Überangepasst, aufopferungsvoll, perfektionistisch – nach außen aber wirkt sie unsicher: die Narzisstin. Mit ihrem Verhalten kontrolliert, manipuliert und verletzt sie Menschen, die ihr nahestehen. Die Form des verdeckten Narzissmus findet sich besonders häufig bei Frauen.
Bei einem Narzissten denken viele Menschen an einen arroganten, männlichen Selbstdarsteller, der das Rampenlicht sucht, sich durchsetzt, Überlegenheit zeigt und durch seine extrovertierte Art und das schamlose Gieren nach Aufmerksamkeit mindestens unangenehm auffällt. Doch es gibt auch eine andere, weniger bekannte Form, die nicht minder komplex ist, den „verdeckten Narzissmus“. Man findet ihn vornehmlich bei Frauen, wie Studien bestätigen.
Doch oft wird diese Persönlichkeitsstruktur nicht als Narzissmus erkannt, führt aber in ebenso toxische Beziehungsdynamiken und Gewalt wie die des „offenen Narzissten“. Wie sich dieser weibliche Narzissmus äußert, wissen die Psychologinnen und Narzissmusforscherinnen Anna Eckert und Lisa Irani, die hinter dem Psychologie-Podcast „Cute aber Psycho“ stecken und gemeinsam den Ratgeber „Immun gegen toxische Menschen“ (kürzlich erschienen bei GU) geschrieben haben.
WELT: Narzissmus, heißt es, sei eine „moderne Epidemie“, stimmt das?
Lisa Irani: Narzissmus ist mittlerweile zu einem Modebegriff geworden, verbreitet durch die sozialen Medien. Jeder, der ein wenig egoistisch oder selbstzentriert ist, wird heutzutage als Narzisst abgestempelt. Aber so einfach ist das natürlich nicht. Man muss zwischen klinischem und subklinischem Narzissmus unterscheiden. Jeder von uns trägt spezifische Persönlichkeitsanteile in sich, aber weniger Menschen als meist angenommen erfüllen tatsächlich auch die Kriterien einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die wir in der psychologischen Diagnostik heranziehen.
Anna Eckert: Es gibt noch viele andere toxische Prägungen, die sich in verschiedene Akzentuierungen oder Persönlichkeitsstörungen zeigen können. Die meisten Menschen, die nicht vom Fach sind, können natürlich gar nicht genau unterscheiden, worum genau es sich letztlich handelt. Und dann wird einfach schnell der Begriff Narzissmus verwendet.
Irani: Ich könnte mir vorstellen, dass es auch durch diese Selbstdarstellung in den sozialen Medien als moderne Epidemie wahrgenommen wird. Jeder zeigt dort, was er hat und strebt nach Ansehen und Reichweite. Aber dass es sich dabei um pathologischen Narzissmus handelt, ist unwahrscheinlich.
WELT: Wie viel Prozent der Bevölkerung sind tatsächlich Narzissten?
Irani: Laut der American Psychiatric Association liegt die Prävalenzrate in den USA bei sechs Prozent. In Deutschland gehen wir von ungefähr 0,5 bis einem Prozent aus. Wobei man bedenken muss, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit eine hohe Dunkelziffer gibt. Vor allem bei Frauen bleibt er häufig unentdeckt.
Eckert: Die wenigsten Betroffenen suchen wegen Narzissmus eine psychotherapeutische Behandlung auf. Sie kommen eher, weil sie eine Depression entwickeln oder Angstzustände haben – und dabei wird die narzisstische Persönlichkeitsstörung dann im Nachgang festgestellt.
WELT: Zudem, so heißt es, erkenne sich der wirkliche Narzisst selten als solcher.
Irani: Ja, die Introspektionsfähigkeit ist häufig deutlich eingeschränkt.
Eckert: Oder aber, Betroffene kommen in die Praxis und sagen: „Ich habe eine narzisstische Persönlichkeitsstörung“, obwohl sie eigentlich an etwas ganz anderem leiden.
