Freie Liebe

Die Hippiebewegung wollte die Gesellschaft durch eine neue Liebesordnung aufbrechen, die freie Liebe heute ist individualistischer geprägt.

Warum die freie Liebe scheitern muss

Die sexuelle Revolution sollte die Liebe von Besitzdenken befreien. Ähnliches fordern heute die Anhänger der Polyamorie, der Mehrfachliebe. Sie unterschätzen die Kraft der Eifersucht.

Wer liebt, lässt den anderen frei. Diese hedonistische Forderung kam von linken Intellektuellen Ende der sechziger Jahre. Sie wollten das kleinbürgerliche Besitzdenken überwinden, wollten lustvoller lieben, feierten die Abwechslung, verachteten jede Einschränkung. «Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment» – solche Sprüche denunzierten Gefühle wie Treue und Eifersucht als Biederkeit. Um die Enthemmungen zu rechtfertigen, wurde die biologische Funktion von Eifersucht negiert, sie wurde stattdessen kulturhistorisch hergeleitet und zum Produkt von patriarchalen Gesellschaften erklärt. So sollte die Befreiung aus dem «Eheknast» während der sexuellen Revolution vor allem auch den Frauen zukommen.

Stand man für die freie Liebe ein, gehörte es zum Gebot der Aufrichtigkeit, dass man sich von den Stunden in fremden Betten erzählte.

Der utopische Charakter einer eifersuchtsfreien Gesellschaft zeigte sich bald. In den Kommunen stand die freie Liebe quasi im Hausreglement festgeschrieben. Doch die Erzählungen von ehemaligen Bewohnern Jahre später fielen ernüchternd aus. Beim libertären Zusammenwohnen haben sich immer Paare gebildet, obwohl das Ideal ein Sexualkollektiv war. Es habe Leute gegeben, erinnert sich die Schriftstellerin Ulrike Heider, «die sich zwangen, vom Nebenzimmer aus die Freundin oder den Freund mit einem oder einer anderen im Bett zu belauschen. Unsäglich litten sie bei solchen Versuchen, sich die Eifersucht abzugewöhnen.»

Uschi Obermaier, das «Poster-Girl» der 68er, wurde am 24. September 2016 siebzig Jahre alt. Dieses Bild stammt von März 1970 und dokumentiert ihre Schönheit und ihre selbstbewusste Haltung, die sie berühmt machen sollten. Für Weltpolitik und Klassenfeindschaften aber interessierte sich die Münchnerin herzlich wenig, mit politischen Umstürzen hatte sie nichts am Hut. Lieber praktizierte sie die freie Liebe.

So experimentierfreudig man sich in sexueller Hinsicht gab, so emotional abhängig blieb man. Das bekennt auch die französische Autorin Catherine Millet in ihrem Buch «Eifersucht». Millet, die 1968 zwanzig war, lebte die Befreiung der Frau als absolute Freiheit des Begehrens. Ihre schier grenzenlose Promiskuität hatte sie bereits in ihrer Autobiografie, «Das sexuelle Leben der Catherine M.», gefeiert. Darin gab sie detaillierten Einblick in ihre erotische Besessenheit, Sex mit Tausenden, Affären, sie nahm sich als Frau rücksichtslos alles, obwohl sie in einer Beziehung lebte. Es gab nur ein Tabu: Eifersucht. Als sie entdeckte, dass auch ihr Mann untreu war, stürzte sie in eine tiefe Krise. Weil sie sich für ihre Eifersucht schämte, unterdrückte sie den Schmerz jahrelang. Nicht einmal wenn sich das Paar aus Eifersucht stritt, nahm es das Wort in den Mund. Was geächtet wurde, war verboten.

Uschi Obermaier im Juni 1998. Im Gegensatz zu vielen anderen Zeitgenossen ist die starke Frau irgendwie sich selbst geblieben, gerade weil sie ihr Leben nie mit ideologischem Überbau befrachtet hat. «Lass dir keine Angst machen» lautet eines ihrer Lebensmottos.

