Geschehenlassen

1 Der Wanderer über dem Nebelmeer Der Wanderer über dem Nebelmeer ist das Symbolbild der Romantik und wohl das bekannteste Gemälde von Caspar David Friedrich. Es zeigt einen Wanderer im Gehrock mit Spazierstock und rötlichen Haaren, der von einem Felsen aus über eine nebelige Felslandschaft sieht. Deutungen des Bildes sehen in ihm eine Allegorie auf den erreichten Gipfel als Ziel des Lebens, eine Metapher für das Leben als Aufbruch ins Unbekannte, Todesahnung, Diesseits und Jenseits und einen transzendenten Blick in die Zukunft. „Nach dem Höchsten und Herrlichsten mußt du ringen, wenn dir das Schöne zuteil werden soll“, sagte Caspar David Friedrich.

Hamburg meldet Rekorde, in Berlin werden ebenfalls Hunderttausende erwartet. Sie alle kommen, um die Bilder eines Romantikers zu sehen, der es liebte, stundenlang in die Landschaft zu schauen. Was ist es, dass ausgerechnet jetzt alle Caspar David Friedrich sehen und erleben wollen?

Friedrich-Fieber. Eine Krankheit ohne Schmerzen befällt gerade ganze Populationen, lässt sie geduldig warten, bis sie rein dürfen zu den Bildern an den Wänden, die mit Menschen verstellt sind. 325.000 waren es in der Hamburger Kunsthalle. Die „erfolgreichste Ausstellung“ ever. 325.000 vor 60 Gemälden, hundert Zeichnungen. Noch immer ist man mit Zählen beschäftigt, das vermeintliche Besucherglück ist nie untersucht worden.

2 Kreidefelsen auf Rügen

Das Gemälde „Kreidefelsen auf Rügen“ ist ein Hauptwerk der deutschen Romantik. Wir sehen eine Steilküste am Meer mit spitzen, weißen Felsen. Das Bild wird eingerahmt von zwei Bäumen, die sich in den Kronen berühren. Auf dem Vordergrund sind drei Menschen abgebildet. Eine Frau im roten Kleid, die im Gras sitzt, ein Mann im Gehrock, der ängstlich über den Boden kriecht und nach unten lugt und ein anderen Mann, der mutig stehend über das Meer guckt. Caspar David Friedrich hat die auf dem Bild dargestellten Klippen aus Skizzen von verschiedenen Felsen zusammengestellt. Allerdings sind sich Kunsthistoriker sicher, dass die Landschaft an den Kreidefelsen der Kleinen Stubbenkammer auf Rügen, südlich der Victoriaussicht zu verorten ist.

Dabei geht der Hype ja weiter. Caspar David Friedrich von der kommenden Woche an in der Alten Nationalgalerie in Berlin, demnächst in Greifswald, dann die großen Jubiläumsausstellungen in Dresden, nächstes Jahr im Metropolitan in New York. Wer dann immer noch nicht weiß, wie der „Junotempel in Agrigent“ aus deutschromantischer Sicht aussieht, der hat noch 16 Jahre Zeit bis zum 200. Todestag des Malers, an dem alles wieder von vorn losgehen wird.

In der Zwischenzeit darf man spekulieren, was die Massen so unwiderstehlich lockt. Denn in Hamburg, Berlin, Dresden könnte man ja das ganze Jahr über eine Handvoll grandioser Friedrich-Bilder bewundern. Sind 60 so viel eindrücklicher als fünf? Braucht man den Schutz der Pilgerzüge, um die angestammte Museumsscheu zu überwinden, das verheißene Ereignis, das einen alle Hindernisse vergessen lässt? Oder ist es eben doch dieses singuläre Werk, in dessen Fänge man gerät, die Fama seiner magischen Zufriedenheits-Idyllik, dieses Versprechen eines unzerstörbaren Lebenseinverständnisses?

3 Der Mönch am Meer

Dieses Bild ist auch unter dem Namen „Wanderer am Gestade des Meeres“ bekannt. Ein Mann in Mönchskutter schaut an einem kahlen, grauen Ufer ohne Vegetation auf das schwarze, aufgewühlte Meer. Der stürmische Himmel ist düster über dem Wasser und hellt erst weiter oben zu einem tiefen Blau auf. „Sturm läutert die Luft“, wird Friedrich zitiert. Das Bild beeindruckt durch seine Leere. Es zeigt einen einsamen Menschen im Zwiegespräch mit der Natur, die ihn überragt. Mit dem Werk „Der Mönch am Meer“ brach Caspar David Friedrich mit den damaligen Traditionen der Landschaftsmalerei, indem er die Natur mit religiöser Bedeutung auflud und auf eine perspektivische Tiefe verzichtet. Das Bild gilt als „Inbegriff eines modernen Bildes“ und „Altarbild des modernen Menschen“.

