Ein unerschlossener Kontinent: die männliche Sexualität

Wird Zeit, dass wir wieder Lust haben dürfen.

Die aktuelle Geschlechterdebatte sei zu sehr aufs Weibliche konzentriert. Das findet die Psychoanalytikerin Julia Kristeva. Sie erkennt eine Krise der Männlichkeit und macht den «einseitigen» Feminismus unserer Tage dafür verantwortlich.

Julia Kristeva begrüsst die MeToo-Bewegung als Revolte für mehr Rechte, warnt aber vor ihrer starken Fokussierung auf die Frauen. 

Madame Kristeva, Sie sind, wenn man so will, eine beruflich erfolgreiche Feministin der zweiten Welle. 100 Frauen, die diesem Feminismus der Achtundsechziger nahestehen, publizierten unlängst einen Brief, der die MeToo-Debatte als männer- und frauenfeindlich kritisiert, überdies die Ideale des Feminismus verrate. Sie haben diesen Brief nicht unterschrieben.

Nein. Aber das heisst nicht, dass ich mich mit dem MeToo-Feminismus als Massenbewegung identifiziere. Ich erkenne mich nicht in militanten Bewegungen, sondern glaube an das weibliche «Genie», eine Frau sucht sich für sich allein aus, was sie ist.

Julia Kristeva kennt sich mit weiblichen Genies aus – sie hat das Standardwerk über Melanie Klein geschrieben.

Ohne Umschweife gefragt: Was halten Sie vom Weinstein-Skandal und der so ausgelösten Geschlechterdebatte?

In der Psychoanalyse kennen wir den Begriff der «jouissance». Er bezeichnet eine geschlechtsspezifische Form der Kreativität, die den Umgang mit dem eigenen Körper an der Schnittstelle von (sexueller) Lust und Politik zum Thema hat. Mithin also etwas, das unsere Gesellschaften, auch die westlichen, hinter den Kulissen der Religionen verstecken, als Tabu oder Häresie, oder in der Kunst sublimieren. Derzeit fordern Frauen, und das ist absolut zu begrüssen, die finanzielle, politische, kulturelle Macht derjenigen Männer heraus, die sie unter dem Deckmantel der Verführung unterworfen und missbraucht haben. Damit erheben sie die weibliche «jouissance» zu einem integralen Bestandteil der Menschenrechte. Es geht also um eine Revolte, den Gründungsakt einer neuen Identität: Es geht um neue universelle Rechte.

Ich höre Nachdenklichkeit.

Nun, es ist hochkomplex. Im Falle von Harvey Weinstein oder Woody Allen, dessen Filme nun auch boykottiert werden sollen, geht es ja auch um ein Machtverhältnis, das der Kunst ohnehin inhärent ist. Dies im Unterschied zu den viel häufigeren Fällen von häuslicher Gewalt, die von der derzeitigen Debatte weiterhin ausgeschlossen sind.

Wir wollen schon, aber sie ziert sich noch.

Émile Friant (French painter) 1863 – 1932
Ombres Portées (Shadows), 1891 oil on canvas
Musée d’Orsay, Paris, France

Sie spielen auf das Mäzenatentum an, die finanzielle Förderung von Künstlern durch Personen oder Institutionen, die so alt ist wie die Kunst.

Das Mäzenatentum ist eine Form der Förderung, die eigentlich keine Gegenleistung verlangt. Der Weinstein-Skandal zeigt die Perversion des Verhältnisses zwischen Künstler und Förderer. Die Kunst hat eine absolute Spitze der Macht, an der sich auch Weinstein befand, die das Schicksal junger Künstler und des gesamten zuarbeitenden Personals in den Händen hält. Es geht hier um die absolute Kontrolle der Kunst durch das Geld, ein trauriger Zustand.

Was sagt uns der Skandal über den Mann von heute?

Dass hier ein ganzer unerschlossener Kontinent liegt: die männliche Sexualität! Der heutige Feminismus vernachlässigt genauso wie der frühere die Frage nach der Gewalt als Teil der Erotik des Mannes. Dabei begegnet uns schon auf alten Höhlenmalereien die grundsätzliche Ambivalenz des Mannes der Frau gegenüber. Nehmen Sie die Malerei in Chauvet – eine riesige Vulva bringt einen Bisonkopf zur Welt, oder sie wird von ihm plattgetrampelt, es ist nicht klar. Wir sehen Aggression und Zärtlichkeit, Dominanz und Unterwerfung.

Außer Technik, Welteroberung, sex, sex und sex interessiert uns Männer eigentlich nichts.

Émile Friant (French painter) 1863 – 1932
Voyage à l’Infini (Travel to Infinity), 1899 oil on canvas

Seit einiger Zeit erstarken die Frauen. Was bedeutet das für die Männer?

Es gibt keine pyramidale Gesellschaft mehr, an deren Spitze ein Mann steht. Die neue weibliche Freiheit unterminiert eine von Viagra, Kokain und Pornografie unterstützte patriarchale Macht, zwingt sie, sich anzupassen, sich neu zu erfinden. Der Feminismus macht aber wie gesagt einen Fehler: Er beschäftigt sich viel zu sehr mit dem weiblichen Lustprinzip – was begehren wir, auf welche Weise tun wir dies, warum begehren wir so und nicht anders –, nie aber mit der «jouissance» des Mannes. Ein grosses Versäumnis.

Sie sprechen aus Ihrer Erfahrung als erfolgreiche Psychoanalytikerin. Was sind die Konsequenzen dieser Einseitigkeit?