Tod durch Ehe-Langeweile

Diese Haltung entsprach den intellektuellen Zirkeln, nicht nur in Paris. Man glaubte an die großzügige Liebe, wie sie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir vorzeigten, die mit ihrer offenen, symbiotischen Liebesbeziehung ein Vorbild für viele waren. So wollte man leben: vereint im Geist, befreit von jedem Treuegelübde und immer in getrennten Wohnungen. «Zwei Liebende, die sich ausschließlich einander bestimmen, sind bereits tot: Sie sterben aus Langeweile», urteilte de Beauvoir über die traditionelle Ehe. Wie eifersüchtig sie auf Sartres zahlreiche Affären reagierte, erfuhr man erst nach und nach. Ihr Unbehagen gehe über Eifersucht hinaus, sagte de Beauvoir einmal: «Es gab Augenblicke, in denen ich mich fragte, ob mein Glück nicht allein auf einer ungeheuren Lüge beruhe.» Stand man für die freie Liebe ein, dann gehörte zum Gebot der Aufrichtigkeit, dass man sich detailliert von den Stunden in fremden Betten erzählte. Was es bei ihr bewirkte, hat de Beauvoir einmal so formuliert: «Es gibt etwas an der Eifersucht, was vollkommen gültig und wahr ist. Wenn A mit B etwas erlebt, und B erlebt das Gleiche mit Z, wird sich A verständlicherweise ausgeschlossen fühlen; etwas Gemeinsames zerbricht, etwas Unersetzliches, das er mit B erlebt hat, wird zerstört.» Solche Worte benannten den hohen Preis.

Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir 1956 in Rom.

Fünfzig Jahre später erlebt die freie Liebe in jungen, urbanen Kreisen von Berlin bis New York eine Renaissance. Ging es 1968 um die Erneuerung der Gesellschaft durch eine neue Liebesordnung, ist die Polyamorie, wie die freie Liebe heute genannt wird, individualistischer geprägt. Inzwischen scheitert jede dritte Ehe, Ehepartner gehen fremd: Vor diesem Hintergrund öffnen Paare ihre Beziehung. Wie damals soll die Monogamie überwunden werden, da diese bloss Besitzansprüche fördere. Eifersucht gründe auf kulturellen Werten, wie sie nicht mehr zu einer liberalen, toleranten Gesellschaft passten, glauben die Anhänger der Mehrfachliebe. Gilt Eifersucht als Geiz der Liebe, wird ihr Fehlen zum Beweis, wie sehr man jemanden liebt und zu teilen bereit wäre. Die Achtundsechziger tobten sich sexuell aus; bei der heutigen Liebe zu mehreren liegt der Fokus auf der emotionalen Beteiligung. So reden Polyamoristen von «compersion», womit sie die Mitfreude meinen, dass der Geliebte durch eine dritte Person geliebt wird. Man mag einander die anderen von Herzen gönnen. Jedenfalls in der Theorie.

April 1979: Uschi Obermaier tanzt in einer Diskothek in München. Andere Kommunarden wie Dieter Kunzelmann nannten sie «ein dummes Suppenhuhn», weil sie bei den endlosen Wohngemeinschafts-Debatten regelmässig einschlief. Ausserdem konsumierte sie Mentholzigaretten und Coca-Cola, Erzeugnisse des bösen amerikanischen Imperialismus.

Die Achtundsechziger tobten sich sexuell aus; bei der heutigen Liebe zu mehreren liegt der Fokus auf der emotionalen Beteiligung.

Noch wichtiger ist ein weiterer Unterschied. Heute sind Frauen mit Männern gleichauf. 1968 wurde der promiskuitive Traum jedoch noch keineswegs gleichberechtigt geträumt. Es stimmt zwar: Nichts veränderte das Begehren so sehr wie die sexuelle Revolution. Geschlechterrollen wurden hinterfragt, Frauen begannen erotische Wünsche zu formulieren und verfügten endlich über ihren eigenen Körper. Dies war auch der Antibabypille zu verdanken, die 1960 auf den Markt kam. Doch viele Frauen waren weiterhin materiell von ihrem Mann abhängig. Sie bewegten sich in der häuslichen Sphäre und hatten seltener Gelegenheit zu Sex ausserhalb der Ehe. Sie erhielten auch weniger Verständnis dafür.

Eine bekannte Fotografie der Obermaier von 1970. Sie hatte keine Scheu, sich nackt zu zeigen, was auf das Bürgertum provokativ wirkte und sie zu einem Medienereignis werden ließ. Magazine wie «Stern» und «Twen» machten sie zum Covergirl.

Erst heute, wo Frauen wirtschaftlich unabhängig sind und dank der Fortpflanzungsmedizin für Nachwuchs nicht einmal mehr einen Mann brauchen, leben sie sexuell selbstbestimmt. Und so wird die Polyamorie gern auch als feministisches Projekt verstanden: als Weg zur endgültigen Emanzipation. Und als politischer Entscheid, der noch einen Schritt weiter geht als das, was einst mit freier Liebe postuliert wurde. Noch immer entsprächen Vorstellungen von der freien Liebe den Klischees der Nachhippiezeit, schreibt die junge britische Feministin Laurie Penny in ihrem Buch «Unsagbare Dinge». Diese Vorstellungen seien verzerrt «vom ewigen Bild des Flower-Power-Chauvis der Sechziger, der mit offenem Hemd und Blumen im Haar Frauen in sein Bett lockte, ohne sich über eine Bindung Gedanken machen zu müssen».