WELT: Wie verteilt sich Narzissmus auf die Geschlechter?
Eckert: Männer zeigen häufiger die typischen narzisstischen Verhaltensweisen. Narzissmus dreht sich viel um Anerkennung. Würde eine Frau jedoch die klassischen narzisstischen Verhaltensweisen zeigen, bliebe die Anerkennung häufig aus. Das ist noch stark an traditionelle Rollenbilder gekoppelt. Bei Frauen findet Narzissmus daher in einem anderen Rahmen statt.
Irani: Verschiedene aktuelle Untersuchungen zeigen, dass Narzissmus doppelt so häufig bei Männern vorkommt. In einigen Studien lag der Anteil von Männern mit dieser Persönlichkeitsstörung sogar bei 75 Prozent. Für diese hohen Zahlen gibt es aber auch verschiedene Erklärungsmodelle. Zum einen spielt Sozialisation eine Rolle, wie Anna gerade angesprochen hat, denn traditionelle Rollenbilder sind in vielen Kulturen noch tief verankert. Und zudem gibt es auch hormonelle und neurologische Unterschiede, die das begünstigen können – so zeigen Studien etwa, dass Testosteron narzisstische Persönlichkeits- und Verhaltenstendenzen fördern kann.
WELT: Eine neuere Studie zeigt, dass Frauen mit ausgeprägten narzisstischen Zügen verletzlicher und unsicherer sind als männliche Narzissten. Und deshalb werde die Störung bei ihnen eher übersehen oder sogar fehldiagnostiziert.
Irani: Wir unterscheiden Narzissmus noch mal in zwei Subkategorien. Zum einen gibt es den vulnerablen, verdeckten Narzissmus, der eher bei Frauen vorkommt. Zum anderen gibt es den grandiosen, offenen Narzissmus, der sich stärker nach außen richtet und meist bei Männern zu finden ist.
WELT: Wie äußern sich diese beiden Formen?
Eckert: Narzisstische Männer profilieren sich häufig über ihren Beruf, sind sehr rivalitätsgetrieben und wollen unbedingt Erfolge erzielen, oft auf Kosten ihrer Mitstreiter. Narzisstische Frauen verbleiben eher im traditionellen Rollenbild – sie streben danach, die perfekte Mutter, eine erfolgreiche Hausfrau oder auch Chefin zu sein und unterliegen einem extremen Leistungsdruck. Diese Frauen beziehen ihren Selbstwert in der Regel aus anderen Quellen als Männer – vor allem durch ihr Streben, anderen zu gefallen. Narzisstische Frauen wirken viel verletzlicher, sie opfern sich mehr auf als Männer. Ihr Verhalten erscheint weniger extrovertiert – und kann so natürlich zu Verwechslungen und Fehldiagnosen führen.
WELT: Welche Merkmale können dem vulnerablen Typ noch zugeschrieben werden?
Irani: Betroffene Frauen sorgen sich tendenziell sehr um ihr Aussehen – auch hier sind sie wieder durch Perfektionismus getrieben. Dennoch hat auch der vulnerable Narzissmustyp diesen Wunsch nach Anerkennung, nur sucht er sie über andere Wege als der grandiose. Etwa, indem man immer perfekt, super hergerichtet ist und alles im Griff hat, stets darauf bedacht, einen guten Eindruck zu hinterlassen.
Eckert: Und diese Frauen sind zudem viel verletzlicher und sensibler gegenüber Kritik und Kränkungen. Schon der grandiose Narzissmustypus kann schlecht mit Kritik umgehen, aber der verdeckte Narzissmustyp kann dies noch weniger – bleiben seine Bemühungen unerkannt oder werden gar kritisiert, schlägt das überhöhte, aber fragile Selbstbild in Minderwertigkeitsgefühle um. Beim verdeckten Narzissmus spielen auch Schamgefühle eine tragende Rolle. Diese Frauen schämen sich für Fehler und versuchen, diese zu kompensieren, um die Fassade aufrechtzuerhalten – teils bis hin zu suchtartigem Verhalten, sei es durch Sport oder Essverhalten. Ebenso kann dies mit depressiven Tendenzen einhergehen. Sie neigen auch zu subtilerem manipulativen Verhalten und üben Kontrolle auf eine andere Art und Weise aus, etwa durch soziale Isolation.