Viele Männer fühlen sich durch den Feminismus degradiert und gezwungen, sich mit der eigenen Weiblichkeit auseinanderzusetzen. Manche werden homosexuell . . .

. . . das ist eine psychoanalytische Interpretation für gewisse Fälle von Homosexualität . . .

Ist das jetzt Homosexualität oder Testosteron- und Lustfördernde Rangelei?

Émile Friant (French painter) 1863 – 1932
La Lutte (Wrestling), 1889 oil on canvas
Museu Fabre, Montpellier, Languedoc, France

. . . ja. Aber die Reaktionen auf den einseitigen Feminismus fallen ganz unterschiedlich aus. Es gibt auch Männer, die ihre Libido verlieren oder Probleme haben, ihre Sexualität auszuleben. Sie fühlen sich kastriert, schlimmer, in der Identität abgetötet, noch dazu erniedrigt und orientierungslos. Wieder andere kompensieren die Schwächegefühle der Weiblichkeit gegenüber mit verstärkten Aggressionen oder mit einer perversen Sexualität, manchmal bis hin zum Sadismus. Es handelt sich hier um sehr komplizierte Formen der Depression.

Manche Männer allerdings verarbeiten die Krise und sind im Einklang mit den neuen Gegebenheiten, werden dienstfertiger, helfen im Haushalt, nehmen Elternzeit.

Das auch.

Manchmal ist es ja auch ganz nett mit ihr. Dann sind wir auch mal etwas anhänglicher.

Émile Friant (French painter) 1863 – 1932
La Petite Barque, 1895 oil on panel

Sie zögern.

Ich kann es nur wiederholen: Die politisierte Debatte ist zu sehr auf das Weibliche konzentriert. Sie täte gut daran, die Symptome dieser Krise der Männlichkeit mit einzubeziehen, um nicht in den Puritanismus abzugleiten oder in Ignoranz. Die männliche Sexualität funktioniert nun einmal anders als die weibliche, sie weist andere Besonderheiten auf.

Die Debatte ist nicht nur aufs Weibliche konzentriert, sondern auch auf eine bestimmte Schicht: Es sind überwiegend weisse Frauen mit intellektuell, kulturell und vermutlich auch materiell hohem Kapital, die Missbräuche, darunter auch Grabbeleien und tollpatschige Äusserungen, anprangern. Wie sollen jene zu Wort kommen, die weniger privilegiert sind, aber vielleicht täglich schwere körperliche Übergriffe erleiden?

Es gibt die Hoffnung, dass die Journalistinnen oder Künstlerinnen, die nun sprechen, diese anderen Frauen ermutigen, dies auch zu tun. Aber das ist insofern schwieriger, als die neue Mentalität der Realität vorangeht – es gibt in der Geschlechterdebatte noch einen langen Weg zu beschreiten. Ausserdem gibt es natürlich weiterhin viele Frauen, die überhaupt keine Stimme haben und Erfahrenes nicht strukturieren können – es braucht auch Bildung, um sich ein Urteil bilden zu können.

Wenn wir schon mit einer Frau reden müssen, dann wollen wir auch ins Bett mit ihr.

Émile Friant (French painter) 1863 – 1932
Les Amoureux (Soir d’Automne) (The Lovers (Autumn Evening)), s.d.
oil on canvas
Musee des Beaux-Arts, Nancy, France

An welche Art der Bildung denken Sie?

Bildung fängt in den Familien an, und ich meine hier vor allem die sexuelle Bildung. Es ist immer noch ein Tabuthema: Jungen werden anders sexualisiert als Mädchen.

Wenn nichts läuft mit dem sex, sind wir etwas niedergeschlagen.

Émile Friant (French painter) 1863 – 1932
The Tramp, 1890 oil on panel

Sie werden auch anders sozialisiert, erlernen eine direktere Form der Konfrontation, während Mädchen häufig zu Zurückhaltung angeleitet werden und lernen, dass die sichere Attacke im Gebrauch von Worten liegt: Klatsch, Tratsch, Lästerei.

Und nicht nur das. Auch die sexuelle Gewalt gegen Frauen beginnt schon in den Gymnasien, wo manche Jungen sich immer noch aufführen, als hätten sie das Recht, das weibliche Geschlecht zu dominieren. Sexualität ist nichts Organisches, das so vor sich hin entsteht. In der sexuellen Bildung geht es darum, dass die richtigen Worte die richtigen Dinge bezeichnen, dass über Ängste geredet wird, dass Dichotomien – Jungen sind aktiv, Mädchen passiv und so fort – überwunden werden. Natürlich können Kommunen und Schulen das nicht allein leisten, auch die Eltern nicht, das Problem sollte bis auf die Regierungsebene vordringen.

Denken Sie, dass Mann und Frau derzeit zu einem neuen Verständnis füreinander finden, oder erleben wir eher eine Spaltung?

Sicher ist, dass wir heute eine neue Etappe der sexuellen Revolution erleben, die dritte nach den Suffragetten zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den Achtundsechzigern. Ferner erleben wir etwas Altbekanntes: nämlich dass die erotischen Erfahrungen zwischen Mann und Frau von einer extremen Intensität sind, die eine schier unerträgliche Zerbrechlichkeit verbirgt.

„Das ist eine ganz heiße, die Bäuerin da drüben!“ – „Was, die da?“ – „Vergiss es, nichts los mit ihr, ich habs zweimal versucht.“

Émile Friant (French painter) 1863 – 1932
La Discussion Politique (Political Discussion), 1889 oil on panel
private collection

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