Erstmals haben Fachleute Familienstammbäume der europäischen Jungsteinzeit über mehrere Generationen rekonstruieren können. Die Daten zeugen von Frauentausch und Monogamie.
Im 6. Jahrtausend v. Chr. erreichten die ersten Bauern Westeuropa. Wer waren diese Menschen, wie lebten sie zusammen und wie sah ihre Familienstruktur aus? Diese Fragen konnten nun Gen- und Isotopenanalysen kombiniert mit archäologischen Beobachtungen beantworten. Aus den Überresten von fast 100 Toten, die zwischen 4850 und 4500 v. Chr. auf dem Gräberfeld Gurgy »Les Noisats« in Mittelfrankreich bestattet wurden, rekonstruierte ein Forscherteam zwei mehrere Generationen umfassende Familienstammbäume. Wie das Team um Maïté Rivollat von der Universität Ghent und Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig im Fachjournal »Nature« schreibt, erbrachten die naturwissenschaftlichen Daten zahlreiche neue Erkenntnisse: Die Männer jener Familien lebten und heirateten an ihrem Heimatort, während die Frauen von auswärtigen Gemeinschaften in die Familie kamen – offenbar im Austausch mit Frauen aus Gurgy, die anderswo hinzogen.
Für ihre Studie analysierte die Arbeitsgruppe die Knochen der Toten. Sie gewann so Informationen zum Erbgut im Zellkern, zur mitochondrialen DNA, zu den Isotopenwerten, die Rückschlüsse auf den Geburts- und Lebensort erlauben, und sie erhielt 14C-Datierungen.
Aus den Erbgutdaten konnten die Forschenden zwei Stammbäume zusammenpuzzeln: Der eine, dem mindestens 20 Frauen und 44 Männer angehörten, erstreckte sich über sieben Generationen. Zwölf Menschen konnten die Fachleute einem anderen kleineren Stammbaum zuordnen, bestehend aus sieben Frauen und fünf Männern. Weitere Menschen, deren Überreste im neolithischen Friedhof von Gurgy lagen, waren weiter entfernt oder gar nicht mit den beiden Familien verwandt.
Die Frauen zogen hinzu, die Männer blieben am Heimatort
Bei der Untersuchung zeigte sich, dass von keiner erwachsenen Frau und Mutter die Eltern auf dem Gräberfeld von Gurgy bestattet lagen. Auch sonst waren die verstorbenen Frauen nur selten mit Angehörigen eines Stammbaums verwandt; ebenso fehlten die erwachsenen Töchter. Was bedeutet das? »Dieses allgemeine Muster deutet auf weibliche Exogamie und ein virilokales Wohnsystem hin, bei dem die Frauen von ihrem Geburtsort zum Wohnsitz ihres männlichen Fortpflanzungspartners einwandern«, erklärt die Forschergruppe in »Nature«.
Woher die Frauen kamen, dazu entdeckten die Fachleute um Rivollat und Haak Hinweise in den Erbgutdaten. Denn einige Frauen waren entfernt untereinander verwandt. Vermutlich stammten sie aus derselben auswärtigen Gemeinschaft, mit der die Familien von Gurgy eine Art Austauschbündnis gepflegt haben könnten.
Familienstammbäume | Aus alter DNA rekonstruierte das Forscherteam zwei Stammbäume der Menschen, die vor rund 6800 Jahren in Gurgy »Les Noisats« begraben wurden. Die kleinen Bildnisse beruhen auf den Geninformationen. Gepunktete Kreise deuten an, dass von diesen Personen keine Überreste entdeckt wurden oder kein Erbgut sequenziert werden konnte.
In Gurgy angekommen scheinen die Frauen monogame Ehen eingegangen zu sein. Das heißt: Weder Männer noch Frauen hatten mehrere Lebenspartner oder -partnerinnen. Auch das deuten die Genanalysen an: Unter den untersuchten Toten stießen Rivollat und Haak auf zahlreiche Geschwister, keine davon waren jedoch Halbgeschwister.