WELT: Was ist dem verdeckten und dem offenen Narzissmus gleich?
Eckert: Die zugrunde liegenden Bedürfnisse, die erfüllt werden müssen, sind gleich. Nur die Art und Weise, wie diese Bedürfnisse befriedigt werden, unterscheiden sich. Beide Formen zeichnen sich durch ein Fehlen oder eine eingeschränkte Empathiefähigkeit aus.
Irani: Und man darf nicht vergessen: Obwohl der grandiose Narzisst nach außen hin so überschwänglich wirkt, hat er trotzdem einen sehr geringen Selbstwert – genauso wie der vulnerable Narzisst, bei dem man es eher vermuteten würde.
WELT: Verdeckte Narzissten seien aggressiver als offene. Wie erklären Sie sich das? Reagieren narzisstische Frauen tatsächlich eher mit Gewalt, psychisch wie physisch, als Männer, um ihr Selbstwertgefühl zu regulieren?
Irani: Es handelt sich eher um eine indirekt ausgelebte Aggression. Diese Personen sind zurückgezogen und haben ein hohes Misstrauen gegenüber anderen. Beim vulnerablen oder verdeckten Narzissmus zeigt sich ein passiv-aggressives Verhalten oder eine unterschwellige soziale Manipulation.
Eckert: Bei Frauen zeigt es sich oft dadurch, dass sie andere abwerten.
WELT: Ist ein geringes Selbstwertgefühl das Hauptproblem?
Eckert: Ein geringes Selbstwertgefühl korreliert stark mit vielen psychischen Erkrankungen. Wird aber ein verdeckter Narzisst nur leicht kritisiert, kann das zu einer tiefen Kränkung führen. Diese Menschen erleben dann eine regelrechte Selbstwertkrise und können sich alleine kaum daraus befreien. Solche Kritik wird viel intensiver wahrgenommen als bei anderen Personen, die ebenfalls ein geringes Selbstwertgefühl haben.
WELT: Wann wird’s problematisch?
Eckert: Oberflächlich kommen sie sehr gut an. Sie sind sehr charmant, ziehen viele Menschen an und passen vielleicht auch zu dem einen oder anderen ganz gut. Die Schwierigkeit – generell bei allen Persönlichkeitsstörungen – besteht dann aber in der langfristigen Beziehungsführung. Die Kennenlernphase ist meist ganz toll. Aber wenn es in die langfristige Beziehung geht und die Illusion des perfekten Selbst platzt, kommen die Schwierigkeiten. Kein Mensch kann ein übertrieben perfektes Selbst permanent aufrechterhalten, es braucht nur eine Kleinigkeit und schon fällt die Fassade.
WELT: Wie äußert sich das dann dem Partner gegenüber?
Irani: Diese Menschen zeigen wenig Empathie, ein hohes Maß an Egozentrik, Selbstbezogenheit, beuten den Partner aus und manipulieren ihn, um ihre Ziele zu erreichen, den anderen zu beeinflussen und zu kontrollieren. Dafür nutzen sie die Schwächen des anderen aus. Häufig fühlen sich besonders empathische Menschen für ihr Wohlergehen verantwortlich.
WELT: Wohin kann das führen?
Irani: Diese Dynamik kann zu einer sehr ungesunden Beziehung führen, in welcher der empathische Partner zunehmend ausgebeutet und emotional erschöpft wird. In schwereren Fällen kann dies zu einer Form der Co-Abhängigkeit führen und in einem toxischen Kreislauf enden, aus dem es für den empathischen Partner schwer sein kann, auszubrechen.