Dabei ist es ja keineswegs so, dass sich auf diesen Bildern die schmerzhafte Welt wie unter mildem Zwang in ihre paradiesische Möglichkeitsform verwandeln würde. Man kann auch sehr erschrocken reagieren. So hat Heinrich von Kleist in den „Berliner Abendblättern“ geradezu Mitleid mit dem „Mönch am Meer“ bekundet, der jetzt in Berlin das Highlight werden wird: „Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reich des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis.“

Nur, dass es keineswegs ausgemacht scheint, dass das koboldartige Mönchlein in abgründiger Depression vor den Naturgewalten harrt. Assoziiert man mit der schwarzen Wolkenwand das „Reich des Todes“, dann kann doch das aufgehende Licht dahinter und darüber nur Lebensverheißung sein. Aber für solche Dialektik war Kleist, der nur noch ein paar Monate hatte, bis er sich am Kleinen Wannsee erschoss, nicht empfänglich. Für ihn liege das Gemälde mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen da wie eine Apokalypse.

So erging es nicht wenigen CDF-Gemälden. So ergeht es ihnen bis heute. Alles ist Zuschreibung, was man ihnen nachsagt. Ob man das „Eismeer“-Bild als Metapher gescheiterter Demokratisierungshoffnungen nimmt oder – wie gerade in Hamburg – als Gleichnis für das gestörte Verhältnis von Mensch und Natur, es bleiben Interpretationen, zu denen der Maler schweigt. Oder der Wanderer, der im Gehrock auf felsiger Bergspitze steht, wohin ihn nur Kletterei geführt haben kann – kann es sich um etwas Geringeres als um ein Gleichnis handeln, um eine Metapher für den Ausblick über die Dinge hinweg in die nebelverschlossene Transzendenz?

4 Die Lebensstufen

Auch „Die Lebensstufen“ ist ein allegorisches Bild. Wir sehen die Ostseeküste in der Abenddämmerung. Auf dem Meer fahren fünf Schiffe, drei große Segelschiffe in immer weiterer Entfernung und zwei kleinere in der Nähe des Ufers. Am Strand befinden sich fünf Menschen. Zwei Kinder in der Mitte, eines hält ein schwedisches Fähnchen in die Luft, rechts von ihnen eine Frau und links von ihnen ein Mann mit Zylinder und etwas Abseits ein alter Mann mit Mantel und Pelzmütze, der dem Betrachter den Rücken zuwendet. Die Boote und die Personen stehen für die verschiedenen Phasen des Lebens. Der alte Mann und das große Boot, das schon fast wieder am Ufer und damit am Ende des Lebens angelangt ist; die zwei kleinen Boote und die Kinder, die gerade erst vom Ufer aufbrechen und die Schiffe der Eltern in der Ferne, die noch mitten im Leben stehen.

Das geht fast allen Friedrich-Bildern so. Nie war man mit ihrer scheuen Anmut zufrieden. Immer haben sie zu symbolischer Fantasiearbeit angeregt. Die Nazis haben sie an ihr kaltes Herz gedrückt. Und nur ein Missverständnis war die Liebkosung keineswegs. Denn die Bilder wehren sich nicht gegen ihre Geschmacksverstärker. Und auch der Maler würde sich nicht wehren, wenn man zu seiner Indifferenz gepflegte Indolenz sagen würde.

Ziemlich unwahrscheinlich, dass ihn die Schallwellen der Revolution in Frankreich nicht irritiert haben. Die restaurativen Machtworte auf dem Wiener Kongress dröhnten den Liberalen noch lange in den Ohren. Und plündernd marschierten Napoleons Truppen durch Europa, vernichteten bei Jena und Auerstedt die Heere der Koalition. Das war 1806, als der Maler nach seinem Studium in Kopenhagen nach Greifswald zurückgekehrt war und jetzt in Dresden wohnte. Sachsen gab sich frankreichtreu, der Maler patriotisch. Unter Gleichgesinnten wie Kleist und Arndt überbot man sich im Franzosen-Bashing.