Männerphantasie als Frauenwunsch

Die polyamore Verbindung hingegen ist allein deshalb weiblich geprägt, weil in ihr viel über Gefühle geredet wird. Man handelt Regeln aus, sagt einander offen, was erlaubt ist innerhalb der Beziehung und wie man es sich wünscht. Die gelebte Liebe zu mehreren fordert Eigenschaften, die man eher Frauen zuschreibt: eine kommunikative Gabe und die Fähigkeit, sich miteinander auseinanderzusetzen. Dem haben sich die Männer anzupassen. Es klingt ein bisschen so, als würde hier eine Männerphantasie als Frauenwunsch verkauft.

Uschi Obermaier im Februar 2016 beim Empfang zu Ehren der deutschen Oscar-Nominierten in Pacific Palisades bei Los Angeles.

Die gelebte Liebe zu mehreren fordert Eigenschaften, die man eher Frauen zuschreibt: eine kommunikative Gabe und die Fähigkeit, sich miteinander auseinanderzusetzen.

Freie Liebe beschreibt also immer auch den Weg der Frau in die Freiheit. Der Glaube an die ausschliessliche Liebe scheint altmodisch dagegen. Schon die Vorkämpferinnen der ersten grossen Frauenbewegung kritisierten: Frauen gefährdeten in erotischen Beziehungen noch zu oft ihre Autonomie und bestätigten so nur männliche Privilegien. Alice Schwarzer hat die romantische Liebe einst einen «aufgesetzten Mythos» genannt, der den Männern «als Machtmittel im Geschlechterkampf» diene. Frauen würden in unserer auf das romantische Liebesideal fixierten Kultur zum «Liebesobjekt» herabgewürdigt. «Wenn wir wollen, dass Frauen frei sind, dürfen wir uns nicht mehr über die romantische Liebe definieren», sagt auch Laurie Penny. Die alles verzehrenden Liebe passe eher auf die Leinwand oder zwischen Romandeckel.

Doch freie Liebe, die sich so unverbindlich gibt – ist sie nicht viel mutloser?

Das Ziel des Feminismus war es schon immer, Frauen vor zu viel Hingabe zu schützen. Es gebe «wenige Vergehen, die härter bestraft werden als dieser grossmütige Fehler: sich gänzlich anderen Händen zu überlassen», hat Simone de Beauvoir in «Das andere Geschlecht» geschrieben. Das liesse sich ergänzen: Eine emanzipierte Frau liebt zurückhaltend, will sie frei bleiben. Romantische Liebe hingegen legt Frauen in Ketten. Die amerikanische Gruppe The Feminists nannte die Liebe in den siebziger Jahren einen «pathologischen Zustand». Zwar wurde die Freiheit zu wählen, wie eine Frau leben und lieben wollte, über alles gestellt. Doch bei dieser angeblichen Wahlfreiheit war man nicht immer so tolerant. Gewisse Entscheide in Liebesdingen, gerade wenn sie starke Frauen getroffen hatten, gefielen nicht allen. Eine Frau, die sich an einen Mann verlor, wurde bedauert oder verachtet.

«Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment»

Frauen, vor allem wenn sie für Frauenanliegen kämpften, wurden für Beziehungen zu Männern verurteilt, die den Schwestern zu abhängig vorkamen. Hier hörte die Schwesternschaft auf. Das musste wiederum de Beauvoir erfahren, die für ihre Liebe zu Sartre, dem Treulosen, auch auf viel Unverständnis stiess. Der verschrobene, kurzsichtige Intellektuelle hatte die Liebe einer so scharfsinnigen, eleganten Frau nicht verdient. Viele sahen in ihr ein Opfer und zweifelten an ihrer intellektuellen Glaubwürdigkeit. Als wäre es der grösste Widerspruch der Welt, dass die Autorin des feministischen Jahrhundertwerks auch zu tiefer, «grossmütiger» Liebe fähig gewesen ist.

Als wäre es nicht ein menschliches Bedürfnis, für einen Einzigen einzigartig und bedeutsam zu sein. Und diese Liebe durch Eifersucht zu schützen.

Dieser Text ist ein Vorabdruck aus dem Buch «Freie Liebe ist für Feige. Lob der Eifersucht» von Birgit Schmid. Verlag zu Klampen, Springe 2018.

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