.
WELT: Als weiteres Beispiel für verzerrten Gedanken nennen Sie auch die emotionale Beweisführung: Ich empfinde Angst, also ist es gefährlich. Oder auch Perfektionismus.
Pauchard: Die große Geißel der westlichen modernen Gesellschaft ist für mich Perfektionismus, diese Suche nach 100 Prozent in vielen Bereichen. Erst kürzlich hat ein junger Patient den Satz gesagt: „Ich beginne nur etwas Neues, wenn ich sicher bin, dass ich es kann.“ Wie soll ein junger Mensch mit so einer Haltung lernen und sich entwickeln können? Uns fehlt die Fehlerkultur. Wir denken: Ich mache einen Schritt nur, wenn ich mich hundertprozentig sicher fühle. Oder wenn es sich hundertprozentig richtig anfühlt. Das hat nichts mit dem menschlichen Leben zu tun. Es führt dazu, dass viele Menschen blockiert sind. Die kommen nicht weiter, die sitzen immer am gleichen Ort irgendwo in einer Vorbereitungsschlaufe fest und warten auf den perfekten Augenblick, der nie kommen wird.
WELT: Wie viele der Krankheiten könnten wir mit der richtigen Einstellung gar nicht erst bekommen?
Pauchard: Das ist schwierig zu sagen, das liegt ja nicht nur in unserer Hand, sondern hat auch mit Außenfaktoren zu tun. Und es kommt auch darauf an, was wir unter Gesundheit verstehen. Die WHO definiert Gesundheit als Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Das ist ein hoher Anspruch. Wenn wir davon ausgehen, erwarten wir natürlich sehr viel mehr, als wenn wir die Gesundheit eher als ein dynamisches, stabiles Gleichgewicht ansehen, bei dem nicht alles so perfekt sein muss. Je moderater unsere Ansprüche an unsere Gesundheit sind, desto zufriedener sind wir.
WELT: Wie weiß man, wann man sich ärztliche Hilfe holen sollte?
Pauchard: Das lässt sich schlecht verallgemeinern. Aber ich habe den Eindruck, dass sich heute die Gemeinschaft nicht mehr genug zutraut diesbezüglich. Dass wir als Gesellschaft verlernt haben, mit normalen, menschlichen, belastenden Lebensumständen umzugehen. Und mit Gefühlen wie Angst, Trauer, Unsicherheit, Scham, mit Kränkungen, Beziehungsproblemen oder mit Leistungsdruck. Das sind keine Krankheiten, keine Diagnosen. Bei all diesen Punkten dürfen wir uns zutrauen, allein oder gemeinsam damit zurechtzukommen, ohne immer Fachhilfe in Anspruch zu nehmen. Wenn ein Problem allerdings über längere Zeit anhalten sollte, wenn es immer mehr Raum im Leben einnimmt, wenn Suizidgedanken kommen oder andere gefährdet werden, dann ist der Moment gekommen, um professionelle Hilfe anzunehmen. Damit aber in solchen Augenblicken rasch professionelle Hilfe verfügbar wäre, dürften die bestehenden Angebote nicht mit Fällen von bloßen Befindlichkeitsstörungen oder Alltagsproblemen verstopft sein. Und das ist heute leider oft der Fall, was dann zu absurden Wartezeiten führt.
WELT: Inwiefern sind Ihre Ansätze auch evidenzbasiert? Gibt es dazu Studien?
Pauchard: Ich muss Ihnen ehrlich gestehen, ich bin nicht die große Wissenschaftlerin, sondern eine Praktikerin. Meine ganze Ausbildung war natürlich evidenzbasiert, meine Arbeit als Ärztin basiert auf Evidenz. Ich habe eine Verhaltenstherapieausbildung gemacht, habe das ganze Curriculum zur Fachärztin durchlaufen. Ich behaupte aber deshalb nicht, dass ich die objektive Wahrheit gefunden hätte, das wäre anmaßend. Ich will einfach meine persönlichen Erfahrungen, meine subjektive Sichtweise nach jahrzehntelanger Arbeit als Ärztin zur Verfügung stellen.
WELT: Zum Ende: Was ist die wichtigste Botschaft aus Ihrem Buch?
Pauchard: Dass jeder für sich selbst die wichtigste Ressource ist. Und dass es sich lohnt, auf Selbstwirksamkeit zu setzen. Selbstwirksamkeit heißt ja nichts anderes als die Überzeugung eines Menschen, auch mit schwierigen und herausfordernden Situationen aus eigener Kraft zurechtzukommen. Es ist bequemer, das an Ärzte zu delegieren, aber das macht mich eben auch abhängig. Wenn dann diese Hilfe nicht kommt, sehe ich alt aus. Wenn ich aber in Selbstwirksamkeit investiere, kann ich unabhängig agieren. Ich habe meine Ressourcen bei mir. Wichtig ist auch die Investition in mentale Werkzeuge, in die innere Krisenfestigkeit. Das gelingt dann am besten, wenn es einem gerade gut geht, in ruhigen Zeiten.