Doch gemalt hat Friedrich nur Bilder, die den Franzosen die Tränen in die Augen trieben. Im Vergleich zum bildnerischen Aufruhr, den Kollegen wie Géricault oder Delacroix veranstaltet haben, nimmt sich Friedrichs Werk wie eine überwältigende Unzuständigkeitserklärung aus. Wohl entstand damals das Bild „Grabmale alter Helden“, das auch als „Gräber gefallener Freiheitskrieger“ überliefert ist. Aber wenn man das Bild „Höhle im Wald mit Lichtschein auf Obelisk“ nennen wollte, wäre es auch nicht falsch.

Wo also liegt es, das Caspar-David-Friedrich-Land? Es scheint ganz nah und ist doch sehr weit weg. Dort, wo weite Landschaften, weite Himmel, welliges Vorgebirge, Meer, ferne Horizonte, Waldränder, Schluchten, Ruinen in eine andere Welt weisen. Und nie weiß man, ist sie verloren oder noch nicht wirklich geboren, vergangen oder Vorschein einer Möglichkeit? Nichts ereignet sich dort, nichts passiert.

Es gibt kein Bild dieses Malers, das Bewegung zeigte. Und vermutlich hat kein zweites Werk so inständig vom schieren Schauen erzählt. Und davon, dass Schauen nur Sinn macht, wenn man anhält, wenn man stehen bleibt. Im reißenden Strom der Bilder unserer Jahre eine fast befremdliche Zumutung. Kann man es sich noch leisten, einfach anzuhalten, unter der knorrigen Eiche stehenzubleiben, dem Freund die Hand auf die Schulter zu legen und die Sichel des zunehmenden Mondes anzustaunen?

Caspar David Friedrich (1774 Greifswald – 1840 Dresden), Zwei Männer in Betrachtung des Mondes, 1819/20, Öl/Lwd., 35 x 44,5 cm, Galerie Neue Meister Dresden

Der Freund Georg Friedrich Kersting durfte den Maler dreimal beim Malen malen. Im kahl aufgeräumten Atelierzimmer ist das Fenster bis auf Augenhöhe verdunkelt. Hermetische Kontaktsperre. Das Leben draußen soll draußen bleiben. Nichts von der inwendigen Arbeit ablenken. Welt im Sinne geräuschvoller Lebensvollzüge wäre nur Verrat am Zauber der Verschwiegenheit. Auf einem Bild steht Caroline, die Frau, die er nach etlichen Bedenken dann doch geheiratet hat, am einmal offenen Atelier-Fenster und schaut auf die Elbe-Schiffe, die drunten vorbeifahren.

Frau am Fenster ist ein zwischen 1818 und 1822 datiertes Gemälde von Caspar David Friedrich. Das Bild in Öl auf Leinwand im Format 44 × 37 cm befindet sich in der Berliner Nationalgalerie.

Die Frau am Fenster ist eines der seltenen Gemälde Friedrichs, in dem die natürlichen Gegebenheiten einigermaßen genau abgebildet sind. Das Gemälde zeigt eine Frau vor der Fensterpartie eines nahezu leeren Raumes, die dem Betrachter den Rücken zukehrt. Der Betrachter sieht die breiten Dielen des Bodens, sieht frontal auf nackte Wände und, in einer vorgeschobenen schmalen Nische, eine schmale Fensterbank, auf der rechts außen, von der Frau rechts abgesetzt durch den geöffneten mittleren Fensterflügel, zwei Flaschen auf einem Blatt stehen. Hinter den Flaschen steht diagonal ein dünner länglicher Stab, der einen Pinsel darstellen könnte. Der Raum ist anhand des Atelierbildes von Georg Friedrich Kersting von 1811 als Atelier Friedrichs erkennbar, das sich im Haus An der Elbe 26 befand.

Die Frau schaut scheinbar versunken aus dem Fenster. Sie trägt ein knöchellanges, in Falten gelegtes grünes Kleid mit weißem Rüschenkragen, das durch ein dünnes Band in der oberen Taille gebunden ist. Unter dem Kleid schauen weiße Strümpfe und gelbliche Hausschuhe hervor. Ihre langen Haare sind gewunden und zusammengesteckt und oben von einem breiten Kamm gehalten. Die changierenden Grün-, Grau- und Brauntöne des Kleides setzen sich in der Umgebung des Zimmers fort. Die Rückenfigur stellt nach zeitgenössischer Überlieferung Caroline Friedrich dar, die Frau des Malers.

