Stärker durch die Krise: Kinder aus traditionellen Familien können auf Bewältigungserfahrungen ihrer Eltern und Großeltern zugreifen, meint Peter Stippl, Vizepräsident des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie.
Dazu kommt heute die Brüchigkeit von Beziehungen und Familien. Wäre angesichts des weltweiten Chaos die Sicherheit verlässlicher privater Beziehungen nicht wichtiger denn je?
Ja, es gibt diese ganz tiefe Sehnsucht nach dem Vater. Weil die traditionellen Familien mit Vater – und möglichst auch Großvater, dem Inbegriff bedingungsloser männlicher Liebe – dem Kind eine emotionale Stärke geben, wird ein solches Kind nicht so leicht erschüttert. Dazu kommt, dass die Bewältigungserfahrungen der Eltern und Großeltern dem Kind helfen können, auf Ressourcen zuzugreifen, etwa durch deren spirituelle und religiöse Erfahrungen. Deshalb plädiere ich dafür, in der psychotherapeutischen Ausbildung zumindest basal auch Religion und Spiritualität zu unterrichten. Man kann schließlich nur finden, was einem bekannt ist. Das gilt auch für die Ressourcen im Leben eines Menschen.
Wird uns die Sehnsucht nach dem Vater, ja die Geborgenheit in der Familie, gerade ideologisch abtrainiert?
Die Familie wird dekonstruiert. Dadurch aber wird der Mensch seiner Familienbiografie beraubt, in der üblicherweise große Ressourcen stecken. Schon in der Konstruktion einer „gendergerechten“ Sprache wird die Grundlage der Verwirrung gelegt. Die multiplen Krisen, über die wir sprechen, fordern das psychische Immunsystem maximal. Gleichzeitig werden ihm die Stärken einer verlässlichen Tradition in Familie und Gesellschaft entzogen.
Wie gehen junge Menschen damit um?
Ich nehme viel Resignation wahr. Manche ziehen sich in ihre private Biedermeier-Welt zurück. Zugleich sind noch nie so viele Suchtsubstanzen konsumiert worden wie jetzt. Das ist ein Flucht-Phänomen. Auch wächst die Attraktivität der falschen, aber einfachen Antworten. Das führt zur gesellschaftlichen Radikalisierung. Ich schließe nicht aus, dass ganz Europa sich binnen zwei Generationen auf das Niveau eines Schwellenlandes zubewegt. Dann werden andere Kräfte das Sagen haben, etwa China. Ein Beispiel dafür ist bereits das Gesundheitssystem in England, wo Menschen an harmlosen Krankheiten sterben, weil einfach kein Krankenwagen kommt.
Wie therapieren wir diese Gesellschaft?
Wie den Einzelnen: Man muss zunächst Reue empfinden und Buße tun, sonst gibt es keine Absolution. Tatsächlich gelten Menschen, die von ihrem Egoismus zurücktreten und einen Teil ihrer Zeit und Energie für andere hergeben, als besonders vertrauenswürdig. Das zeigt, dass die Struktur der Beichte auch kollektiv ein hilfreiches Vorbild sein könnte. Unser Raffen und Sparen ist ja doch nur ein Misstrauen gegen Gott. Selbstlosigkeit tut der Psyche gut, denn wir können unser Glück und Leben besser genießen, wenn wir es nicht für uns allein behalten. Die freiwillige Selbstbeschränkung weist in jedem Fall über uns hinaus. Wir brauchen eine Bewusstseinsänderung in der Gesellschaft. Wer in seinem Leben Sinn findet, lebt bekanntlich glücklicher, gesünder und angstfreier.