WELT: In Ihrem Buch gehen Sie auch auf das Phänomen ein, dass sich vulnerable und grandiose Narzissten oftmals gegenseitig finden.
Irani: Sie bedienen ihre Bedürfnisse gegenseitig – der eine himmelt den anderen an und ordnet sich unter, während der andere dadurch seine Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit und Bestätigung erfüllt sieht. Man nennt das eine „narzisstische Kollusion“. In diesem Fall gibt sich der Vulnerable einen Teil seiner eigenen Identität auf, während der grandiose Part sich in der Beziehung auslebt. Meist wird der Komplementärnarzisst auch in die ausgelebte Großartigkeit des anderen einbezogen und steigert so seinen Selbstwert. Zeitgleich kann sich der vulnerable Narzisst in dieser Beziehung oft mitfühlend verhalten und hofft, dass sich ihm der andere durch die liebevolle Aufmerksamkeit zugewandt bleibt – etwas, das der pathologische, offene Narzisst nicht kann. Wenn der Co-Abhängige das bemerkt, entsteht ein Teufelskreis: Die Angst vor dem Verlassenwerden steigt, ebenso wie das Bedürfnis nach Kontrolle. Dies schränkt den grandiosen Narzissten ein, der daraufhin anderweitig nach Anerkennung suchen muss.
WELT: Dennoch befindet sich der vulnerable Narzisst dabei eher in einer gewollten Opferrolle?
Irani: Ja, genau. Es bleibt natürlich die Frage bestehen, ob beide Betroffenen tatsächlich pathologisch erkrankt sind oder ob einer der beiden subklinisch vielleicht nur eine gewisse Akzentuierung zeigt. Dass zwei Menschen mit einer pathologischen narzisstischen Persönlichkeitsstörung zusammenkommen, ist eher unwahrscheinlich.
WELT: Wie entwickelt sich eine narzisstische Störung? In Ihrem Buch heißt es „narzisstische Kinder haben oft narzisstische Eltern“.
Irani: Es werden derzeit drei Entstehungsmodelle diskutiert. Das erste Modell besagt, dass das Kind von den Eltern überbehütet und in Watte gepackt wird. Das bedeutet, dass das Kind von außen keinerlei Kritik erfährt, weil alles Negative von ihm ferngehalten wird. Damit sind häufig die sogenannten Helikoptereltern gemeint.
Eckert: Wenn Kinder nicht lernen, wie man mit Kritik umgeht und von den Eltern immer nur hören, dass sie perfekt sind, wie sollen sie das dann als Erwachsene verstehen, reflektieren und aushalten können?
Irani: Das zweite Entstehungsmodell, welches diskutiert wird, besagt, dass die Eltern selbst narzisstische Tendenzen haben, die sie jedoch nie vollständig ausleben konnten, weil sie ihre eigenen Träume und Wünsche nicht verwirklichen konnten. Und deswegen übertragen sie ihre Träume auf die eigenen Kinder.
Eckert: Das Kind soll die eigene Grandiosität weiterleben, sodass sich die Eltern damit aufwerten können. Das Kind wird instrumentalisiert.
Irani: Und das dritte Entstehungsmodell, welches wir leider am häufigsten sehen, ist, dass die Kinder emotional vernachlässigt werden. Das hat zur Folge, dass sie Selbstwertprobleme entwickeln, da sie auf sich alleine gestellt sind und kein stabiles Selbstwertgefühl entwickeln können. Sie müssen sich irgendwie selbst schützen, weshalb sie ein grandioses Selbst entwickeln.
WELT: Also muss man einschränken: Nicht alle Narzissten haben auch Eltern mit narzisstischen Tendenzen.
Irani: Es gibt biologische, soziale und psychische Faktoren, welche die Entstehung einer psychischen Erkrankung begünstigen können.
WELT: Sollte man sich als Erwachsener also besser von seinen narzisstischen Eltern lösen?
Eckert: Grenzen zu setzen hilft häufig schon. In vielen Fällen kann auch räumliche Distanz hilfreich sein.