Im unteren, hellgrün abgedunkelten Teil des Fensterrahmens ist mittig ein Fenster geöffnet und gibt den Blick frei auf Masten und Takelung zweier Segelboote sowie eine Reihe von hoch gewachsenen Pappeln, die nach Landschaftsdarstellungen aus dieser Zeit die Uferzone der Elbe säumten. Die Bäume und das vordere Schiff werden durch den Maler deutlich näher am Fenster gelegen gemalt, als sich diese wirklich befinden. Diese Nähe ist unrealistisch. In den oberen Fenstersegmenten setzen sich rechts Mast und Takelage des dichtesten Segelbootes fort, ansonsten ist nur blauer Himmel mit dünnen Wolkenkolonnen zu sehen.

Und nur davon handeln Caspar David Friedrichs Bilder, vom stummen Dastehen, vom Geschehenlassen, von der Sprachlosigkeit, die das kampflose Beteiligtsein begleitet. Immer herrscht diese feierliche Ausnahmestimmung, Andacht, Gelassenheit. Und keiner tut etwas, keinem sieht man an, dass er sich die Aufklärungs-Emphase zu eigen gemacht hätte und sich mit großer Gebärde aus selbstverschuldeter Unmündigkeit befreien würde.

5 Das Eismeer

Das Gemälde „Das Eismeer“ zeigt spitze, sich auftürmende Eisschollen in der Arktis. Wer genauer hinsieht, entdeckt auf der rechten Seite des Bildes das Heck eines gekenterten Segelschiffes. Das Bild entstand in einer Lebensphase Friedrichs, in der er immer weniger Erfolg als Künstler hatte. Deshalb wird das Kunstwerk oft als Allegorie seines persönlichen Scheiterns interpretiert. Friedrich erntet von seinen Zeitgenossen viel Kritik für das Bild: „So wenig der Tod uns geeignet scheint, als Gegenstand bildender Kunst, so wenig möchten wir eine so ganz leblose, einförmige öde Naturansicht einem Maler empfehlen. (…) Wir halten das Gemälde für Studium, das später in irgend einer Composition verarbeitet werden soll.“ (Anonym: Über die Prager Ausstellung von 1824). Heute gilt das Bild als eines der Hauptwerke der Hamburger Kunsthalle.

So geht es in diesen Bildern weder um Frust und Enttäuschung noch um demütig fromme Bescheidung. Ihr Motiv ist überlegene Vernunft, die die Dinge sein lässt, wie sie sind. Und wenn’s nur das wäre, wovon die Menschen im Friedrich-Fieber träumen, sie hätten recht, wenn sie zu Hunderttausenden in die Ausstellungen pilgern.

Links: Johann Ludwig Lund (1777-1867), Medaillon-Bildnis des jungen Caspar David Friedrich, 1800, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover. Mitte: Caroline Bardua (1781-1864), Porträt des Malers Caspar David Friedrich, 1810, Alte Nationalgalerie, Berlin. Rechts: Johann Karl Bähr (1801-1869), Porträt von Caspar David Friedrich, 1836, Galerie Neue Meister, Dresden.

Caspar David Friedrich – Biografie

Caspar David Friedrich gilt als der bedeutendste Künstler der deutschen Frühromantik. Er wird am 5. September 1774 in Greifswald geboren. Ab 1794 studiert Friedrich an der Königlich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen und kehrt 1798 zurück nach Deutschland. Er lässt sich in Dresden nieder und setzt seine Ausbildung an der dortigen renommierten Kunstakademie fort. Kurse besucht er allerdings nur wenige und schult sich weitgehend selbst.

1801 gerät er in eine tiefe Depression, die zu einem Suizid-Versuch führt. Sein erster bedeutender künstlerischer Erfolg gelingt ihm 1805. Ihm wird die Hälfte des ersten Preises der Weimarer Kunstfreunde zugesprochen. Der Durchbruch gelingt Caspar David Friedrich 1810 mit der Ausstellung seines Gemäldes „Mönch am Meer“. Seine späten Werke ab 1830 werden immer weniger beachtet. Er gerät mit seiner Familie in finanzielle Not. 1835 erleidet er einen Schlaganfall und ist fortan an Beinen und Armen gelähmt. Seine Freunde unterstützen ihn mit Geld. Fünf Jahre später, am 7. Mai 1840, stirbt Caspar David Friedrich im Alter von 65 Jahren in Dresden. Der Künstler gerät schnell in Vergessenheit.

Erst 60 Jahre nach seinem Tod wird sein Werk wiederentdeckt und als „romantischer Patriot“ gefeiert.

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