Die Gebeine des Stammvaters
Unter den Bestatteten fiel ein Verstorbener besonders auf. Seine Knochen waren laut den Archäologen einst nach Gurgy umgebettet worden – kein ganzes Skelett, sondern nur die Langknochen lagen im Boden. Neben ihm war eine Frau beigesetzt worden, aus deren Überreste die Forschergruppe jedoch keine DNA-Informationen extrahieren konnte. Anders beim Umgebetteten: Er stellte sich als Stammvater der großen Familie mit mindestens 66 Nachfahren heraus. Offenbar hatten die Menschen seine Überreste von einem anderen Ort, möglicherweise ihrer vorherigen Heimatstätte, mitgebracht.
Nicht nur die Gendaten verrieten Details über die beiden neolithischen Familien, auch die Lage der Gräber im Friedhof schien nicht zufällig gewählt worden zu sein. So waren oftmals Väter neben ihren Söhnen beigesetzt, Geschwister nebeneinander. Die Menschen wussten also, wer wo bestattet lag – vermutlich, so schreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, standen über den Gräbern Markierungen, ähnlich heutigen Grabsteinen.
Dass die Frauen und späteren Mütter von anderswo in die Familien von Gurgy kamen, zeichnete sich ebenfalls in der Belegung des Friedhofs ab. Deutlich weniger erwachsene Frauen lagen dort begraben. Vielleicht galten für sie andere Regeln und Sitten, mutmaßen die Studienautorinnen und -autoren.
In Gury »Les Noisats« vermisste das Forscherteam allerdings zwei Altersgruppen. So fehlten auf dem Friedhof Kinder aus der ersten Generation und Erwachsene der jüngsten Generation. Eine mögliche Erklärung: Die Gemeinde war von einem Ort fortgezogen, ihre frühzeitig verstorbenen Kinder lagen dort begraben und kam dann in die Nähe von Gurgy. Dort wiederholte sich ungefähr 100 Jahren später dasselbe Prinzip. Die Gruppe zog wieder an einen neuen Ort. Woher und wohin genau, ist unbekannt. Siedlungen, die mit der Nekropole in Verbindung standen, kennen die Forschenden noch nicht. Die Toten von Gurgy müssen zudem längst nicht alle am selben Ort gelebt haben. Jede Generation und Kernfamilie könnte einen eigenen Weiler errichtet haben. Dass sie aber nur vergleichsweise kurz an einer Stelle siedelten, deckt sich mit bisherigen Erkenntnissen aus der Archäologie. Neolithische Dörfer blieben nicht lange bewohnt, möglicherweise weil Böden erschöpft und Wälder abgeholzt wurden.
Die Welt einfacher Menschen im Neolithikum?
Ob die sozialen Sitten von Gurgy auch für andere neolithische Gemeinschaften in Westeuropa galten, ist nicht sicher. Der Friedhof von Gurgy »Les Noisats« ist verglichen mit monumentalen Grabanlagen derselben Zeit deutlich schlichter gestaltet. In Fleury-sur-Orne in der Normandie etwa legten Archäologen Grabhügel frei, die offenbar für hochstehende Personen errichtet wurden. Gurgy scheint dagegen der Begräbnisplatz der einfachen Bevölkerung gewesen zu sein.
Hingegen kennen Fachleute das Phänomen, dass Frauen migrierten und Männer an ihrem Geburtsort mit den Zugezogenen Familien gründeten, inzwischen auch aus anderen Epochen der Vorgeschichte. Über ein ähnliches Szenario berichteten Expertinnen und Experten 2017 in Deutschland. Im Lechtal bei Augsburg stießen sie auf Gräber, in denen ab 2500 v. Chr. Frauen bestattet wurden, die ursprünglich aus der Region des heutigen Sachsen-Anhalt stammten. Ähnliches ergaben Untersuchungen am Fundplatz Links of Noltland auf der schottischen Orkney-Insel Westray. Die Frauen kamen in der Zeit von 2300 bis 1500 v. Chr. von der britischen Hauptinsel zu den Orkney-Inseln. Die Sitte scheint sogar noch weiter zurückzureichen, etwa 54 000 Jahre: In die Sippen von Neandertalern im Altai-Gebirge waren die Frauen ebenfalls von anderswo zugewandert, wie Genanalysen ergaben.
Gemeinschaften, die untereinander heirateten, könnten sich dadurch enger gebunden haben. Wenn der Mann einer Gruppe zum Großvater der Kinder eines Mannes aus einer anderen Gemeinschaft wurde, schloss die familiäre Bindung diese Menschen womöglich enger zusammen. Vielleicht sollte so ein friedlicheres Zusammenleben garantiert bleiben.